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01. Juli 2013

Wachsen, aber wie?: Europas verlorenes Jahrzehnt

Was wir jetzt bräuchten – und vorerst nicht bekommen werden

Europas Wachstum stagniert. Wie ließe es sich wieder ankurbeln? Wer hat Recht im Streit „austerity versus growth“? Gibt es ein Rezept für alle, oder müssen wir Lösungen finden, die auf einzelne Länder zugeschnitten sind? Acht führende Wirtschaftsexperten aus Großbritannien, Frankreich, Griechenland, Portugal und Deutschland erklären, was jetzt zu tun ist.

Es wäre töricht, so zu tun, als ob die wirtschaftliche Situation in Europa nicht ernst wäre. Kurz gesagt: Sie ist schlecht. Wenn zwei beschreibende Worte erlaubt sind, könnte man auch sagen: sehr schlecht. Nachdem sich die Welt von dem Schock von 2008 erholt hatte, war eine Zeit lang viel vom „globalen Aufschwung der zwei Geschwindigkeiten“ die Rede. Die Entwicklungsländer erholten sich schnell und kehrten zu Wachstumsraten zurück, die mit jenen vor der Krise in etwa vergleichbar waren, während die entwickelten Volkswirtschaften auf einen Wachstumspfad zurückstolperten, der unter dem Durchschnitt lag. 

Diese Beschreibung stimmt nicht mehr. Wir werden derzeit Zeuge eines Aufschwungs der drei Geschwindigkeiten. Chinas Wirtschaft etwa läuft noch nicht auf Hochtouren, wächst aber immerhin mit Raten von 7 bis 8 Prozent; und die USA scheinen ein wenig von ihrem früheren Elan wiedergefunden zu haben. Ein Wachstum von 2 Prozent ist zwar noch weit von den fetten „Go-go“-Greenspan-Jahren entfernt, aber amerikanische Konsumenten haben im großen Stil ihre Schulden abgezahlt, die Banken sind stark kapitalisiert, und die Volkwirtschaft insgesamt befindet sich in einem gesünderen Zustand. Die Unternehmen und Konsumenten haben Vertrauen zurückgewonnen. Es ist zwar noch schwach, aber bereits so stark, dass Notenbankchef Ben Bernanke ein vorgezogenes Ende der Politik der „monetären Lockerung“ in Erwägung zieht.

Auf dem Alten Kontinent sind vergleichbare Anzeichen der Erholung kaum erkennbar, und viele Ökonomen ermuntern Mario Draghi, Gas zu geben und die Geldpolitik weiter zu lockern. Doch wenn man versucht, die europäische Wirtschaft zu beschreiben, stößt man schnell auf eine unbequeme Wahrheit – nämlich dass sie eigentlich gar nicht existiert. Es ist schon kaum möglich, das auf einen Nenner zu bringen, was in Zypern, Spanien, Deutschland und in Großbritannien geschieht – um nur vier der 27 EU-Mitgliedstaaten zu nennen. 

Zyperns Wirtschaft ist weiter im Taumeln begriffen; Experten prognostizieren für die kommenden zwei Jahre einen Einbruch des Bruttoinlandsprodukts um rund 20 Prozent. Spanien kämpft darum, seine öffentliche Verschuldung unter Kontrolle zu bekommen, muss sich aber gleichzeitig mit dramatisch sinkenden Immobilienpreisen und einer Jugendarbeitslosigkeit epidemischen Ausmaßes auseinandersetzen. Natürlich beobachten wir auch in Deutschland ein schwächer gewordenes Wachstum, aber im Gegensatz zu seinen Nachbarn kann das Land einen nahezu ausgeglichenen Haushalt vorweisen, die Immobilienpreise sind stabil und die Einkommen steigen. Und in Großbritannien sind immerhin einige Anzeichen wirtschaftlicher Stabilisierung erkennbar, auch wenn diese mindestens teilweise auf die Wiederbelebung des Wohnungsmarkts – und damit eines kleinen und eher spekulativen Segments der Volkswirtschaft – zurückzuführen sind.

Daher kann es keine allgemeingültige Antwort auf die Frage geben, wie Wachstum generiert werden soll. Patienten mit so unterschiedlichen Krankheitssymptomen ein- und dasselbe Rezept auszustellen, wäre unseriös. Der Versuch der Europäischen Kommission, so zu tun, als gäbe es eine gemeinsame europäische oder zumindest Euro-Zonen-Wirtschaft, ist zum Scheitern verurteilt und richtet mehr Schaden als Nutzen an.

Maßgeschneiderte Maßnahmen

Beispiel Arbeitsmarkt: Es ist klar, dass Spanien seine Lohnbildungsmechanismen und sein Arbeitsrecht reformieren muss. Der Arbeitsmarkt ist an zu vielen Stellen verkrustet. Zypern müsste es Spanien wohl gleich tun. Deutschland erntet gerade die Früchte der Schröder-Reformen, und im Falle Großbritanniens könnte man argumentieren, dass dem Arbeitsmarkt wichtige Strukturen zum gemeinschaftlichen Handeln fehlen. Unsichere Beschäftigungsverhältnisse könnten die Ursache dafür sein, dass sich der Konsum nur langsam erholt. Die notwendigen politischen Maßnahmen unterscheiden sich also von Fall zu Fall erheblich. 

Oder nehmen wir die öffentlichen Finanzen: Großbritannien hat ein beträchtliches strukturelles Defizit. Die Ökonomen sind sich uneins über die nötige Geschwindigkeit der Konsolidierung, aber sie sind sich einig, dass eine Korrektur im Laufe der kommenden Jahre notwendig ist. Im Falle Deutschlands dagegen kann man mit einigem Recht argumentieren, dass eine weitere fiskale Konsolidierung nicht notwendig sei, im Gegenteil: Sie würde die EU-Wirtschaft als Ganzes schädigen, da sie die bereits existierende Teilung der Euro-Zone in Gläubiger und Schuldner noch weiter vertiefen würde.

Somit ist der erste Schritt zu einer klugen Lösung bei der Ausarbeitung einer Strategie für die Erholung Europas die Einsicht, dass es keine einheitliche EU-Volkswirtschaft gibt. Tatsächlich hat der Euro weder dazu beigetragen, die staatenübergreifende wirtschaftliche Integration bedeutend voranzutreiben, noch hat er die Konjunkturzyklen der einzelnen Mitgliedstaaten aneinander angepasst. Alles andere zu behaupten, wäre reine Zeitverschwendung.

Was wir daher brauchen, ist nicht eine EU- oder selbst eine eurozonen-weite Wachstumsstrategie. Wir brauchen vielmehr ein Set verschiedener Ansätze, die auf die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Länder zugeschnitten sind, zusammengenommen aber ein kohärentes Ganzes bilden. Idealerweise würde diese Kohärenz zusätzlich durch eine europäische Fiskalpolitik abgesichert, die flexibel genug wäre, um asymmetrischen Schocks zu begegnen und gleichzeitig stark genug, um Staaten Zeit für Reformen und Anpassung zu verschaffen. So wäre es etwa sinnvoll, Sozialleistungen in Spanien im Gegenzug für radikale Reformen von anderen Ländern finanzieren zu lassen. Diese Reformen wären kurzfristig mit Opfern verbunden, langfristig würde das Land jedoch von einem flexiblen Arbeitsmarkt profitieren. Und die gering verschuldeten Überschussländer würden langfristig die Gewinne ihrer Investition ernten.

Vor den deutschen Bundestagswahlen scheint ein solches rationales, kooperatives Vorgehen unwahrscheinlich. Fürs Erste wird Europa also weiter durch die Gegend stolpern. Zwar sehe ich derzeit keinen unmittelbar bevorstehenden, drastischen Abschwung auf uns zukommen, aber wir sind auf dem Weg zu einem verlorenen Jahrzehnt, wie es Japan erlebt hat. Und dessen Konsequenzen werden für die heutige junge Generation künftiger Erwerbstätiger langfristig sehr schädlich sein. Die Europäische Zentralbank kann etwas Trost spenden, indem sie für Liquidität zu sehr niedrigen Zinssätzen sorgt. Doch Geldpolitik alleine wird nicht alle Gebrechen Europas heilen können.

Sir Howard Davies ist Professor an der Sciences Po in Paris.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 8-10

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