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01. Jan. 2014

Öffentliches Ärgernis

Vor allem sein aufgeblähter Staatsapparat macht Portugal zu schaffen

Wo die Wurzel des Übels liegt, zeigen die Zahlen deutlich: Portugal schaffte es seit Einführung des Euro in keinem Jahr, seine Neuverschuldung unter die Maastricht-Schwelle von 3 Prozent zu drücken. Der Staat hat seit vielen Jahren ein Problem, die Ausgaben mit den Einnahmen in Einklang zu bringen. Seit der Euro-Einführung stagnierte dann auch noch das Wirtschaftswachstum. Diese Kombination ließ die Gesamtverschuldung zuletzt auf ein bedrohlich hohes Niveau steigen – und damit auch die Zinsbelastung. Ein Teufelskreis. 

Das staatliche Finanzproblem geht auf die siebziger Jahre zurück. Anfang des Jahrzehnts machten die staatlichen Ausgaben rund ein Viertel des Bruttosozialprodukts aus. Doch seit der Verstaatlichungswelle nach der Nelkenrevolution Mitte der siebziger Jahre stiegen sowohl die Zahl der Staatsbediensteten als auch die Kosten für ihre Privilegien unaufhörlich an. Ihren Höhepunkt erreichte die Staatsquote im Jahr 2010 mit 51,5 Prozent. Die Einnahmen konnten da schon lange nicht mehr mithalten. 

Alle Anläufe, den Haushalt zu sanieren, waren entweder zu halbherzig oder scheiterten aus anderen Gründen. Zuletzt hatte der sozialistische Premier José Socrates es fast geschafft, das Haushaltsdefizit wieder unter die Drei-Prozent-Grenze zu drücken, als ihm die Pleite von Lehman Brothers einen Strich durch die Rechnung machte. Das Defizit kletterte 2009 auf 10,2 Prozent. Zur strukturellen Krise der Portugiesen und der internationalen Finanzkrise gesellte sich ab Mai 2010 noch die Panik der Anleger um Griechenland und den Euro. Die Renditen auf zehnjährige Staatsanleihen schossen im Juni 2011 über die Zehn-Prozent-Grenze. Portugal musste Hilfe von den Euro-Partnern anfordern.

Wenig arbeiten, viel verdienen

Kern des von einem 78 Milliarden Euro schweren Kredit begleiteten dreijährigen Anpassungsprogramms ist es, die Privilegien der Staatsbürokratie zu beschneiden und die öffentlichen Ausgaben radikal zu kürzen. Zwar ist die soziale Abfederung der Portugiesen im europäischen Vergleich relativ schwach und nicht teuer: Die Ausgaben für Arbeitslosenhilfe liegen unterhalb des Euro-Durchschnitts, auch die für Sozialhilfe sind relativ gering. Wenig gibt Portugal auch für aktive Arbeitsmarktprogramme aus – die derzeit bitter nötig wären. Dafür zahlt die Regierung ihren Beamten und Rentnern zu großzügige Bezüge und Pensionen, so die Analyse der Troika aus IWF, EU und EZB. 

Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes werden zudem viel besser bezahlt als die im Privatsektor. Von Beginn der Europäischen Währungsunion bis zum Jahr 2005 ist die Kluft zwischen staatlichen und privaten Gehältern in Portugal laut einer EZB-Studie stetig gewachsen. In Portugal war die Gehaltskluft sogar die höchste in Europa. Portugiesische Beamte bekommen natürlich auch eine fast dreimal höhere Rente als privat Beschäftigte – obwohl die Staatsdiener weniger Wochenstunden und weniger Jahre gearbeitet haben. Seit 2011 senkt die portugiesische Regierung die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst in kleinen Schritten ab. Die Gehälter der Staatsbediensteten wurden gekürzt, das 13. und 14. Monatsgehalt suspendiert. Allerdings wurde diese Suspension teilweise vom Verfassungsgericht wieder kassiert. Bonuszahlungen oder sonstige Zuschläge für Beamte sind eingefroren, Überstundenzuschläge auf die Hälfte gestutzt.

Schnelle Fortschritte machte die Regierung mit dem 5,5 Milliarden Euro schweren Privatisierungsprogramm. Gleich im ersten Jahr verkaufte man 21 Prozent der Anteile am Energieversorger EDP für 2,7 Milliarden Euro an die chinesische Firma China Three Gorges. Der Flughafenbetreiber ANA ging für 3,08 Milliarden Euro in private Hände über, die staatlichen 40 Prozentanteile am Netzbetreiber REN für knapp 600 Millionen. Vor kurzem brachte die Regierung zudem die Staatspost CTT für 580 Millionen Euro erfolgreich an die Börse. Die Staatsausgaben sanken auf diese Weise auf derzeit rund 48 Prozent des BIP, im Jahr 2018 sollen sie auf 43 Prozent sinken (Deutschland: 45 Prozent). 

Neben der Sanierung der Staatsbilanzen gibt es noch eine andere, mindestens ebenso wichtige Aufgabe: Bedingungen für stärkeres Wirtschaftwachstum zu schaffen. „Wir haben alles aufgegeben, die Fischerei, die Landwirtschaft, die Industrie – jetzt ist es schwieriger, wieder neue Industrien aufzubauen“, sagt der portugiesische Ökonom Rui Martinho. 

Viele in- und ausländische Firmen haben ihre Werkbänke in den vergangenen Dekaden nach Asien oder nach Osteuropa verlagert. „In Rumänien sind die Löhne und Steuern niedriger, da herrscht ein harter Wettbewerb. Wir müssen mit anderen Argumenten punkten, mit Qualität, mit Service“, erklärt Luis Rodrígues, Verkaufsdirektor von Lameirinho, einem portugiesischen Hersteller von Heimtextilien. Das Unternehmen hat heute 700 Angestellte und einen Jahresumsatz von 60 Millionen Euro. Vor zehn Jahren zählte Lameirinho noch doppelt so viele Angestellte und einige Fabriken mehr. Immerhin, die Firma aus dem nordportugiesischen Guimarães hat geschafft, was wenigen gelingt: Lameirinho produziert seine Kissen, Bettbezüge, Tischdecken oder Servietten in Portugal und verkauft sie zu 90 Prozent im Ausland, vor allem in den USA und in Europa.

Um mehr Exportfirmen wie Lameirinho aufzubauen, ist eine Reform der Körperschaftssteuer in Vorbereitung, auch das Arbeitsrecht soll erneut bearbeitet werden. Fortschritte bescheinigt die Troika den Portugiesen auch bei der Reform des langsamen und ineffizienten Justizapparats. Entscheidende Voraussetzung für Wachstum ist zudem, dass das Bankensystem wieder Kredite gibt, wofür eine geringere Kreditaufnahme des Staates ebenso hilfreich sein wird wie Fortschritte bei der europäischen Bankenunion. 

Quadratur des Kreises

Trotz allem bleibt die Troika kritisch. Zwar seien viele Reformen in Gang gesetzt worden, doch könnte es sein, dass die Agenda „nicht ausreichend ambitiös ist“, wie es in der Evaluierung von Ende Oktober heißt. Die Lohnstückkosten seien kaum gesunken, weil das Verfassungsgericht die Kürzungen der Beamtensaläre teilweise wieder aufgehoben habe. Auch werde noch stärkeres Exportwachstum nötig sein, um im Zuge des Aufschwungs ansteigende Importe auszugleichen und den erreichten Überschuss in der Leistungsbilanz zu halten. 

Für das Jahr 2014 hat die Regierung sich nochmals Ausgabenkürzungen im öffentlichen Sektor ins Budgetgesetz geschrieben. Der staatliche Personalstab und seine finanziellen Zuwendungen werden reduziert – wenn auch nicht so drastisch wie von den internationalen Kreditgebern gewünscht. Die Wochen-arbeitszeit für Staatsdiener geht auf 40 Stunden hoch. Weitere Einsparungen soll eine Rentenreform bringen, mit der man das Beamtensystem dem für privat Beschäftigte anpassen will. All das soll den Haushalt sanieren, ohne die ersten Keime der wirtschaftlichen Erholung abzuwürgen. Hier hatte die Troika sich stark verkalkuliert. Sie ging im September 2011 von einem Wachstumsrückgang von 2,2 Prozent für 2011 und von 1,8 für 2012 aus. Schon 2013 sollte die Wirtschaft wieder um 1,2 Prozent wachsen. Es kam viel schlimmer: Zwar fiel der Rückgang im ersten Jahr unter dem Kreditprogramm moderater aus als erwartet. Doch 2012 schrumpfte die Wirtschaft um 3,2 Prozent und 2013 wohl erneut um 1,8 Prozent. Die Arbeitslosenquote kletterte 2013 auf einen Höchststand von 17,7 Prozent. Die Troika hatte angenommen, dass sie 2012 mit 13,5 Prozent ihren Höhepunkt erreicht hätte. 

Entsprechend schrumpfte auch das Haushaltsdefizit nicht nach Plan. Schon mehrmals musste die Troika nachbessern und das Ziel einer Senkung der Neuverschuldung unter 3 Prozent des BIP erst für 2015 ansetzen. Ende 2013 wird das Defizit vermutlich auf 5,5 Prozent, in diesem Jahr dann auf 4 Prozent sinken. Die Staatsschulden sollen nach aktuellen Berechnungen 2013 mit 128 Prozent des BIP ihren Höhepunkt erreichen. 

Der anhaltende Konsolidierungsdruck inmitten einer sich zuspitzenden Rezession hat Portugals Regierung auf eine harte Belastungsprobe gestellt: Der bei den Euro-Partnern sehr angesehene Finanzminister Vitor Gaspar hielt im Sommer dem politischen Druck nicht mehr stand und trat zurück. Dass man sich für Maria Luis Albuquerque als Nachfolgerin entschied, die bei den Euro-Partnern als unnachgiebige Verfechterin des Sparkurses bekannt ist, erzürnte wiederum den Chef der kleinen Koalitionspartei Paulo Portas. Er drohte mit dem Austritt aus der Koalition, und nur seine Beförderung zum Vizepremier konnte vorgezogene Neuwahlen verhindern. Die politische Krise kostete die portugiesische Regierung einen guten Teil des Vertrauens, das sie sich zuvor mit ihrem Reformwillen mühsam erkämpft hatte. Die Renditen auf zehnjährige portugiesische Staatsanleihen kletterten wieder auf 7,5 Prozent. „Die Finanzierungskosten waren im Mai schon sehr viel niedriger, bevor die kurze politische Krise alle vorherigen Fortschritte konterkariert hatte“, klagt Christian Schulz, Ökonom der Berenberg Bank.

Mittlerweile hat Portugal aber wohl dennoch das Schlimmste überstanden. Schon im zweiten Quartal 2013 wuchs die Wirtschaft wieder, sogar um erstaunliche 1,1 Prozent. War das noch zum guten Teil der touristisch lukrativen Ostersaison zu verdanken, so wuchs die Wirtschaft auch im dritten Quartal leicht um 0,2 Prozent. Für das Gesamtjahr verbesserte die Troika ihre Wachstumsprognose auf minus 1,8 Prozent, und 2014 soll es endlich wieder ein Plus von 0,8 Prozent geben. Doch alle Prognosen stehen auf wackligen Beinen. Schon geringfügige Ereignisse können das Zahlengefüge auf den Kopf stellen. 

Eine der risikoreichsten Ungewissheiten besteht in einer demnächst fälligen Entscheidung des Verfassungsgerichts. Die Verfassung stammt aus den siebziger Jahren und gewährt dem Parlament nur wenig Spielraum beim Beschneiden öffentlich-rechtlicher Privilegien. Diverse Male erzwangen die Richter eine Rücknahme der Kürzungen im Staatssektor. Sollte dies mit den im Budget 2014 vorgesehenen Maßnahmen passieren, so wäre die Regierung gezwungen, andere, vermutlich weniger wachstumsfreundliche Einsparungen anzugehen. 

Im Juni 2014 läuft das Kreditprogramm mit der Troika aus, und in den kommenden Monaten wird sich entscheiden, ob danach weitere Unterstützung nötig ist und, wenn ja, welche. „Wenn die wirtschaftliche Erholung und das stabile politische Umfeld anhalten, dann hat Portugal noch eine Chance, ein erneutes volles Rettungspaket zu vermeiden; dann könnte eine vorbeugende Kreditlinie als Rückhalt ausreichen“, glaubt Ökonom Schulz von der Berenberg Bank.

Anne Grüttner berichtet für Handelsblatt und Wirtschaftswoche über Spanien und Portugal.

 
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2014, S. 70-73

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