Ohne Wachstum ist alles nichts
Ein Plädoyer für das Prinzip der schöpferischen Zerstörung
Die Wachstumskritiker wollen dem Wachstum abschwören – und kommen doch selbst nicht ohne es aus. So verlockend die Vorstellung ist, das Hamsterrad des Kapitalismus anzuhalten: In entwickelten Volkswirtschaften geht es um qualitatives Wachstum; eine Gesellschaft, die darauf verzichtet, produziert keine marktfähigen Ideen mehr.
Es ist merkwürdig: Immer mehr Intellektuelle in Deutschland sind besorgt über das Wirtschaftswachstum. Wohlgemerkt: über das Wachstum selbst, nicht über sein Ausbleiben. Sie sehen weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit, eine sehr langfristige historische Entwicklung fortzusetzen. Im Gegenteil, sie plädieren nachdrücklich für ein Ende der Ära des Wachstums.
Eine Ära ist es in der Tat. Denn seit der Industrialisierung Deutschlands vor fast 200 Jahren wächst unsere Wirtschaft – mal ungewöhnlich schnell, wie in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, mal langsamer, wie in den vergangenen beiden Dekaden, und gelegentlich auch ganz normal im langjährigen Durchschnitt. Damit steht Deutschland nicht allein. Die gesamte westliche Welt hat seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens irgendwo zwischen 1,5 und 2 Prozent pro Jahr erlebt. Über die Zeit addierte sich dies zu einem enormen Sprung des Wohlstands von der Massenarmut zum Massenwohlstand, oder genauer: aus einer Welt, in der es wenigen gut und vielen schlecht ging, in eine Welt, in der es umgekehrt ist.
Dieser Weg soll nun, geht es nach den Wachstumskritikern, nicht fortgesetzt werden. Der Grund: Die Menschen in der westlichen Welt haben genug an materiellem Wohlstand, und da große Entwicklungs- und Schwellenländer noch dabei sind, im Lebensstandard nachzuziehen, droht der Kollaps unseres Planeten – durch Übernutzung von Ressourcen und anthropogen verursachten Wandel des Klimas. Beliebt ist dabei folgendes Bild: Würden alle so wohlhabend wie wir, bräuchten wir an Ressourcen nicht eine Erde, sondern gleich mehrere. Also, Schluss mit dem Wachstum im heute schon reichen Teil der Welt und radikale Umlenkung unserer Leistungskraft in Richtung Ressourcenschonung.
Soweit die Empfehlung vieler Intellektueller. Sie findet inzwischen breite Resonanz in der Öffentlichkeit. Wir leben dabei in einem merkwürdig schizophrenen Zustand. Die Feuilletons sind voll von Rufen nach dem Ende des Wirtschaftswachstums, während in den Politik- und Wirtschaftsteilen oft desselben Mediums unverdrossen Empfehlungen ausgesprochen werden, wie das Wachstum zu erhalten oder zu verstärken sei. Ähnlich ist es in der Politik. Flammende grundsätzliche Bekenntnisse zu Maßhalten und Umkehr stehen neben Rezepturen für mehr Wachstum – und kommen dabei gelegentlich vom selben Politiker. Ganz offensichtlich ist dies in der derzeitigen Schuldenkrise: Fast alle wünschen sich mehr langfristiges Wachstum für Griechenland, Portugal und Spanien, und viele fordern gleichzeitig das Ende des Wachstums für Europa.
Der Widerspruch hat viele Ursachen. Eine zentrale ist das Verständnis davon, was Wachstum überhaupt ist – für eine Wirtschaft und eine Gesellschaft. Bei den Wachstumskritikern herrscht fast unisono die Vorstellung, Wachstum sei im Wesentlichen ein quantitatives Phänomen. Die Wirtschaft produziert immer mehr Waren und Dienstleistungen, die sich zu einem gewaltigen Güterberg auftürmen, der die materiellen Bedürfnisse der Menschen befriedigt, aber enorme Ressourcen verschlingt. In diesem Bild ist es durchaus naheliegend, ein Stoppsignal zu setzen, denn – so die Sicht – die dringlichen menschlichen Bedürfnisse nehmen ja nicht immer weiter zu. Der Preis des Verzichts auf zusätzliches Wachstum ist deshalb gering, schlimmstenfalls ein gewisses Maß an Selbstbescheidung. Es entsteht dabei ein fast idyllisches Bild: Alle reduzieren das Tempo und bescheiden sich mit dem Erreichten. Das Ergebnis mag sogar ein neues Glücksgefühl sein, denn so manche Untersuchung der modernen „happiness“-Forschung deutet in die Richtung, dass zusätzliches Einkommen in hoch entwickelten Ländern keine zusätzliche Zufriedenheit schafft.
Von der Entdeckungsfreude des Marktes
Diese Sichtweise ist verführerisch. Sie weckt die Hoffnung auf ein Anhalten des Hamsterrads, in dem sich viele Menschen in der kapitalistischen Marktwirtschaft gefangen sehen. Sie verliert allerdings sehr schnell ihre Attraktivität, wenn man sich klarmacht, dass eine ihrer zentralen Prämissen nicht stimmt: Wachstum in hoch entwickelten Volkswirtschaften ist in hohem Maße nicht quantitativ, sondern qualitativ. In einem Land mit stagnierender Bevölkerung entsteht Wirtschaftswachstum nur mehr durch die Umsetzung neuer Ideen in marktfähige Waren und Dienstleistungen – „schöpferische Zerstörung“, wie Joseph Schumpeter dies nannte: Der Wettbewerb sorgt für immer vielfältigere, bessere und auch umweltfreundlichere Güter. Geht es in bitter armen Ländern vor allem noch um mehr von allem, steht in Deutschland der Wandel technischer Charakteristika der Produktwelt im Vordergrund. Autos, Fernseher und Waschmaschinen werden verbessert, bedienungsfreundlicher und ökologischer; Computer, Smartphones und iPads erweitern die Welt der Kommunikation. Die Entdeckungsfreude des Marktes erlaubt erst das Wachstum.
Damit verschiebt sich das Bild grundlegend. Denn eine Gesellschaft ohne Wachstum ist dann eigentlich nichts anderes als eine Gesellschaft ohne marktfähige Ideen. Wahrlich keine attraktive Vorstellung, ganz im Gegenteil. Und tatsächlich hat bisher niemand dafür explizit geworben. So plädieren die Wachstumskritiker auch nicht für das Ende der Ideen, sondern für deren Umlenkung: weg von der traditionellen Wertschöpfung am Markt hin zu einer ökologischen Wertschöpfung, die angeblich den wahren Bedürfnissen der Menschen – und nicht denen des Marktes – entspricht. Dann allerdings stellt sich die grundlegendste aller Fragen: Was sind die wahren Bedürfnisse, wenn sie sich nicht in irgendeiner Form in marktwirtschaftlicher Wertschöpfung widerspiegeln?
Mit dieser Frage nähert man sich tatsächlich dem Kern der ganzen Wachstumsdebatte. Es gibt nämlich nur zwei politische Wege, um ein vorgegebenes ökologisches Ziel zu erreichen – entweder man erzieht die Menschen zu der nötigen Wertschätzung ökologischer Produktion oder man sorgt für eine dauerhafte Subventionierung gegen die Marktkräfte. Das erste könnte man als „harte Erziehung“ bezeichnen, das zweite als „harte Lenkung“. Leider sind beide keine wirklich attraktiven Gesellschaftsmodelle, jedenfalls dann nicht, wenn sich die Menschen in ihren Konsumgewohnheiten als störrisch erweisen. Dann entstehen nämlich Probleme, wie sie aus Plan- und Kommandowirtschaften hinreichend bekannt sind: Unzufriedenheit der Bürger und Ineffizienz der staatlichen Lenkung bis hin zum grotesken Fall, dass die Wertschöpfung ohne Subventionen zu Weltmarktbedingungen extrem gering oder gar negativ ausfällt, weil Wettbewerber weit günstiger produzieren können. Die inländische protegierte Wertschöpfung ist dann nichts anderes als eine Blase, die platzt, sobald echter Wettbewerb herrscht.
Keine Beispiele glücklicher Selbstbescheidung
Schlimmer noch. Beschreiten andere Länder nicht den gleichen Weg des Wachstumsverzichts durch ökologische Lenkung, so droht ein schleichender Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und damit zumindest die relative, wenn nicht gar absolute Verarmung. Andere Länder wachsen, und zwar nach ganz normalen marktwirtschaftlichen Kriterien, das Land des Wachstumsverzichts aber nicht. Es ist klar, dass sich dadurch nach einigen Jahren oder Jahrzehnten ein internationales Einkommensgefälle einstellt. Die Folge: Abwanderung von Leistungsträgern, weitere Schwächung der Innovationskraft bis hin zu krisenhafter Zuspitzung der Lage. Es gibt genügend historische Beispiele für den Niedergang von Nationen und Regionen in der großräumigen Arbeitsteilung, so etwa die Krise der norditalienischen Städte im 18. Jahrhundert oder Großbritanniens bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Sie liefern alles andere als Vorbilder der glücklichen Selbstbescheidung.
Zu diesen ökonomischen Schieflagen gesellen sich soziale Probleme. Denn es ist wohl eine Illusion zu glauben, dass sich wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovationskraft fein säuberlich trennen lassen. Immerhin werden weite Bereiche von Kunst, Kultur und Sozialstaat aus den marktwirtschaftlichen Erträgen des Kapitalismus finanziert – über Steuern, Abgaben und Beiträge. Hinzu kommt, dass gerade auch die urbane Welt der Kreativität in einer modernen Gesellschaft aufs Engste verzahnt ist mit kommerziellen Anwendungen. Fehlt es dort an echten marktwirtschaftlichen Anreizen, überträgt sich die Müdigkeit der Wirtschaft auf den Kreativbereich der gesamten Zivilisation bis hin zur Subkultur der Aussteiger, die als explizites Gegenbild zumeist aus dem Kapitalismus selbst ihre Originalität und geistige Schlagkraft zieht. Denn Innovationen werden bald nicht mehr monetär, sondern nur mehr moralisch belohnt – über einen Staat, der für die nötige Erziehung und Lenkung sorgt. Zu Ende gedacht ist es eine zutiefst paternalistische Welt. Nicht mehr die anonymen Marktkräfte setzen die Anreize, sondern „Vater“ Staat. Es fällt schwer zu glauben, dass sich dies nicht auf Dauer auf die innere Dynamik einer Gesellschaft auswirkt, und zwar weit über das rein Kommerzielle hinaus.
Es ist bemerkenswert, wie wenig die Verfechter des Wachstumsverzichts diese Konsequenzen ihrer weitreichenden politischen Empfehlung ins Auge fassen. Der Grund dafür liegt in einem Sicherheitsnetz, das sie – oft nur implizit – in ihre Argumentation einziehen. Denn während sie einerseits vehement gegen das Wachstum zu Felde ziehen, taucht es an anderer Stelle in neuem Gewande wieder auf: ökologisch geläutert als „green growth“ (im Unterschied zum „brown growth“ der traditionellen Art). Tatsächlich unterstellen viele Wachstumskritiker, dass die „Große Transformation“ hin zur ökologischen Marktwirtschaft aus sich heraus neues, „sauberes“ Wachstum generiert. Dies gelingt dadurch, dass sie in Computersimulationen den Strukturwandel der Wirtschaft so modellieren, dass er von „brown“ zu „green“ enorme Lerneffekte generiert, die sich dann in entsprechenden Zunahmen der Produktivität niederschlagen. Ökonomisch begründet wird dies in aller Regel dadurch, dass den Technologien erneuerbarer Energien im Wesentlichen die gleichen produktivitätssteigernden Kräfte zugetraut werden wie vormals den Informationstechnologien. Dass dies tatsächlich so sein wird, ist allerdings höchst fraglich; dafür gibt es keine empirischen Belege. Im Gegenteil, viele Indizien sprechen dagegen, denn der Wandel der Energieversorgung von „brown“ zu „green“ schafft keine neue „general purpose technology“, die sich durch die gesamte Wirtschaft zieht, wie dies bei der Einführung der Mikroelektronik (und früher des elektrischen Stroms und der Dampfkraft) zu beobachten war.
Aber darüber lässt sich wenigstens ergebnisoffen diskutieren und streiten. Tatsache ist dann allerdings, dass auch die Wachstumskritiker nicht ganz ohne Wachstum auskommen. Dies zeigt deutlich genug, wie schwierig es ist, sich eine Welt der Selbstbescheidung und Stagnation vorzustellen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn Wachstum als das interpretiert wird, was es in einer modernen Industriegesellschaft ist: das Ergebnis der Innovationskraft und Originalität der Menschen sowie das Mittel zum Zweck, um viele andere Ziele der Gesellschaft zu erreichen.
Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué ist Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.
Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 38-41