Leitfaden für den Leser
Vorwort zur ersten Ausgabe des Europa-Archiv 1946
Von Wilhelm Cornides
„Man feiere nur, was glücklich vollendet ist. Alle Zeremonien zum Anfange erschöpfen Lust und Kräfte, die das Streben hervorbringen und uns bei einer fortgesetzten Mühe beistehen sollen." Diese Weisung Goethes ist nirgends mehr am Platze als in der Einleitung einer neuen Zeitschrift. Auch der Leser wird es in diesen Tagen, da die Zeremonie der Zeitschriften-Eröffnung so vielseitig durchexerziert und abgewandelt wird, begrüßen, wenn er ohne Umschweife mit dem Zweck der vorliegenden Veröffentlichung vertraut gemacht wird und sich selbst sein Urteil über ihre Verwendbarkeit bilden kann.
Was will das Europa-Archiv?
Es will die in der In- und Auslandspresse, in Zeitschriften und Buchveröffentlichungen verstreuten Daten und Berichte zu den wesentlichen Zeitfragen in Politik, Wirtschaft und Kultur sammeln, sichten und in einer Form festhalten, die eine schnelle Übersicht und ein zuverlässiges Nachschlagen ermöglicht. Es wird als Zeitschrift erscheinen und in jeder Lieferung ein in sich abgeschlossenes Ganzes darstellen. Gleichzeitig ist aber die Jahreslieferung so geplant, dass bei einem späteren Auseinandernehmen der einzelnen Hefte durch Einordnung der Blätter nach Sachgebieten eine fortlaufende Berichterstattung zu diesen Sachgebieten aufgebaut wird. Wenn also zum Beispiel in dieser ersten Lieferung unter dem Sachgebiet „Probleme der europäischen Friedensordnung" über das Ruhrproblem und über Südtirol berichtet wird, so sollen in späteren Folgen die anderen schwebenden Fragen der europäischen Friedensordnung in gleicher Weise behandelt und durch zusammenfassende Darstellungen über den Gang der Verhandlungen ergänzt werden, sodass am Ende des Jahres, wenn alle Beiträge zusammen abgeheftet werden, ein geschlossenes Bild der Problematik der europäischen Friedensordnung in diesem Jahre geboten wird. Dieser Gesamtplan wird so beweglich gehalten, dass die einzelnen Lieferungen oder Ausschnitte ohne weiteres auch in schon bestehende Archive eingebaut werden können. Zu diesem Zwecke werden außerdem besondere Archiv-Drucke hergestellt, die den gleichen Text auf einseitig bedruckten Blättern bringen und gesondert bezogen werden können. So soll das Europa-Archiv innerhalb der durch die technischen Schwierigkeiten der Zeitlage gesetzten Grenzen sozusagen eine Miniatur-Enzyklopädie für die wesentlichen Tagesfragen in Politik, Wirtschaft und Kultur werden.
Als „Archiv für Zeitgeschichte" will das Europa-Archiv damit die Zeitspanne überbrücken helfen, in welcher die wichtigsten Ereignisse auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet in den historischen Darstellungen noch nicht berücksichtigt und in den allgemeinen Archiven zugänglich gemacht werden. Dabei sollen vor allem die Wissenslücken geschlossen werden, die durch die Zensur und den geistigen Terror des Nationalsozialismus entstanden sind.
Als „Archiv für Zeitkritik" will das Europa-Archiv die gegensätzlichen Standpunkte in Gegenwartsfragen von größerer Bedeutung sachlich einander gegenüberstellen, um zur Klärung und zum Verständnis dieser Fragen auf einer möglichst breiten Basis beizutragen.
Was bringt das Europa-Archiv?
In Weiterbildung der bisher üblichen Archiv-Veröffentlichungen beschränkt sich das Europa-Archiv nicht auf den chronologischen Abriss der Tagesereignisse, sondern bringt Übersichten über die Entwicklung und den Stand wesentlicher Gebiete des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens der europäischen Länder und der Weltmächte, soweit sie für die europäischen Verhältnisse von Bedeutung sind. Zu besonders aktuellen Fragen wird das Europa-Archiv außerdem eingehende Materialsammlungen (internationale Presseschauen, Dokumente, Bibliographien, Karten, grafische Darstellungen und Statistiken) bringen.
Besondere Aufmerksamkeit sollen alle Berichte und statistischen Angaben finden, die sich auf Fortschritte des wirtschaftlichen und administrativen Aufbaues in Europa beziehen. Bevorzugt sollen auch die Nachrichten von der Tätigkeit übernationaler Organisationen und wissenschaftlicher Institute behandelt werden, die sich die Wiederherstellung einer internationalen Zusammenarbeit zur Aufgabe machen. Berichte über die Entwicklung des kulturellen Lebens der europäischen Länder, über einzelne Sachgebiete und Persönlichkeiten von Bedeutung sollen zum Verständnis und damit zur Verständigung beitragen, kurze und charakteristische Kulturnachrichten die Orientierung erleichtern. Ist auf kulturellem Gebiet eine lückenlose Chronik auch heute noch nicht zu verwirklichen, so kann doch das vorhandene Wissen um das Notwendigste und Wesentliche ergänzt werden.
Durch Quellennachweise und kurze historische Beiträge soll der Zugang zu der Fachliteratur erleichtert werden. Dabei wird angestrebt, das Material, das durch Zensurmaßnahmen der vergangenen Jahre vorenthalten, verboten oder ganz vernichtet wurde, heute aber dringend benötigt wird und im Originaltext nicht zu beschaffen ist, zunächst einmal behelfsmäßig durch schlagwortartige Übersichten zu ersetzen, bis es möglich sein wird, in breiterem Rahmen darauf zurückzukommen.
Das Europa-Archiv beschränkt sich ausschließlich auf eine Aufgabe, die von den meisten anderen Zeitschriften zwar auch, aber doch nur am Rande betrieben wird: Es will Arbeitsmaterial in möglichst übersichtlicher und abgeschlossener Form bringen, das der Leser nach eigenem Bedarf und Gutdünken verwenden soll. Man ist heute überall noch dabei, die Ernte der Verwüstungen einzubringen und zu prüfen, was davon zu neuer Aussaat geeignet ist. Dazu wird es notwendig, eine Technik des geistigen Sammelns und Sichtens zu entwickeln, die sich der Technik des Zerstörens und Zerstreuens nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen zeigt. Große Abschnitte an dem Mosaikbild einer neuen Welt können und müssen vereinfacht und ihre Ergebnisse rasch allgemein zugänglich gemacht werden.
Wie man für die Felder moderner Farmen Erntemaschinen erfunden hat, die das Schneiden, Garbenbinden und Dreschen in Einem besorgen, so müssen auch für die weiten Felder, die unserer Zeit zur geistigen Ernte und Verarbeitung gereift sind, Arbeitshilfen – ,,Erntemaschinen" – gefunden werden, nicht etwa, um das Denken zu mechanisieren, sondern um es von Kleinarbeit zu entlasten und für die großen Auf gaben freizuhalten. Als solche publizistische „Erntehilfe" ist das Europa-Archiv gedacht.
Zur Systematik dieser Arbeit sei noch kurz folgendes bemerkt: Ein Ereignis, das zeitgeschichtlich einwandfrei feststeht, wie zum Beispiel das Potsdamer Abkommen, kann historisch, rechtsphilosophisch, nationalökonomisch oder politisch gesehen, zu sehr verschiedenen Meinungen Anlass geben, die selbst wieder in Form von Pressestimmen, Reden oder Buchveröffentlichungen Tatbestände der Zeitgeschichte bilden. Aufgabe des Archivs ist nicht die Stellungnahme im Meinungsstreit, sondern das Festhalten der einzelnen Meinungen. Die Kritik des Archivs hat sich nicht gegen die Meinungen als solche zu richten, sondern ihre Glaubhaftigkeit, ihr Gewicht und ihre Verbreitung zu untersuchen. Daraus ergibt sich der Wert, aber auch die Beschränkung der Archivarbeit und der Platz, der einer Archiv-Veröffentlichung unter den publizistischen Neuerscheinungen zukommt. Sie ist keine Lektüre für Schüler, sondern Arbeitsmaterial für Lehrer, kein Arsenal für missvergnügte Querulanten (wenn auch ein gelegentlicher Missbrauch von dieser Seite nicht zu verhindern sein wird), sondern eine Informationsquelle für jeden, auch für den Mann auf der Straße, der sich sachlich mit den Zeitproblemen auseinandersetzt und die Geduld und den guten Willen mitbringt, die notwendig sind, wenn eine so verworrene Welt wieder ins Gleichgewicht kommen, wenn europäisches Denken die Wirklichkeit bestimmen soll.
Eine alte chinesische Geschichte erzählt von einem Bauern, der niedergeschlagen nach einem Gang durch die Felder nach Hause zurückkehrt. „Das Korn will nicht wachsen", sagte er zu seinem Sohn. „Ich fürchte, es wird eine Hungersnot geben." Am nächsten Tage ging der junge Bauer früh aus dem Hause und kehrte erst spät abends sehr müde zurück. „Was treibst du denn die ganze Zeit?", fragte der Alte. „Ich habe dem Korn wachsen helfen", meinte der Junge, „an jedem Halme habe ich ein wenig gezogen, damit es ihm leichter werde, aus der Erde herauszukommen." Als am nächsten Morgen die beiden auf das Feld gingen, um sich das Ergebnis dieser Bemühungen anzusehen, da lagen auch alle Halme, die der junge Bauer bei dem Versuch „aus der Erde zu helfen" nicht schon gleich niedergetreten hatte, welk am Boden – geknickt oder entwurzelt durch den Versuch ihr Wachstum künstlich zu beschleunigen. Es ist nicht unsere Aufgabe, gewaltsam dem Korn wachsen zu helfen, sondern zu berichten, wie die Saaten stehen.