Buchkritik

01. März 2019

Netz aus Paralleluniversen

Wie ist es bloß so weit gekommen? Und wo soll das alles hinführen? Martin Burckhardt und Andrew Keen zu Vergangenheit und Zukunft der Digitalisierung

Wir leben in einer Zeit, die sich ein Schriftsteller vor ein paar Jahrzehnten kaum futuristischer hätte ausmalen können: Wir wohnen mit Robotern zusammen in intelligenten Häusern, tragen permanent einen leistungsstarken Taschencomputer bei uns, Drohnen gibt es im Elektromarkt an der Ecke, die ersten Autos fahren bereits ohne Fahrer. Die Digitalisierung schreitet so atemberaubend schnell voran, dass selten Zeit bleibt, innezuhalten und sich zu fragen: Wie ist das bloß so weit gekommen – und wo soll das alles hinführen? 

Diesen Fragen widmen sich zwei neue Sachbücher: „Eine kurze Geschichte der Digitalisierung“ von Martin Burckhardt wirft einen Blick zurück, „How to fix the future“ von Andrew Keen schaut nach vorn.

Computerweltschöpfer

Burckhardt erklärt den Weg von der Elektrizität bis zum autonomen Fahren – oder vielmehr von Abbé Jean-­Antoine Nollet bis zu Elon Musk. Denn die Geschichte der Digitalisierung ist hier vor allem eine Geschichte von Menschen, die ein Stück nach dem anderen zu diesem großen und unvollständigen Gesamtwerk beigetragen haben. 

Verschrobene Genies, kluge Wissenschaftler, mutige Pioniere sind diese „Computerweltschöpfer“, wie sie einst in der Serie des Autors in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hießen, auf der das Buch basiert. Ada Lovelace, Herman Hollerith, Alan Turing, Douglas C. Engelbart oder Steve Jobs trifft man im Laufe der Geschichte – oder vielmehr: Sie sind die Geschichte. 

Denn nur weil irgendjemand ein Problem hatte oder einen Wunsch oder eine Vision, konnte auch in der digitalen Welt etwas Neues entstehen. Das erzählt Martin Burckhardt kenntnisreich und klug, wenn auch nicht im Vorbeigehen. Wer diese Geschichte hören will, sollte keine Furcht haben vor Sätzen wie diesem: „Gibt man der Silizium-Gruppe ein dreiwertiges Atom zu (wie Aluminium, Arsen oder Bor), entsteht ein Loch – wird ein Zustandswechsel von Plus nach Minus bewirkt.“ Zum Trost und besseren Verständnis sind aber gleich vor und hinter diesem Satz lachende Silizium-Atome zu sehen, hinreißende Illustrationen, wie sie sich durch das ganze Buch ziehen. Und am Ende dürfen sich die Leser mitfreuen: „Der Transistor ist geboren!“ 

Zugegeben, manche Textpassage muss man womöglich zweimal lesen. Doch wer sich darauf einlässt, kann angesteckt werden vom Pionier- und Erfindergeist. Dazu trägt auch die anekdotische Erzählweise bei. So erfährt man etwa, dass es während der Arbeiten am frühen Computer Mark II schon einmal zu Abstürzen kam, wenn sich eine Motte zwischen einem Kontakt und einem Schalter verfangen hatte. In so einem Fall half eben nur „Debugging“ (Entwanzung), seither ein fester Begriff für das Beheben von Fehlern in Computersystemen. 

Doch weil die Geschichte der Digitalisierung eine Geschichte von Menschen ist, hat sie auch viele Schatten. So halfen im Dritten Reich Hollerith-Abteilungen in Konzentrationslagern dabei, das Töten zu organisieren, schreibt Burckhardt: „In der Abstraktion des Todes war die Leidensgeschichte des Einzelnen nicht mehr mit seinem Namen und seiner Geschichte verknüpft, sondern mit der Zahl, welche die Meister des Todes auf seinen Unterarm tätowiert haben. Und weil dies die ID seiner Lochkartenvita war, starben keine Individuen mehr, sondern Nummern.“ 

Es kann also keine Rede davon sein, dass die Digitalisierung stets den Menschen gedient hätte. Manchmal profitierten eben nur sehr bestimmte Menschen und Mächte von ihr – Regierungen, das Militär, jene also, die oft maßgeblich an der Finanzierung der revolutionären Forschung beteiligt waren. Der Computer kommt nicht allein, wie Burckhardt schreibt, sondern er „führt allerlei Gespenster mit sich“. Die Geschichte des Computers sei „immer auch die Geschichte von Tod und Teufel, von Engeln, die auf einer Nadelspitze tanzen, irgendetwas zwischen Albtraum und Märchen, Segen und Fluch. Wie hat Nietzsche gesagt? Wo Menschenwerke im Spiel sind, ist auch der Menschenwahnsinn nicht weit.“

„Unsere Zukunft ist kaputt“

Genau dieser Wahnsinn macht offenbar Andrew Keen schon längere Zeit zu schaffen. Der Internetkritiker wettert seit Jahren gegen das Silicon Valley und seine berühmtesten Unternehmer, in deren Kreis er selbst es als IT-Unternehmer letztlich nicht geschafft hat. Umso bekannter wurde der britisch-amerikanische Autor mit seinen Mahnungen, dass diese Sache mit dem Internet womöglich gar nicht so toll ist, wie alle meinen.

Diesmal möchte er es allerdings anders angehen: „Nachdem ich drei Bücher geschrieben habe, in denen ich die Abgründe der Digitalen Revolution ausgeleuchtet habe, glaube ich, dass nun der Moment für einen positiveren Ausblick gekommen ist“, schreibt er in seinem Vorwort. Jedoch beginnt auch der etwas „positivere Ausblick“ erst einmal mit der Feststellung: „Unsere Zukunft ist kaputt.“ 

In der vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts hätten wir vergessen, wo der Platz des Menschen ist, schreibt der Autor. Die Digitalisierung habe sich im Laufe der Geschichte mehr und mehr von den Menschen, denen sie ja eigentlich dienen soll, entfernt.

Gezeichnet wird ein düsteres Bild von einem entfesselten Markt und nach Geld, Macht und Daten gierenden Unternehmen, die zu den wichtigsten der Welt gehören: Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft. Sie sind in diesem Buch die Mächtigen, deren Geschäftspraktiken die Netznutzer ausgeliefert sind und gegen deren Gebaren es sich zu wehren gilt. Dafür nennt Keen fünf Werkzeuge: staatliche Aufsicht, besseren Wettbewerb, gesellschaftliche Verantwortung, Arbeitnehmer- und Verbraucher­initiativen sowie bessere Bildung.

Mithilfe dieser Methoden sollen die großen Konzerne eingehegt und die Nutzer gestärkt werden: „Um die drängendsten Probleme der Zukunft in den Griff zu bekommen, müssen wir die Menschen in den Mittelpunkt unserer Erzählung stellen“, so Keen.

Worauf können wir uns einigen?

Das klingt zunächst vernünftig. Und vieles, was Keen schreibt, muss vielleicht einmal so deutlich ausgesprochen und diskutiert werden. Etwa, wie im Digitalen Geld verdient wird und auf wessen Schultern. Es wird auch Zeit, dass wir, wenn sich die Welt verändert, über weltverändernde Ideen diskutieren – wie ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Trotzdem scheint beinahe vergessen, dass nicht nur Gutes dabei herauskommen muss, wenn die Menschen im Mittelpunkt der Erzählung stehen – wie „Eine kurze Geschichte der Digitalisierung“ eindrücklich zeigt. Wer „die Menschen“ in den Mittelpunkt stellt, muss bedenken, dass sie höchst verschieden sind, was Kenntnis und Zugang zur digitalen Welt, aber auch, was ihre Bedürfnisse, Erwartungen und Absichten angeht.

Oft lässt sich nicht einmal im Familienkreis eine einheitliche Haltung zu technologischen Errungenschaften ausmachen: Während der Onkel biometrische Erkennungssysteme für Teufelszeug hält, liebt sein Neffe vielleicht den Fingerabdrucksensor am Smartphone. Die einen hassen Alexa und Siri, andere können sich ein Leben ohne digitale Assistenten nicht mehr vorstellen. Manche posten Kinderfotos auf Facebook und kommunizieren exzessiv über WhatsApp, andere haben nicht einmal einen Account.

Da es schon im engsten Kreis keinerlei klare Haltung in digitalen Dingen gibt, gilt das erst recht in einem größeren: Soll die Polizei Gesichtserkennungssoftware an Bahnhöfen nutzen können, um Straftäter zu finden? Darf der Staat vertrauliche Kommunikation entschlüsseln? Soll der Zugang zu Pornografie im Internet erschwert werden? Auf was können wir uns überhaupt einigen?

Und wenn es bereits innerhalb eines Landes keinen gemeinsamen Nenner gibt, werden „die Menschen“, von denen Keen schreibt, im internationalen Kontext der Internetnutzung erst recht zu einer diffusen Gruppe. Eine konservative amerikanische Mutter hat möglicherweise andere Vorstellungen als ein Dissident in einer Diktatur, und der wiederum andere als ein Berufs-Spammer oder ein Auftrags-Hacker, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, in Systeme einzubrechen oder anderer Leute Passwörter zu erbeuten. In der weltweiten Internetnutzerschaft gibt es keinen Gesellschaftsvertrag. Es kann keinen geben.

Auch eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse ist kaum durchzuhalten. Je nach Lebens- und Nutzungssituation kann der Feind ein anderer sein: Während in manchen Ländern die Bürger dem Staat in digitalen Dingen weitgehend vertrauen – hier nennt Keen etwa Estland –, müssen sich andernorts Nutzer digital vor ihrer Regierung schützen, um zu überleben.

Wieder andere Nutzer fürchten nicht so sehr die umstrittenen Geschäftspraktiken des Silicon Valley, sondern Hackerattacken und Doxing, Identitätsdiebstahl oder andere Angriffe, die ihr Leben zerstören könnten. Oder sie haben Angst, ins Visier von Trollen zu geraten, die im Netz organisiert und anonym hetzen – und nicht etwa auf Facebook, sondern in Chatgruppen, auf Boards wie 4Chan und in den vielen anderen Ecken des Netzes, die das Buch schlicht ausspart.

Gerade diese vermeintlichen Nebenschauplätze gehören aber erst recht zu den Herausforderungen unserer digitalen Zukunft. In manchen Nischen wird sich erst radikalisiert und organisiert, bevor eine Welle überhaupt in die gängigen sozialen Medien schwappt und so sichtbar wird. Und auch die Hater und Trolle sind Menschen. Natürlich ist darüber zu diskutieren, wie Facebook oder Twitter mit Hass und Hetze umgehen und ihrer Verantwortung gerecht werden. Doch die wahren gesellschaftlichen Herausforderungen liegen womöglich ganz woanders.

In beiden Büchern geht es um Eliten, um Pioniere, Konzernbosse, Aktivisten und, ja, Waldorfschüler. Will man jedoch den Menschen wirklich in den Fokus stellen, muss man den Blick weiten. Denn streng von den Nutzern aus gedacht, besteht das Internet aus vielen verschiedenen Paralleluniversen. Und die gilt es im Blick zu behalten. Wenn Keen zum Schluss seines Buches schreibt, „dass eine schlüssige Karte der Zukunft ein schlüssiges Verständnis der Vergangenheit voraussetzt“, bleibt zu ergänzen: und ein schlüssiges Verständnis der digitalen Gegenwart.

Wenn wir geschichts- und gegenwartsbewusst die Zukunft gestalten wollen, reicht es nicht, bloß auf Fehlentwicklungen zu reagieren. Wir sollten nicht nur vor und zurück schauen, sondern auch nach rechts und links, in benachbarte Paralleluniversen und auf die immense Bandbreite von Nutzern und Nutzungen. Statt bestimmte Entwicklungen zu verteufeln, zu verbannen oder zu verbieten, sollte man sich bemühen, sie erst einmal in ihrer Gänze zu erfassen. Wenn wir uns damit auseinandersetzen, wie eine Technologie auch abseits vom Mainstream ge- oder missbraucht wird, wem sie dienen oder schaden kann, lässt sich vielleicht manches Missbrauchspotenzial vorhersehen, manche Machtkonzentration vermeiden und manche Idee wieder beerdigen.

Für den Anfang könnte es reichen, digitale Entwicklungen aus möglichst vielen Perspektiven zu betrachten und immer wieder die Fragen zu stellen: Wer wird das nutzen, wem wird es nutzen – und wer wird benutzt? Bei all diesen Betrachtungen soll der Mensch ruhig im Mittelpunkt stehen. Nur idealerweise jedes Mal ein anderer.
 

Martin Burckhardt: Eine kurze Geschichte der Digitalisierung. München: Penguin Verlag 2018, 256 Seiten, 20 €

Andrew Keen: How to fix the future. Fünf Reparaturvorschläge für eine menschlichere digitale Welt. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2018, 320 Seiten, 22 €
 

Judith Horchert ist seit 2012 Redakteurin bei Spiegel Online im Ressort Netzwelt, seit 2017 Leiterin des Ressorts.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2019, S. 136-139

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