Brief aus...

29. Mai 2023

Kurs auf Europa

Viele Moldauer leben bereits in der EU, nun muss die Regierung ­Reformen durch­führen, um den Beitrittsprozess zu ermöglichen.

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Bild: Zeichnung der Zirkushalle in Chisinau
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Die europäische Integration ist der einzige Weg, der das Überleben Moldaus als freies und prosperierendes Land gewährleistet, sie ist die einzige Chance der Moldauer, in Freiheit, Frieden und Wohlstand zu leben.“

Es sind schicksalsschwere Worte von Moldaus Staatspräsidentin Maia Sandu, die nach einem Treffen mit EU-Ratspräsident Charles Michel Ende März in Chisinău wie ein Weckruf klingen, der nicht nur auf die prekäre Sicherheitslage ihres Landes hinweist, das durch Russland meistgefährdete nach der Ukraine. Sie richtet diesen Appell auch an die eigene Regierung und Bevölkerung, einen historischen Moment so zügig wie möglich zu nutzen.

Denn der kleine, zwischen der Ukraine und Rumänien eingezwängte Staat verfügt seit zwei Jahren über eine solide proeuropäische und reformwillige Mehrheit im Parlament und daher über eine einzigartige Chance. Aber sie ist zeitlich begrenzt, weil der Präsidentin und ihrer Partei der Aktion und Solidarität (PAS) bis 2025 Kommunal-, Präsidentschafts- und Parlamentswahlen bevorstehen. Dreimal müssen sie sich den Wählern stellen, die von horrenden Energiepreisen gebeutelt und über unerschwingliche Lebenshaltungs­kosten aufgebracht sind.

Zusätzlich sind die Menschen pausenlosen Desinformationskampagnen des Kremls über den Ausverkauf ihres Landes an „den Westen“ ausgesetzt: Ein geflüchteter Oli­garch gibt über Videobotschaften zu, deswegen seit Monaten anhaltende Demonstrationen zu finanzieren, und fordert die Einrichtung spontaner „Volksgerichte“, die mit Maia Sandu und ihrer Regierung kurzen Prozess machen sollten. ­Umfragen deuten auf einen möglichen Stimmungswandel in der Bevölkerung, der den russlandnahen Oppositionsparteien der Sozialisten und Kommunisten oder der offensichtlich vom Kreml gelenkten Şor-Partei zu Wahlerfolgen verhelfen und so den europäischen Kurs des Landes jäh beenden könnte.

Große Teile der proeuropäischen Bevölkerung Moldaus fühlen sich seit drei Jahrzehnten auch aus einem weiteren Grund bedroht: durch die widerrechtliche Stationierung von rund 1500 russischen Soldaten auf ihrem Staatsgebiet, in der sezessionistischen Provinz ­Transnistrien. Etwa 800 000 Moldauer sind als Arbeitsmigranten in die Europäische Union gezogen. Und ein Rückgang des Exodus ist nicht absehbar – 45 000 Menschen im arbeitsfähigen Alter verlassen weiterhin alljährlich die Republik, deren Einwohnerzahl seit 1991 von etwa vier auf 2,5 Millionen geschrumpft ist.

Um unter den angestrebten Bedingungen der Freiheit und Demokratie zu „überleben“, tut Eile not. Die Reformer in Chisinău verabschieden Schlag auf Schlag Gesetze, die Moldau endgültig von Moskau abnabeln und Verträge im Rahmen der von Russland dominierten Bündnisse wie GUS oder EAWU kündigen.

 

Einheit von Sprache und Kultur

Eine besonders deutliche ­Abschiedsgeste an den Kreml ist die Legalisierung des Rumänischen als offizielle Landessprache. Dies steht im Einklang nicht nur mit der linguistischen Realität, sondern mit der Unabhängigkeitserklärung des Landes von 1991 und einer entsprechenden, schon 2013 getroffenen Entscheidung des Verfassungsgerichts. Der Kreml und seine drei moldauischen Gefolgsparteien protestierten vehement, weil die Anerkennung des Rumänischen als Landessprache für Moskau und seine Vasallen vor Ort als Niederlage in einem von Westeuropa schwer nachvollziehbaren Identitätskonflikt gilt. Sie markiert eine kaum rückgängig zu machende Anerkennung der „Einheit von Sprache, Kultur und Geschichte der Bevölkerung Moldaus und Rumäniens“. Mit dieser Wortfügung betont man in beiden Ländern die kulturelle Identität und Zugehörigkeit zur romanischen Sprachfamilie und zu Europa. 53 Prozent der moldauischen Bevölkerung unterstützen zurzeit den EU-Beitritt, 35 Prozent wünschen sich sogar eine Wiedervereinigung ihres Landes mit Rumänien, während rund eine Million Moldauer die doppelte, moldauisch-rumänische Staatsbürgerschaft besitzen, somit bereits auch vollberechtigte EU-Bürger sind.

Seit Moldau den EU-Kandidatenstatus hat, arbeiten Regierungen und Parlamente beider Länder unverhüllt zusammen an den Beitrittsvorbereitungen; es gibt inzwischen sogar einen moldauisch-rumänischen Parlamentarischen Ausschuss für die Europäische Integration. Und bevor EU-Rats­präsident Michel Chisinău besuchte, traf er sich mit dem rumänischen Präsidenten Klaus Iohannis in Bukarest. Der Beitrittsprozess wird offensichtlich in beiden Hauptstädten als Priorität gleichen Ranges angesehen.

Entscheidend für Präsidentin Sandu und die PAS-Regierung bleibt jedoch die Umsetzung der von Brüssel vorgegebenen Reformagenda; davon hängt der ersehnte Beginn der Beitrittsverhandlungen ab. Wie schwer das aber ist, zeigt sich an der Justizreform, der Grundvoraussetzung für acht weitere erforderliche Reformkapitel. Die Generalversammlung sämtlicher Richter der Republik rebellierte nämlich in corpore und verhinderte vorläufig die Neubesetzung des Hohen Justizrats und damit den Beginn der Abschaffung von Korruption im Justizsystem.

Dies ist nicht der einzige Widerstand eines korrupten Systems, den Maia Sandu und ihre Reformer überwinden müssen. Man darf gespannt sein, wie es weitergeht – denn auf der bis zum Herbst umzusetzenden Reformagenda stehen nicht zuletzt auch noch so brisante Kapitel wie „Ent­oligarchisierung“ sowie die Bekämpfung von organisiertem Verbrechen und Geldwäsche.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2023, S. 114-115

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Herbert Gruenwald ist freier Journalist, lebt in Bukarest und arbeitet als Producer für deutschsprachige Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

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