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01. Dez. 2007

Parlament der Menschheit?

Buchkritik

Die Vereinten Nationen auf dem Prüfstand

Sind die Vereinten Nationen angesichts neuer Herausforderungen und neuer Akteure auf der Weltbühne für das 21. Jahrhundert gerüstet? Zwei umfangreiche Handbücher und eine Monographie nehmen die UN kritisch unter die Lupe und stellen die Frage nach der Reformfähigkeit der Weltorganisation.

Nach „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ (1989) und „In Vorbereitung auf das 21. ahrhundert“ (1993) ist Paul Kennedy mit seiner Geschichte der Vereinten Nationen erneut ein großer Wurf gelungen. Der in Yale lehrende britische Historiker schafft es weitgehend, einen Buchstabensalat aus UN-Akronymen zu vermeiden, und die Übersetzung (Klaus Kochmann) wird Kennedys narrativem Stil jederzeit gerecht. Die Darstellung ist damit nicht nur für Spezialisten geeignet, sondern dürfte auch eine breitere Leserschaft ansprechen.

Kenntnisreich würdigt Kennedy die weltgeschichtliche Evolution der UN, wobei er im ersten, inhaltlich dichtesten Teil seines Buches weit über die 60 Jahre ihres tatsächlichen Bestehens hinausgreift. Gekonnt nutzt er Alfred Tennysons 1837 verfasste poetische Vision „Locksley Hall“ von einem in ein universales Recht eingebetteten „Parlament der Menschheit“ als ideengeschichtlichen Aufhänger. Auf dieses Gedicht kommt Kennedy später noch einmal zurück, nachdem er im dritten Teil des Buches prüfend nach vorne geblickt hat. Er plädiert ebenso nüchtern wie eindringlich für ein Bündel von Reformen, mit denen die im Kern unveränderten UN den „Chancen und Gefahren des 21. Jahrhunderts“ angepasst werden könnten. Dass dieser essayistische Teil anderthalb Jahre nach Erscheinen der englischen Originalausgabe nicht immer den aktuellsten Stand der Debatte widerspiegelt, kann nicht verwundern. Dabei wird dem Leser allerdings gleichzeitig schmerzlich bewusst, wie bescheiden die Reformergebnisse von 2005/2006 tatsächlich waren. Umso ärgerlicher ist der marktschreierische Untertitel der deutschen Ausgabe mit seiner ebenso anmaßenden wie suggestiven Deutung vom „Weg zur Weltregierung“, die weder durch die Originalformulierung „The past, present and future of the United Nations“ noch durch Kennedys pragmatisches Plädoyer für eine starke Weltorganisation gedeckt ist, das zu keinem Zeitpunkt die maßgebliche Rolle der Mitgliedsstaaten ausblendet.

Der Hauptteil des Buches ist in sechs thematische Kapitel gegliedert, in denen wesentliche Aktivitäten der Weltorganisation dargestellt werden, ohne dass Kennedy dabei den Blick aufs große Ganze verlöre. Das zeigt sich besonders dann, wenn am Ende eines jeden Kapitels die jeweiligen Erfolge und Misserfolge der UN gegenübergestellt und der stets fairen Kritik des Autors unterzogen werden. Das Fazit dieser Überlegungen ist eine unmissverständliche Absage an das zeitgenössische Schlechtreden der UN: „Wenn wir alle Aspekte berücksichtigen, dann haben die UN unserer Generation große Vorteile gebracht und werden, wenn wir mit Entschiedenheit und Großzügigkeit zu ihrer Arbeit beitragen, unseren Kindern und Enkelgenerationen ebenso großen Gewinn bringen.“ Und wenn Kennedy betont, dass die globale Erwärmung als Handlungsfeld der UN zukünftig an Bedeutung gewinnen wird – „die Herausforderung ist international, und sie lässt sich nur mit internationalen Mitteln meistern“ –, dann verweist er auf ein Thema, das in zwei anderen neueren Darstellungen zu den Vereinten Nationen zu kurz kommt.

Dabei handelt es sich zum einen um den von Helmut Volger herausgegebenen Band „Grundlagen und Strukturen der Vereinten Nationen“, zum anderen um das „Oxford Handbook on the United Nations“ (Herausgeber: Thomas Weiss und Sam Daws). Ziel beider Handbücher ist es, ein umfassendes wie ausgewogenes Bild der UN zu zeichnen, doch setzen die Herausgeber dabei unterschiedliche Akzente. So konzentriert sich Volger auf das Innenleben der UN. Er beleuchtet eine Vielzahl von Details und legt Wert auf den Praxisbezug. Um eine rein deskriptive Darstellung zu vermeiden, führt der Herausgeber im Vorwort „Funktionsweise“ und „Strukturprobleme“ als konzeptionelle Merkmale ein. Der Anspruch an ein kohärentes Handbuch wird dennoch nur teilweise eingelöst. So sind die insgesamt 19 Kapitel in Herangehensweise und Qualität nicht nur recht unterschiedlich, es fehlt auch ein Einleitungskapitel, das den konzeptionellen Aufbau des Sammelbandes wirklich deutlich machen könnte. Die Zuordnung der einzelnen Kapitel zu den beiden Buchteilen, die sich aus Volgers Unterscheidung ergeben, bleibt unklar; auch die innere Struktur der einzelnen Beiträge folgt keiner übergeordneten Logik. Eine Einführung in die Themen und Thesen des Bands vermag auch der einleitende Buchteil „Grundlagen der Vereinten Nationen“ nicht zu ersetzen, in dem ethische Begründungen der UN (Helmut Volger), ihre Rolle bei der Entwicklung des Völkerrechts (Eckart Klein) und die Aufgabenbereiche (Markus Pallek) behandelt werden.

Volger konnte eine Reihe einschlägiger deutschsprachiger Autoren gewinnen, von denen viele über Berufserfahrung in den Vereinten Nationen verfügen. Symptomatisch für den Zustand der deutschen UN-Forschung erscheint, dass sich unter den insgesamt 18 Autoren mit Brigitte Hamm nur eine einzige Frau befindet.

Von einer deutlich stärkeren Bezugnahme auf den wissenschaftlichen Diskurs der internationalen Beziehungen ist das noch umfangreichere „Oxford Handbook on the United Nations“ geprägt, wiewohl es ebenfalls mit reichhaltigen Innenansichten aufwarten kann. Die Herausgeber wollen, schreiben sie in der Einleitung, sowohl Kontinuität und Wandel der Weltorganisation nachzeichnen als auch Wirksamkeit und Funktionen der UN in der globalen Politik auf den Prüfstand stellen. Sie tragen dazu 40 Beiträge zusammen, die in sieben Themenbereiche untergliedert sind: theoretische Zugriffe zur Analyse der UN, UN-Hauptorgane, die einschlägigen Aufgabengebiete (Frieden und Sicherheit, Menschenrechte, Entwicklung), außerdem die Beziehungen der UN zu anderen Weltakteuren und schließlich Reformaussichten. Das Autorenteam des „Oxford Handbook“ kommt dabei einem aktuellen Who-is-who der angelsächsischen UN-Forschung gleich. Schon deshalb dürfte sich dieser Band, der auch eine nützliche Zusammenschau relevanter Literaturhinweise enthält, rasch als Standardwerk in der Lehre über internationale Organisationen etablieren.

Erfrischend deutlich wird in beiden Sammelbänden im Vergleich zu älteren Standardwerken die gestiegene Bedeutung der Medien bei der Willensbildung und Entscheidungsfindung sowie der Legitimation internationaler Politik. So enthält der Oldenbourg-Band ein gewinnbringendes Kapitel zur UN-Öffentlichkeitsarbeit aus der Feder von Axel Wüstenhagen, das von den langjährigen Erfahrungen des Autors als Direktor der UN-Informationszentren in Athen, Wien und Bonn profitiert. Und im Oxford Handbook findet sich ein nicht minder lesenswerter Beitrag der UN-Korrespondentin der New York Times, Barbara Crossette, über das Verhältnis der UN zu den Medien.

Auch die gewachsene Relevanz nichtstaatlicher Akteure in der globalen Politik wird in beiden Hand-büchern – und übrigens auch in Paul Kennedys Monographie – betont. Während Helmut Volger in seiner Schlussbemerkung die wichtige Rolle nichtstaatlicher Akteure in den UN hervorhebt, es aber versäumt, die Rolle privater Unternehmen, etwa im Rahmen des Global Compact, eingehend zu behandeln, beleuchtet das Oxford Handbook mit einem Kapitel zum „Private Sector“ (Craig N. Murphy) und Paul Wapners Beitrag zur „Civil Society“ ausführlich beide Seiten der Medaille nichtstaatlicher Partizipation in den UN.

Die Beteiligung nichtstaatlicher Akteure in den intergouvernemental organisierten UN verweist zudem auf die immer wiederkehrende Frage nach der Reformfähigkeit der Weltorganisation. Im Lichte des Millennium+5-Gipfels (2005), auf dem man weitreichende Reformen beschließen wollte, letztlich aber nur einen Teil dieser Agenda umsetzen konnte, thematisieren beide Sammelbände die UN-Reform, sowohl als Querschnittsthema als auch in eigenständigen Artikeln. Doch fehlt in beiden Sammelbänden im Unterschied zu Kennedys Werk ein Hinweis auf den dynamischen Wandel, in dem das internationale System sich derzeit durch den Aufstieg einiger „Länder des Südens“ wie China, Indien oder Brasilien befindet. Dieser Wandel birgt ein hohes Konfliktpotenzial, das nicht ohne Folgen für die Funktion und Rolle der UN bleiben kann, die noch immer die Machtverhältnisse von 1945 widerspiegeln.

Auffällig ist, wie eingangs angedeutet, dass in beiden Sammelbänden mit dem Klimawandel eine der zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, für deren Bearbeitung die UN seit zwei Jahrzehnten den maßgeblichen institutionellen Rahmen bieten, kaum Beachtung findet. Während der Oldenbourg-Band immerhin einen Überblick über die Entwicklung des internationalen Klimaregimes bietet (Jürgen Maier), erschöpft sich das Oxford-Handbuch in der Feststellung, die Klimarahmenkonvention sei „another achievement“ des Erdgipfels von Rio. Auch andere zentrale umweltpolitische Institutionen der UN werden in Nico Schrijvers Kapitel „Natural Resource Management and Sustain-able Development“ eher erwähnt als analysiert. Dies muss schon wegen der außergewöhnlichen Themenbreite überraschen, die das 900 Seiten starke Handbuch ansonsten bietet. Gemessen am Anspruch der Herausgeber, gerade auch die neuen Herausforderungen für Global Governance zu untersuchen, ist es eine unverständliche Auslassung, die den Gesamtwert dieses zweifellos imposanten Bandes unnötig schmälert.

Paul Kennedy: Parlament der Menschheit – Die Vereinten Nationen und der Weg zur Weltregierung. München: C.H. Beck 2007, 384 Seiten, € 24,90

Helmut Volger (Hrsg.): Grundlagen und Strukturen der Vereinten Nationen. München: Oldenbourg 2007, 576 Seiten, € 49,80

Thomas G. Weiss, Sam Daws (Hrsg.): The Oxford Handbook on the United Nations. Oxford: Oxford University Press 2007, 896 Seiten, £ 85,00

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 12, Dezember 2007, S. 133 - 136.

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