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01. Nov. 2021

Panoptikum des Protests

Auch über ein Jahr nach den Protesten vom Sommer 2020 kommt Belarus nicht zur Ruhe. Doch der Widerstand muss der brutalen Repressionswelle des Regimes Tribut zollen – und so operiert er im Verborgenen.

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Bild: Eine junge Frau mit rot-weißem Regenschrim wird festgenommen
Das Zeigen von Rot und Weiß reicht in Belarus für eine Festnahme. Minsk im Oktober 2020
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Seine Freiheit riskiert man in Belarus heutzutage nicht nur bei Protesten, es reicht schon, ein unbeschriebenes Blatt Papier ins Fenster zu hängen. Wer eine solche „ungenehmigte ­Demonstration“ in der eigenen Wohnung veranstaltet, kann mit zehn oder 20 Tagen Haft rechnen. Auf die Idee, eine Oppositionsfahne, wie sie früher zu Tausenden in Minsk zu sehen waren, aufzuhängen, kommt sowieso kaum jemand mehr nach geschätzten 30 000 politischen Verhaftungen.



Durchsuchungen finden nicht mehr nur in Redaktionen unabhängiger Medien statt, sofern es sie noch gibt, sondern auch beim belarussischen Vogelschutzbund. Zu den mehr als 200 NGOs und Vereinen, die in den vergangenen Monaten auf Betreiben der Staatsanwaltschaft aufgelöst wurden, gehört ein Hospiz für krebskranke Kinder und der Rotary Club in Minsk.



Es sind Meldungen, die einem die Sprache verschlagen. Welche Adjektive bleiben da noch zur Beschreibung einer Situation, in der ein unbeschriebenes Blatt Papier strafbar ist? Nennt man das grotesk oder verweist man gleich auf Orwell? Die Geschichte des Protestsommers 2020 zu erzählen ist einfach; über die Verfolgung Tausender Belarussen und Belarussinnen in unzähligen Gerichtsverfahren zu berichten, ist deutlich schwieriger.



Die Repressionswelle in Minsk richtet sich nicht mehr nur gegen Organisationen, die unbequeme Fragen zu Alexander Lukaschenkos Staatsapparat haben; es reicht schon, unabhängig zu sein. Jede Privat­initiative ist eine potenzielle Bedrohung für ein System, das sich lieber mit Blockparteien und gelenkten Bewegungen umgibt.



Lächelnde, selbstbewusste Bürger

Doch allen Repressionen zum Trotz ist Be­larus mehr als ein Jahr nach der gefälschten Präsidentschaftswahl noch längst nicht zur Ruhe gekommen – anders als es Lukaschenko bei seiner achtstündigen Pressekonferenz vergangenen Sommer noch stolz verkündete. Eher im Gegenteil: Auch wenn fast alle bekannten Gesichter des Protests nun entweder im Gefängnis oder im Exil sind, spitzt sich die Lage in dem Zehnmillionenland gerade zu. Der ­gewaltsame Tod des Oppositionsanhängers Andrei Seltzer und eines KGB-Offiziers bei einer Razzia Ende September ist nur der sichtbarste Teil dieser Entwicklung.



Lange Jahre wirkte Belarus zumindest aus der benachbarten Ukraine betrachtet wie ein Land ohne Politik und ohne Nachrichten. Anzeichen für eine ernsthafte He­rausforderung für das System Lukaschenko gab es kaum. Erst im Sommer 2020, als mit Swetlana Tikhanowskaja eine Oppositionskandidatin auftauchte, die in der Lage war, Menschen außerhalb der Hauptstadt anzusprechen, stellte sich heraus, wie viel Unzufriedenheit im Land herrschte. Vorher trauten sich nur Einzelne, ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen.



Wer im August und September 2020 in Minsk unterwegs war, erkannte die Stadt und seine Menschen kaum wieder. Waren die meisten Belarussen früher vorsichtig und misstrauisch mit der Presse umgegangen, so bekam man plötzlich ungefragt Feedback zu seiner Arbeit. Im Kaffeehaus, im Taxi, bei den Protesten. Stellte man einem Demonstranten Fragen, standen oft schon gleich mehrere daneben Schlange, die auch zu Wort kommen wollten.



Die Bilder riesiger Menschenmengen, die friedlich und erstaunlich selbstbewusst Ende August und Anfang September 2020 jeden Sonntag durch Minsk zogen, gingen um die Welt. Zerstörte Ladenfronten gab es in Minsk nicht. Darauf waren die Demonstrierenden auch stolz: keine Meute zu sein, sondern lächelnde, selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger. Und das, obwohl bei vielen die blauen Flecke noch nicht verblasst waren, die sie in den ersten Tagen nach der Wahl im berüchtigten Okrestina-Gefängnis bekommen hatten. Sie mussten nur jede Woche auf die Straßen gehen und immer zahlreicher werden und dann würde Lukaschenko schon irgendwann von alleine verschwinden, so das unausgesprochene Credo vieler Menschen.



Anfangs schienen die Demonstranten auch recht zu bekommen. Die immer umfangreicher werdenden Proteste verpassten Machthaber Lukaschenko ganz offensichtlich einen tiefen Schreck. Unvergessen bleiben die Bilder des Machthabers, in voller Kampfmontur vor dem Präsidentenpalast eine Kalaschnikow schwenkend, der jüngste Sohn an seiner Seite. Bilder, mit denen Lukaschenko Stärke zeigen wollte und nur das Gegenteil bewirkte.



Mehr Selbstbewusstsein konnten auch die jungen Rekruten nicht aufbringen, die ihre Hauptstadt vor den eigenen Mitbürgern zu beschützen hatten. Am Minsker Weltkriegsmuseum standen sie hinter Stacheldrahtzaun und taten ihr Bestes, den mitleidigen Blicken der Demonstrierenden auszuweichen, während über die Lautsprecher patriotischer Schlager lief.



Doch irgendwann konnten die Demonstrierenden den Druck auf das Regime nicht weiter steigern, aus Sonntagsdemonstrationen wurden keine täglichen Proteste und auch der ersehnte Generalstreik kam nicht zustande. Lukaschenko flog Mitte September zu Wladimir Putin nach Sotschi und kehrte spürbar selbstsicherer nach Minsk zurück. Was genau vereinbart wurde, ist nicht bekannt, doch nach einem Monat der Niederlagen wechselte Lukaschenko in die Offensive. Bei den Protesten wurde nun immer früher und immer rücksichtsloser verhaftet, mit dem Einbruch der Kälte waren die großen Umzüge erst mal aus der Stadtmitte verdrängt worden.



Platz des Wandels

Keine zwei Kilometer von Lukaschenkos Präsidentenpalast liegt der Plosha Peramen oder „Platz des Wandels“. Auf offiziellen Karten findet man ihn nicht, doch fast jeder in Minsk weiß sofort, was ­gemeint ist. Auf den ersten Blick wird er seinem großspurigen Namen nicht gerecht: eher eine vollgeparkte Brache als ein Platz, umgeben von mehrstöckigen Wohnblocks. Ein Wohnviertel wie viele andere in Minsk, in dem sich im Kleinen genau das abspielte, was Hunderttausende Belarussen nach dem Protestsommer 2020 durchgemacht haben. Die Anwohner gewöhnten sich daran, die eigene Meinung zu äußern und sich staatlichem Druck zu widersetzen, sie lernten sich kennen und begannen, einander zu unterstützen. Aus dem unscheinbaren Hinterhof wurde ein Symbol für die gesamte Protestbewegung.



Es begann mit einem Graffiti: zu sehen waren zwei DJs, die bei einer Regierungsveranstaltung aus Protest Wiktor Zois Perestroika-Hit „Peremen!“ (Wandel!) aufgelegt hatten und kurz darauf festgenommen worden waren. Mit dem hastig organisierten Volksfest sollte eigentlich eine Kundgebung der Oppositionskandidatin Swetlana Tikhanowskaja verhindert werden. Aus den DJs wurden Ikonen der Protestbewegung, der Hit aus den Achtzigern avancierte zum Soundtrack der Proteste.



Jeden Tag wurde das Graffiti von der Stadtreinigung übermalt, jede Nacht wurde es aufs Neue wiederhergestellt. Bis irgendwann die Wand rund um die Uhr von vermummten Polizisten bewacht wurde. Abends trafen sich die Anwohner vor den schweigenden Polizisten zum improvisierten Hoffest. Die Kinder spielten und die ­Erwachsenen diskutierten. Mit zunehmender Bekanntheit kamen auch mal angesehene Bands vorbei zum Konzert auf den umliegenden Balkonen. Menschen, die jahrelang aneinander vorbeigelebt hatten, kamen ins Gespräch, verabredeten sich zum gemeinsamen Demonstrieren – über Generationen und soziale Schichten hinweg. In den neugegründeten Gruppenchats tauschten sich die Nachbarn über Politik, aber auch über die Müllabfuhr aus, jeder Wohnblock und jedes Viertel waren plötzlich vernetzt. Genau davor hatte das Regime am meisten Angst.



Bald hatten sich die Anwohner verabredet, jeden Abend selber Wache zu stehen, um das Wandbild zu verteidigen. Am 15. September war der 40-jährige Stepan Latypow dran. Als vermummte Polizisten in Zivil zum wiederholten Mal das Bild mit den DJs zerstören wollten, stellte sich Latypow dazwischen und verlangte danach, einen Dienstausweis zu sehen. Nach einer brutalen Festnahme verschwand Latypow in einem Kleinbus ohne Kennzeichen. Wenige Tage später berichteten Staatsmedien, der vielfach ausgezeichnete Baumchirurg habe geplant, mit Pflanzenschutzmitteln Polizisten anzugreifen. Seitdem verbrachte Stepan Latypow keine Nacht zu Hause.



Der erste Tote auf dem Platz

Mein nächster Besuch auf dem „Platz des Wandels“ ist ungeplant. Ende März 2021 endet ein Versuch, über eine oppositionelle Aktion im Stadtzentrum zu berichten, nach wenigen Minuten mit einer Festnahme. Trotz Akkreditierung und blauer Presseweste. Gleich mehrere verblüffte Beamte nehmen meine Personalien immer wieder aufs Neue auf und möchten kaum glauben, dass es im Land noch akkreditierte ausländische Journalisten gibt. Als nach einer knappen Stunde die Bestätigung kommt, dass die Akkreditierung doch keine Fälschung ist, werde ich mit einer verhaltenen Entschuldigung freigelassen.



Plötzlich erkenne ich die Straßen wieder, zum „Platz des Wandels“ sind es keine fünf Minuten zu Fuß. Womöglich hatte ich mit denselben Polizisten zu tun, die damals die Wand bewacht hatten. Das Bild der DJs ist nun endgültig verschwunden, und auch sonst lässt wenig darauf schließen, was für eine Bedeutung dieser Ort für die belarussische Opposition hatte. In der Zwischenzeit ist viel passiert: Der Platz hatte sein erstes Todesopfer zu beklagen, und drei Journalistinnen, die darüber berichtet hatten, saßen hinter Gittern.



Wie schon Stepan Latypow hatte auch Roman Bondarenko versucht, eine Gruppe von Männern in Zivil anzusprechen, die nachts die Symbole des Protests beseitigen wollten. Nur waren diesmal unter den Vermummten nicht nur Polizisten, sondern auch ein Weltmeister im Kickboxen. Kurz nach seiner Verhaftung fiel Roman Bondarenko ins Koma, am nächsten Tag war er tot.



Bald hieß es in den Staatsmedien, Bondarenko sei betrunken gewesen, habe sich mit Nachbarn gestritten und sei dabei ver­unglückt. Nur hatten die Ärzte in Bondarenkos Blut keinen Alkohol feststellen können. Als die Journalistin Katerina Borissewitsch wenige Tage später genau das berichtete, wurden sie und Bondarenkos behandelnder Arzt wegen Verstoßes gegen das Arztgeheimnis verhaftet. Erst ein halbes Jahr später kamen sie frei.



Die Journalistinnen Katerina Andrejewa und Darja Tschulzowa sind immer noch hinter Gittern. Sie hatten einen Live­stream des Gedenkmarschs für Bondarenko aus der vermeintlichen Sicherheit einer Wohnung im 14. Stock mit Blick auf den Platz moderiert. „Gefährdung der öffentlichen Ordnung“ lautet der Paragraf, mithilfe dessen zurzeit Journalisten und Regimegegner reihenweise abgeurteilt werden. Andrejewa und Tschulzowa bekamen zwei Jahre Haft.



Der „Platz des Wandels“ ist seit mehr als einem Jahr nie wirklich aus den Schlagzeilen verschwunden – sei es über seine Anwohner oder über die Journalisten, die über diesen sonst so unscheinbaren Ort zu berichten versuchten. Die Nachbarschafts­chats gibt es nach wie vor, doch man ist vorsichtiger geworden. Selbst in geschlossenen Gruppen ist die Angst vor Informanten groß. Wenn bereits ein Link zu einem als extremistisch gebrandmarkten Oppositionssender eine 15-tägige Haftstrafe zur Folge haben kann, ist die Bereitschaft, sich vor einem breiteren Publikum kritisch zu äußern, umso kleiner.



Für Journalisten ist es sehr viel schwieriger geworden, an diese Menschen he­ranzukommen, selbst über verschlüsselte Apps. Auch diejenigen, die einen vom persönlichen Interview vor Ort kennen, bitten nun immer öfter darum, man möge sie nicht wieder kontaktieren. Wer zum Interview bereit ist, will meistens anonym bleiben, ein Offline-Treffen wagen nur noch die Allerwenigsten. Da ist man zwar in Minsk, doch eigentlich könnte man dieselben Interviews auch aus dem Ausland führen. Man ist vor Ort und gleichzeitig auf seltsame Weise abgeschnitten von seiner Umgebung, so wie das Regime auch einzelne Belarussen voneinander fernhalten will.



Einer der wenigen Menschen in Minsk, die definitiv keine Scheu vor Journalisten empfindet, ist Nina Baginskaja, die bekannteste Urgroßmutter des belarussischen Protests. Unverkennbar mit ihrer stahlumrandeten Brille, der zierlichen Statur und den riesigen, selbst genähten Fahnen. Ihre Dissidentenkarriere begann Baginskaja noch zu Sowjetzeiten im Kampf gegen die Verschleierung des Atomunglücks von Tschernobyl. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der belarussischen Unabhängigkeit erfüllte sich für Baginskaja ein Traum – auf einmal fand sie sich vorübergehend im politischen Mainstream. Doch 1994 und mit der Wahl Alexander Lukaschenkos in das höchste Amt war es damit schon wieder vorbei. Baginskaja war wieder Dissidentin und über lange Strecken sehr alleine bei ihren Protestaktionen.



Mit Nina Baginskaja verabredet man sich über ihren Festnetzanschluss, auch wenn klar ist, dass alles abgehört wird. An den Online-Diskussionen der Opposition kann sie ohne Smartphone und Computer nicht teilnehmen, aber das scheint sie nicht zu irritieren. Sie will sich in der katholischen Kirche am Unabhängigkeitsplatz treffen, wo sich früher die Demonstranten vor der Polizei versteckt haben. Von ihrer kargen Rente bleibt ihr nur die Hälfte, der Rest wird vom Staat einbehalten, um ihre vielen Bußgelder zu begleichen. Wie viel sie noch genau schulde, wisse sie nicht; bei 16 000 Dollar habe sie aufgehört zu zählen. Sie erzählt von den Apfelbäumen auf der beschlagnahmten Datscha und von der Enkelin, die nach den Protesten das Land verlassen musste. Egal, worüber sie spricht, bei Baginskaja geht es immer ums große Ganze.



Ihre eigene Generation sei vom sowjetischen System eingeschüchtert worden, erzählt sie, doch die Jüngeren seien nicht mehr bereit, sich einer Regierung unterzuordnen. Ob Baginskaja letztendlich recht behält, wird sich zeigen: Das erste Regime hat sie bereits überlebt, vielleicht überlebt sie mit ihren 74 Jahren noch ein zweites. Momentan gibt es dafür wenig Anzeichen, doch wenn es eine Lektion aus dem Protestsommer 2020 gibt, dann diese: Belarussen sind gut für ­Überraschungen.      





Nicholas Connolly ist Leiter des Büros der Deutschen Welle in Kiew. Im Sommer 2020 begleitete er über Wochen die Proteste in Minsk gegen den Machthaber Alexander Lukaschenko.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2021, S. 56-60

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