Gegen den Strich

29. Aug. 2022

Kriegsverbrechen

Ist Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine ein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag? Diese Frage stellen sich angesichts von Gräueltaten wie in Butscha viele Beobachter. Doch das Völkerrecht hat seine Grenzen, und viele mögliche Straftatbestände sind schwieriger zu bewerten als oft gedacht. Ein Versuch in fünf Thesen, aus juristischer Sicht Licht ins Dunkel zu bringen.

Bild
Bild: Denis Puschilin (li.) und Leonid Pasechnik, die "Vertreter der Republiken Donezk und Luhansk"
Selbsternannte Staatschefs: Zur Rechtfertigung seines Überfalls auf die Ukraine beruft sich Wladimir Putin auf eine angebliche kollektive Selbstverteidigung der „Republiken Donezk und Luhansk“, vertreten durch Denis Puschilin (li.) und Leonid Pasechnik.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

„Russlands Krieg gegen die Ukraine ist ein Kriegsverbrechen“

Das stimmt so nicht. Kriegsverbrechen werden in einem Krieg begangen. Ein Krieg selbst kann zwar rechtswidrig sein, ist aber als solcher niemals ein „Verbrechen“. Der Satz vermischt aus juristischer Sicht die Makro- und Mikroebene, oder, anders formuliert: staatliche Rechtsverletzungen auf der Makroebene und individuelle Verantwortlichkeit auf der Mikroebene.



Für Staaten gilt das Gewaltverbot der UN-Charta, das es Russland verbietet, in seinen zwischenstaatlichen Beziehungen Gewalt anzuwenden. Damit sind schon wenig intensive Gewaltformen erfasst, erst recht eine „militärische Spezialoperation“ von dem Ausmaß, wie sie die russischen Streitkräfte seit Februar 2022 durchführen. Verstößt ein Staat dagegen, handelt es sich in völkerrechtlicher Terminologie erst einmal um einen Verstoß gegen das Gewaltverbot. Dieser kann, muss aber nicht in einen Krieg münden. Der Krieg, oder wie es in moderner völkerrechtlicher Diktion heißt, der international bewaffnete Konflikt, ist eine intensivere Form der Gewaltanwendung als der reine Verstoß gegen das Gewaltverbot.

Ein staatlicher Verstoß gegen das Völkerrecht ist aber niemals ein „Verbrechen“ – dieser völkerrechtliche Begriff ist wie im deutschen Recht für die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit reserviert. Im Völkerstrafrecht gibt es vier sogenannte Kernstraftatbestände: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Letzteres sanktioniert die Person(en), die besonders schwerwiegende und offensichtliche Verstöße gegen das Gewaltverbot zu verantworten haben.



Dieser Tatbestand ist gemeint, wenn, wie im Eingangssatz behauptet, die Rechtmäßigkeit des bewaffneten Konflikts als solches beurteilt wird. Kriegsverbrechen sind dagegen einzelne Militäroperationen innerhalb eines bewaffneten Konflikts, die rechtswidrig sind und besonders schwer wiegen.



Kriegsverbrechen meinen per Definition einzelne Handlungen und niemals den Konflikt als solchen. Verkompliziert wird es dadurch, dass neben der individuellen Verantwortlichkeit für einzelne Kriegsverbrechen auch eine Zurechnung zum Staat stattfinden kann, der dann für diese Handlungen verantwortlich gemacht wird – nicht als Kriegsverbrechen, sondern als Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht.



„Putin begeht ein Aggressionsverbrechen“

Das schon eher. Das Aggressionsverbrechen ist die individuelle Seite des staatlichen Verstoßes gegen das Gewaltverbot. Es soll die Individuen, die Machtpositionen im Staat ausüben, strafrechtlich verantwortlich machen, wenn sie den Staat zum Verstoß gegen das Gewaltverbot führen. Das Internationale Militärtribunal in Nürnberg hat bereits 1946 festgestellt, dass „Verbrechen gegen das Völkerrecht (…) von Menschen und nicht von abstrakten Wesen begangen (werden), und nur durch Bestrafung jener Einzelpersonen, die solche Verbrechen begehen, kann den Bestimmungen des Völkerrechts Geltung verschafft werden“.



Dennoch sollte es bis 2010 dauern, dass sich ein Großteil der Staaten auf einen konkreten Straftatbestand des Aggressionsverbrechens einigen konnte. Dieses Verbrechen kann vom Internationalen Strafgerichtshof in einem komplexen Verfahren zum Gegenstand eines Strafprozesses gemacht werden.



Das Verbrechen selbst stellt „die Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung“ unter Strafe, „die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt“, und zwar „durch eine Person, die tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken“. Letzteres dürfte in Bezug auf den russischen Staatspräsidenten außer Frage stehen.



Als „Angriffshandlung“ wird jede Anwendung von Waffengewalt definiert, die sich gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates richtet oder sonstwie mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar ist. Auch dieses Kriterium erfüllt der Einsatz russischer Streitkräfte seit Februar 2022, gerade weil als Regelbeispiele dafür die Invasion des Hoheitsgebiets eines Staates oder der Angriff auf dessen Territorium sowie die Annexion von Hoheitsgebiet ausdrücklich aufgezählt werden.



Besondere Schwierigkeiten bereitet in den meisten anderen Fällen die Frage, wann eine Angriffshandlung nach Art, Schwere und Umfang eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt. Die Vertragsstaaten haben in ihrer Auslegungserklärung dargelegt, dass die drei Elemente („character, gravity and scale“) kumulativ vorliegen müssen. Mit der Mindestschwere werden kleinere Verstöße gegen das Gewaltverbot wie Grenzzwischenfälle aus dem Tatbestand herausgenommen.



Rechtlich umstrittene Phänomene wie die humanitäre Intervention sind unabhängig von ihrer Rechtmäßigkeit am Maßstab des Friedensvölkerrechts und insbesondere des Artikels 2 Nummer 4 der UN-Charta keine „offenkundigen“ Verletzungen der UN-Charta und damit nicht strafbar. Darüber hinaus sind rechtmäßige Verstöße gegen das Gewaltverbot nicht strafbar: ­Militärische Maßnahmen mit Autorisierung des UN-Sicherheitsrats sowie Selbstverteidigungshandlungen sind keine „offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen“ („manifest violation“), sondern stehen mit der Charta in Übereinstimmung (Artikel 42 und Artikel 51 der UN-Charta).



Der Überfall auf die Ukraine im Frühjahr 2022 kann damit als eines der ganz wenigen Beispiele angesehen werden, das alle drei Kriterien für ein Aggressionsverbrechen erfüllt. Die offizielle Begründung der Militäropera­tion durch den russischen Präsidenten verweist auf Artikel 51 der UN-Charta, der kollektive Selbstverteidigung zu Gunsten von UN-Mitgliedstaaten zulässt. Wladimir Putin beruft sich explizit auf diese Vorschrift und die kollektive Selbstverteidigung der „Republiken Luhansk und Donezk“; diese sind allerdings nach ganz weit verbreiteter Staatenpraxis keine Staaten und erst recht keine UN-Mitgliedstaaten. Anders formuliert: Putins Argumentation ist schon auf den ersten Blick unvertretbar und reinste Augenwischerei.



Abgesehen davon, dass Russland die entsprechende Modifikation des Vertragsrechts nicht ratifiziert hat, deutet alles auf eine Strafbarkeit Putins hin. So werten es einige namhafte Völkerrechtler und Völkerrechtlerinnen. Allerdings scheitert die Einordnung als Aggressionsverbrechen schon an anderen Voraussetzungen.



Es sei daran erinnert, dass der Straftatbestand des Aggressionsverbrechens der Sicherung des Gewaltverbots dient. Andersherum: Durch diesen Straftatbestand sollen Personen, die einen Staat zum Verstoß gegen das Gewaltverbot bringen können, weil sie etwa politische oder militärische Macht besitzen, davon abgehalten werden, so zu handeln. Ihnen wird per Strafe verboten, Gewaltverbotsverstöße zu begehen. Damit sichert das Aggressionsverbrechen den Frieden.



Zwischen Russland und der Ukraine herrscht aber seit 2014 ein bewaffneter Konflikt. Die Besatzung der Krim und deren nachfolgende Annexion ist nach dem gemeinsamen Artikel 2 der Genfer Konventionen als Zustand des bewaffneten Konflikts bestimmt. Damit befinden sich die Ukraine und Russland seit 2014 ohne Unterbrechung im juristischen Kriegszustand.



Da das Gewaltverbot verletzt wurde, der Frieden längst gebrochen ist, lässt er sich nicht noch mehr brechen. Juristisch gesehen liegt der Verstoß gegen das Gewaltverbot schon vor. ­Putin-freundlich könnte man also argumentieren, dass man einen laufenden Krieg nicht mittendrin neu starten kann – eine Strafbarkeit Putins wegen des Angriffskriegs scheidet aus, weil der rechtswidrige Krieg schon seit 2014 läuft und nicht erst 2022 angefangen hat.



„Die Ukraine verteidigt sich nur selbst, und damit sind alle Mittel recht“

Der erste Teil des Satzes trifft zu, der zweite ist völkerrechtlicher Unsinn und gefährlich. Anders gewendet bedeutet die These, dass russische Streitkräfte nie rechtmäßig handeln und ukrainische Soldaten nie Kriegsverbrechen begehen könnten.

Das Völkerrecht sieht eindeutig vor, dass Staaten keine Gewalt anwenden und keinen bewaffneten Konflikt beziehungsweise „Krieg“ beginnen dürfen. Auf der anderen Seite stehen die Regeln des humanitären Völkerrechts, die gerade für diese ungewünschte – und mehr oder weniger stets rechtswidrige – Situation gelten.



Die Genfer Abkommen und andere Bestimmungen des humanitären Völkerrechts regeln Fälle, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Das rührt daher, dass die Staaten sich der menschlichen Geschichte bewusst sind und wissen, dass es trotz des Verbots zu Kriegen kommen kann. Um einen Rest von Menschlichkeit zu bewahren und die Rückkehr zu friedlichen zwischenstaatlichen Beziehungen zu ermöglichen, wird nun ein Grundstandard vereinbart, der gerade in Kriegszeiten gilt. Den totalen Krieg gibt es nicht.



Es ist aber entscheidend, im Konflikt die Frage der „Kriegsschuld“ außen vor zu lassen. Einzelne Militäroperationen in einem Konflikt sind unabhängig vom Friedensvölkerrecht zu beurteilen. Ganz vereinfacht lässt sich sagen, dass im Konflikt feindliche Soldaten immer und Zivilpersonen nie angegriffen werden dürfen.



Würde man die Frage stellen, wer „schuld“ ist, könnte das rechtlich nur einer Personengruppe zum Nachteil gereichen: den Zivilpersonen des angreifenden Staates. Nur hier könnte man nachteilige Rechtsänderungen herbeiargumentieren. Juristisch gewonnen wäre für einzelne ­Militäroperationen nichts.



„Selbst ohne Verurteilung haben Kriegsverbrecherprozesse eine wichtige symbolische Bedeutung“

Ja, das haben sie. Es ist noch nicht so lange her, dass es kaum Straftaten auf völkerrechtlicher Ebene gab. Kriegsverbrechen im innerstaatlichen bewaffneten Konflikt existieren seit etwa 30 Jahren. Das Aggressionsverbrechen wurde 2010 geschaffen; es dauerte allerdings bis zum Sommer 2018, dass die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs darüber aktiviert wurde. In Deutschland wurde das Führen eines Angriffskriegs 2017 unter Strafe gestellt. Andere Handlungen wie Völkermord, Kriegsverbrechen oder das Aufstacheln zum Angriffskrieg waren schon länger auch in Deutschland strafbewehrt. Funktionierendes Völkerstrafrecht ist in dieser Hinsicht ein vergleichsweise junges Phänomen, das mit entsprechenden Startschwierigkeiten konfrontiert ist.



Antonio Cassese, ein bedeutender italienischer Völkerstrafrechtler, sprach hier von „teething problems“, vergleichbar dem Zahnen von Babys und Kleinkindern. Genauso wie man einem Baby das Schreien bei den ersten Zähnchen nicht übel nehmen kann, sollte man etwas Geduld mit der internationalen Strafgerichtsbarkeit haben.



Zwar ist das Gericht 20 Jahre alt, die Verbrechen sind es aber nicht. Bis vor einigen Jahren war es auch schlicht undenkbar, Handlungen des amerikanischen oder des russischen Präsidenten in einem internationalen Strafverfahren untersuchen zu lassen. Aber: Die Mühlen der Justiz mahlen eben langsam.



Auch wenn es niemals zu einem Prozess mit dem Angeklagten Putin in Den Haag kommen sollte, sind allein die Ermittlungen ein großer Schritt.

Außerdem würden von einem Verfahren weitere Wirkungen ausgehen. In der Vergangenheit haben Personen, gegen die Den Haag ermittelt hat, Länder überstürzt aus Angst vor Festnahme verlassen oder gar nicht erst bereist. Donald Rumsfeld, als US-Verteidigungsminister während des Irak-Krieges 2003 umstritten, hat Deutschland aufgrund laufender Ermittlungen gegen ihn nicht besucht. Symbolisch ist es nicht zu unterschätzen, wenn ein im eigenen Land als unantastbar geltender Autokrat im Ausland als Paria und als mutmaßlicher Verbrecher behandelt wird.



Der Internationale Strafgerichtshof hat 123 Mitgliedstaaten, die alle zur Kooperation verpflichtet wären und den russischen Präsidenten festnehmen müssten. Allein dieses Bedrohungsszenario ist ein bedeutender Erfolg; vermeintliche Verbrecher können sich nie sicher sein, unbehelligt zu bleiben.

Das Argument, dass Strafandrohungen die Verhandlungsbereitschaft der Kriegführenden schmälern und schlussendlich dem Frieden schaden würden, ist zynisch gegenüber den Opfern. Dieses Argument verkennt, dass man es nicht mit „normalen“ Kriegführenden zu tun hat, sondern mit verbrecherischen Kriegführenden, die in einem Rechtsstaat für ihr Verhalten mit Konsequenzen zu rechnen haben.



„Beim Thema Kriegsverbrechen misst der Westen mit zweierlei Maß“

Das kann man nicht sagen. Dem Internationalen Strafgerichtshof wird oft vorgeworfen, sich nur mit afrikanischen Staaten zu beschäftigen und westliche Mächte außen vor zu lassen. Ein Blick auf die derzeitigen Ermittlungen scheint das Bild zu bestätigen: Von den derzeit 17 Fällen, in denen ermittelt wird, betreffen zehn afrikanische Staaten. Theoretisch erfasst sind auch Handlungen westlicher Länder in diesen Staatsgebieten, was insbesondere für den Konflikt in Libyen seit 2011 gilt. Die Ermittlungen in Afghanistan betreffen vor allem Handlungen westlicher Staaten, etwa des Vereinigten Königreichs oder der USA. Der komplizierte Konflikt in Israel/Palästina ist ein weiteres Beispiel. Zudem laufen Ermittlungen in Georgien und eben der Ukraine.



Auch der Blick auf den histo­rischen Hintergrund lässt an der These einer westlichen Ein­seitigkeit zweifeln. Das Völ­kerstrafrecht findet seinen Ausgangspunkt in Nürnberg und, mit einigen Abstrichen, in Tokio. Wiedergeboren wurde es nach jahrzehntelangem Dornröschenschlaf 1993 mit dem Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien. Dem folgte 1994 das Straftribunal für Ruanda. Mit anderen Worten: Ein europäischer Staat war der Grund für die Geburt des Völ­kerstrafrechts und ein anderer europäischer Staat Anlass für sein Wiedererstarken. Es stimmt, dass in keinem (west)europäischen Staat Ermittlungen laufen. Das ist allerdings auch der friedlichen Lage auf diesem Kontinent geschuldet: Es existieren schlicht keine Vorwürfe wegen eines der Kernstraftatbestände des Völkerstrafrechts in Europa.



Der damals in Sachen Afgha­nistan zuständigen Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Fatou Bensouda, haben die USA übrigens das Einreisevisum entzogen, wie anderen Mitarbeitenden des IStGH auch. Selbst ihre Konten in den USA wurden eingefroren – ohne Erfolg, denn die Ermittlungen in Bezug auf Af­ghanistan laufen weiter. Den Haag kuscht also nicht gegenüber den großen Staaten und der Macht des Faktischen.

Für Vollzugriff bitte einloggen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2022, S. 106-110

Teilen

Dr. Robert Frau ist Privatdozent für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Europa-Universität Viadrina und Lehrbeauftragter für humanitäres Völkerrecht am George C. Marshall European Center for Security Studies in Garmisch-Partenkirchen.

0

Artikel können Sie noch kostenlos lesen.

Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.