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01. Nov. 2020

Liebesgrüße aus Brüssel

Wie die EU den Kampf der Narrative gewinnen kann – und warum strategische Kommunikation viel mit positiven Emotionen zu tun hat.

Ein fesselndes politisches Narrativ ist für das Überleben der Europäischen Union unabdingbar. Populisten sägen an den Grundpfeilern der liberalen Demokratie und stellen die Werte der europäischen Zusammenarbeit infrage. Ausländische Mächte verbreiten alternative politische Ideologien, versuchen die Mitgliedstaaten zu spalten und mischen sich aktiv in ihre innerstaatlichen Angelegenheiten ein. Um diesen Kräften zu widerstehen, braucht die EU eine starke und überzeugende Rhetorik, um zu zeigen, was ihr politisches und gesellschaftliches Modell ihren Bürgern zu bieten hat.



Die Konfrontation alternativer Ideologien spielt sich zunehmend auf der Ebene strategischer Kommunikation ab. Staaten und nichtstaatliche Akteure präsentieren „alternative Fakten“, um Verwirrung zu stiften, Angst zu erzeugen und den sozialen Zusammenhalt zu untergraben. Dem Hohen Beauftragten der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, zufolge befindet sich Europa in einem „Kampf der Narrative“, der eine künftige Welt(un)ordnung maßgeblich mitbestimmen wird.



Die Covid-19-Pandemie hat die Dringlichkeit in Europas Suche nach einem neuen Narrativ noch verstärkt. Die Pandemie verhärtet die Fronten zwischen den geopolitischen Polen und verschärft die soziale Ungleichheit. Sie untergräbt damit die Grundlage von Wohlstand und (sozialem) Frieden sowohl international als auch innerstaatlich. Zudem ist die Pandemie selbst zum Spielfeld im Kampf der Systeme und Narrative geworden. Sowohl China als auch Russland mischen sich verstärkt in Europa und dessen Nachbarschaft ein, um die Union als schwach und zu langsam im Eindämmen der Pandemie zu entlarven.



Die politische und wirtschaftliche Verunsicherung der Bevölkerung im Zuge von Covid-19 bietet einen Nährboden für Verschwörungstheorien und verstärkt ein bereits zuvor allgegenwärtiges Gefühl von Fragilität. Die Ereignisse des vergangenen Jahrzehnts haben den Glauben an die automatische Ausbreitung und notwendige Überlegenheit der liberalen Demokratie weltweit infrage gestellt. In rascher Folge haben die Finanzkrise, die politischen Kontroversen um Massenmigration und die Corona-Pandemie die Grundfesten der Menschen erschüttert: ihr Geld, ihre Identität – und jetzt ihr Leben. Ein neues Narrativ muss der Unsicherheit und dem Bedürfnis nach Gewissheit, das viele Europäer haben, Rechnung tragen.



Ein überzeugendes europäisches Narrativ muss nicht bei null beginnen. Trotz der düsteren Lage glaubt eine Mehrheit der Europäer daran, dass Zusammenarbeit auf EU-Ebene entscheidend ist, um die Krise zu überstehen. Viele der politischen Prioritäten der EU spiegeln die Prioritäten ihrer Bürger wider: Mit ihrem Green Deal hat sich die EU als Vorreiter in Sachen Klimaschutz positioniert, nach wie vor ein Hauptthema für die meisten Menschen. Die EU hat sich zudem für einen verpflichtenden Mindestlohn ausgesprochen, den laut einer Umfrage des Europe’s Stories Projekts der Oxford University 84 Prozent der EU-Bürger unterstützen.



Auf der internationalen Bühne hat die Europäische Union Russlands aggressives Verhalten in der Ukraine zurückgedrängt und eine kritischere Haltung gegenüber China eingenommen. Zudem hat Europa seine wirtschaftliche Macht und regulatorischen Fähigkeiten gezielt eingesetzt, etwa um den Handelskonflikt mit den USA zu entschärfen oder Tech- und andere Monopole einzudämmen. Und auch wenn die Union zu Beginn der Corona-Krise für ihre fehlende Solidarität und Koordination schlecht geredet wurde, haben die Mitgliedstaaten ihre Fähigkeiten zur Kurskorrektur unter Beweis gestellt und sich auf ein Konjunkturpaket von 750 Milliarden Euro geeinigt, um die wirtschaftlichen Folgen der Krise zu bekämpfen.



Die Europäische Union hat also bereits wichtige Bestandteile eines überzeugenden Narrativs. Statt sich darauf zu konzentrieren, ihr Modell auf der ganzen Welt zu verbreiten, wird sie sich allerdings in Zukunft darauf fokussieren müssen, die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte in einer immer gefährlicheren Welt zu verteidigen. Ein überzeugendes europäisches Selbstbild kann auf dem Bild einer Union aufbauen, die die Freiheit, Gesundheit und den Wohlstand ihrer Bürger schützt und gleichzeitig international ihr Gewicht dafür einsetzt, den Klimawandel und globale Gegenspieler zu bekämpfen. Die Probleme der EU, ihr Selbstbild intern sowie international effektiv zu projizieren, haben also weniger damit zu tun, welches Narrativ sie präsentiert, als vielmehr damit, wie sie es präsentiert.



Wie erzählt man Europas Geschichte?

Identitätspolitik und neue Technologien verstärken die Rolle der Emotionen für eine effektive politische Kommunikation. Populisten nutzen dies zu ihrem Vorteil. Sie sind geschickt darin, die Verunsicherung der Bevölkerung in Angst und Hass zu wenden. So ist es ihnen gelungen, den politischen Diskurs auch dort zu dominieren, wo sie nur geringe Wahlerfolge erzielen konnten.



Gleichzeitig hat die EU – sei es beim Thema Migration, beim Euro oder beim Brexit – kommunikativ den Schwerpunkt auf Rationalität und wirtschaftliche Vorteile gelegt; und dies, obwohl es hier um Themen geht, die auch Fragen nach der Identität einer Gemeinschaft tangieren und somit eine starke emotionale und affektive Dimension haben.



Diese vorwiegend rationale Art der Kommunikation steht einer tieferen Bindung der Union zu ihren Bürgern im Wege. Natürlich müssen gute Politik und Kommunikation auf Informationen basieren, die faktisch belegt und wissenschaftlich fundiert sind. Der Infokrieg, der immer mehr die öffentliche Debatte durchdringt und häufig auch in weiten Teilen vieler Medien individuellen Meinungen denselben Stellenwert wie wissenschaftliche Fakten zu geben scheint, macht es besonders wichtig, die Wahrheit in den Vordergrund zu stellen. Aber ein Narrativ, das auf Wissenschaft und auf Fakten fundiert, muss nicht allein auf Rationalität fokussieren. Ein überzeugendes politisches Narrativ vermittelt nicht allein die Fakten, sondern ein überzeugendes Argument, das sowohl den Verstand als auch die Emotionen anspricht.



Tatsächlich zeigt die Forschung seit Jahrzehnten, dass Entscheidungen nur begrenzt aus rationalen Gründen getroffen werden. Bereits 1975 ergab ein inzwischen berühmtes Experiment an der Stanford University, dass Menschen, die bereits feste Überzeugungen gebildet haben, erschreckend selten durch Fakten und wissenschaftliche Belege umzustimmen sind. In ihrem 2017 erschienenen Buch „Denying to the grave: why we ignore the facts that save us“ haben Sarah und Jack Gorman gezeigt, wie Menschen sich selbst dann weigern, Beweise zu akzeptieren, die ihren eigenen Ansichten widersprechen, wenn ihre eigene Gesundheit oder ihr Leben in Gefahr sind. Selbst die Fakten zeigen uns also, dass Fakten alleine nicht ausreichen, um ein überzeugendes Argument zu entwickeln.



Die Rede zur Lage der Union 2020 der EU-Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, ist ein gutes Beispiel. Sie hielt diese Rede zu einem entscheidenden Zeitpunkt, an dem das wirtschaftliche Erstarken Europas angesichts erneut ansteigender Covid-19-Fälle am seidenen Faden hängt und der transatlantische Partner, vermutlich auch langfristig und unabhängig vom Wahlausgang im November, in einem innenpolitischen Sumpf feststeckt. Wie vorherige Reden zur Lage der Union fand auch diese außerhalb eines Expertenpublikums nur wenig Resonanz, obwohl sie von einem grüneren, sozialeren Europa bis hin zu einer EU, die global für ihre Sache einsteht, die wichtigsten Prioritäten der EU-Bürger widerspiegelte. Was ihr fehlte, war eine persönliche Ebene. Das war eine vertane Chance für die Ärztin, Mutter und Bürgerin, ihrem Publikum einen Einblick in die Person hinter dem Präsidentinnenamt zu gewähren und damit die breitere Öffentlichkeit hinter sich zu bringen.



Mangelnder Mut zum Risiko

Viele EU-Politiker halten sich mit persönlichen und emotionalen Reden eher zurück und berufen sich auf die „harten Fakten“. Das kann kaum überraschen, da sie nicht nur von Euroskeptikern angegriffen werden, sondern auch von nationalen Politikern, die erpicht darauf sind, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen und unpopuläre Entscheidungen sowie politische Misserfolge der Union in die Schuhe zu schieben. Dabei ist es gerade dieses Zögern, Risiken einzugehen und sich angreifbar zu machen, das Europa im Kampf der Narrative nachhaltig schwächt.



Der Notwendigkeit, direkter und emotionaler zu kommunizieren, wird auch in EU-Kreisen Rechnung getragen: etwa von viralen Videokampagnen, wie dem Werbespot zur Europawahl 2019, der den Weg eines Babys ins Leben zeigt, bis zur Arbeit des Europäischen Auswärtigen Dienstes, der sich inzwischen neben der Entkräftung von Desinformationen auch darauf fokussiert, positive Narrative zu generieren – diese sollen zeigen, wie die Europäische Union ihre Nachbarn unterstützt. Einige Kampagnen arbeiten mit prominenten Figuren aus Kultur, Sport und Unterhaltung, die auch außerhalb der EU-Blase eine große Anhängerschaft haben. Leider bleiben solche Innovationen jedoch vereinzelt. Nach wie vor werden viele gute Ideen von der Risikoscheu der Institutionen überschattet.



Zu häufig bleibt Kommunikation eine Nebensache, statt zu einer zentralen Säule des politischen Prozesses zu werden. Ein überzeugendes politisches Narrativ sollte aber die öffentliche Meinung nicht nur adäquat widerspiegeln, um politische Entscheidungen gut zu „verkaufen“. Ein solches Narrativ ist auch wichtig, um die nötige öffentliche Unterstützung für weitreichende wirtschaftliche und soziale Veränderungen aufzubauen. Nur so können sich die Europäer den Herausforderungen einer sich rapide wandelnden Weltordnung stellen.



Zudem zeigt die Covid-19-Pandemie, mehr noch als vorherige Krisen, dass Populisten das Gefühl von Unsicherheit in unserer Gesellschaft zwar geschickt für ihre Botschaft ausnutzen, sie aber nur selten konkrete Lösungsvorschläge für die zentralen politischen Probleme unserer Ära anbieten können. Länder, die die Gefahr des Virus geleugnet und effektive Maßnahmen verzögert haben, um „stark“ zu erscheinen (Brasilien oder die USA), gelingt es viel schlechter, die Ausbreitung einzudämmen als jenen Staaten, die sich mit Empathie und Ehrlichkeit an ihre Bevölkerung gewandt haben (Neuseeland, Deutschland, Südkorea oder Taiwan). Erfolgreiche politische Führung beruht also darauf, effektive Politik mit einem authentischen und mitfühlenden Narrativ zu verbinden.



Die EU hat ein emotionales Defizit

So verunsichernd die aktuelle innenpolitische und geopolitische Lage auch ist, sie bietet eine Möglichkeit für die Europäische Union, ein innovatives, bürgernahes und zukunftsorientiertes Selbstbild zu projizieren. Im Kampf der Narrative kann die EU es sich nicht leisten, zögerlich oder konfus zu erscheinen. Ob die Solidarität mit der Bewegung „Black Lives Matter“ und eine neue Bereitschaft, Rassismus und Diskriminierung auch in Europa zu adressieren, die Verpflichtung zum Kampf gegen den Klimawandel, eine weitverbreitete Zustimmung zum Mindestlohn oder gar zu einem bedingungslosen Grundeinkommen: All dies zeigt, dass die öffentliche Stimmung nicht nur von Angst und Hass dominiert wird. Es gibt genauso den Wunsch nach Gerechtigkeit, Solidarität und Vertrauen.



Diesem Verlangen und dem Wunsch der Menschen nach Rückversicherung Rechnung zu tragen, kann keine Nebensache bleiben. Es ist eine geopolitische Notwendigkeit. Die Ereignisse der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass ausländische Akteure nur zu gerne das emotionale Defizit und die Entfremdung vieler Bürger von der EU ausnutzen, um den demokratischen Prozess zu unterminieren. Sich dem Groll vieler Menschen zu stellen, kann dabei helfen, sie unempfindlicher gegenüber Hassrede zu machen und das Vertrauen in Politiker und ihre Institutionen zu stärken.



Während die Welt mit Unverständnis (und manche mit Schadenfreude) auf den Verfall der öffentlichen Debatte in den USA blicken, ist es umso wichtiger für die EU, eine inklusive Debatte um die Zukunft unserer Gesellschaft und des Planeten zu führen. Dies sollte die Union dazu ermutigen, ihr Selbstbild kraftvoller und leidenschaftlicher darzustellen.



Wie ein bekanntes Zitat sagt, ist das Private, das Persönliche, immer auch politisch; deshalb muss das Politische auch persönlicher werden, wenn sich Europa im Kampf der Narrative behaupten will.

 

Dr. Julia De Clerck-Sachsse leitet an der Universität Oxford ein Forschungsprojekt zur Rolle der Emotionen für die europäische Außenpolitik.



Aus dem Englischen von Melina Lorenz

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2020, S. 31-35

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