Essay

24. Apr. 2023

Kollektivismus und Kreml­propaganda

Wenn sich Linke die Wahrheiten eines Faschisten wie Wladimir Putin zu eigen machen, dann verfangen die alten Rechts-Links-Erklärungsmuster nur noch bedingt. Ist der relevante Konflikt am Ende ein anderer: der zwischen denen, die den Einzelnen in den Mittelpunkt allen gesellschaftlichen Strebens stellen, und denen, für die das Wohl einer Gesellschaft stets mehr ist als die Summe des Wohls ihrer Individuen?

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Bild: Historische Aufnahme Mao-begeisterter Massen in China
Der Kollektivismus als erlösende Alternative zum kapitalistisch-imperialistisch-egoistischen Individualismus westlicher Prägung: Massenkundgebung in Peking in den 1960er Jahren.
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Sahra Wagenknecht ist sich immer treu geblieben. Zwei Tage vor dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 formulierte sie in der Talkshow „Anne Will“, das Bild von Putin als das eines „durchgeknallten Nationalisten, der sich daran berauscht, Grenzen zu verschieben“, sei „herbeiphantasiert“.

Obwohl man sich eindeutiger kaum irren kann, blieb Frau Wagenknecht in ihrem unbelehrbarn Belehrungsdrang konsequent, bis hin zur „Aufstand für Frieden“-Demonstration am 25. Februar 2023 in Berlin. Dort strahlte sie zusammen mit Alice Schwarzer von der Bühne, als habe man ihnen gerade den Friedensnobelpreis verliehen. Wenige Tage später wischte Wagenknecht Vergewaltigungen und andere russische Kriegsverbrechen in der Sendung „Hart aber fair“ mit den Worten zur Seite: „Kriege sind immer mit Kriegsverbrechen verbunden.“



Worauf lassen sich diese und ähnliche Verirrungen zurückführen? Mangel an ­Intellekt scheidet vermutlich aus, Mangel an Empathie wohl auch. Wenn Frau Wagenknecht die grausamen Folgen des Krieges beklagt, dann darf man ihr abnehmen, dass sie das ehrlich so empfindet. Es muss andere Gründe haben, die dazu führen, dass sie konsequent die Dinge auf den Kopf stellt; dass sie den imperialistischen Aggressor in Russland zum Opfer westlichen Weltmachtstrebens umdefiniert; dass sie nicht bemerkt, wie sie ukrainischen Menschen ausgerechnet in dem Augenblick das Selbstbestimmungsrecht abspricht, in dem ihnen die nackten Lebensgrundlagen weggebombt werden; und dass sie es am Ende nicht einmal mehr bemerkt, wie sie ukrainische Vergewaltigungsopfer verhöhnt.



Alles das könnte eine skurrile Personalie bleiben, wäre Sahra Wagenknecht die Einzige, die den Westen pauschal zum Feindbild erkoren hat, gegenüber dem jeder noch so blutrünstige Diktator zum beklagenswerten Opfer schrumpft, sofern er nur ebenfalls den Westen als seinen Feind ansieht. Aber Frau Wagenknecht ist nicht die Einzige, bei Weitem nicht. Am Abend des 23. Februar 2022 hatte der Journalist und Putin-Kenner Hubert Seipel in der Sendung „Maischberger“ die eskalierende Situation an der Grenze zu den abtrünnigen Gebieten in der Ostukraine auf einen von der NATO ermutigten Bruch der Minsker Abkommen durch ukrainische Truppen zurückgeführt. Den massiven Truppenaufmarsch Russlands an der ukrainischen Grenze tat er als harmlose Muskelspiele ab. Tags zuvor hatte die langjährige Russland-Korrespondentin Gabriele Krone-­Schmalz bei Markus Lanz keinerlei Anzeichen einer russischen Invasion gesehen und beklagt, die NATO bedrohe Russland in seinen legitimen Sicherheitsinteressen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.



Wer nun glaubt, dass dieser Spuk nach einem Jahr Vernichtungskrieg vorbei sei, der irrt. Hubert Seipels Buch „Putins Macht“ erschien zwei Monate nach Kriegsbeginn und wurde zum Publikumsrenner. Das im November 2022 erschienene Buch „Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte“ von Benjamin Abelow wird nicht nur von Noam Chomsky bejubelt, sondern kann bei Amazon rund 80 Prozent Fünf-Sterne-Bewertungen verbuchen. In den Kundenrezensionen dieser und ähnlicher Titel finden sich immer wieder dieselben Stichworte: die „Versachlichung“ der Debatte, die „Entdämonisierung Putins“, die Kritik an der „aggressiven“ NATO, die hinter dem Konflikt stehe. Alles das findet man im politischen Spektrum zunächst einmal ganz rechts und ganz links.



Schauen wir nach ganz links, so finden wir, dass die altlinke Zeitschrift Konkret gleich nach Beginn des Krieges im März 2022 mit „Go East! Die NATO-­Aggression gegen Russland“ titelte. Lassen wir den Blick weiter über die linksradikalen und kommunistischen Parteien Europas schweifen, finden wir immer wieder das gleiche Bild. Auch ganz rechts stoßen wir auf die gleichen Argumente: bei der AfD, bei Viktor Orbán, bei Matteo Salvini, bei Silvio Berlusconi, Marine Le Pen und wie sie alle heißen. Es war gewiss kein Betriebs­unfall, dass die AfD zur Teilnahme an der Demonstration in Berlin aufgerufen hatte.  



Wer allerdings glaubt, dass sich all das auf die extremen Ränder des politischen Spektrums beschränkt, der irrt erneut. Mit Blick auf die politischen Repräsentanten in Deutschland mag das noch gerade hinkommen, wenn man großzügig die 122 der insgesamt 736 Sitze im Bundestag als Randphänomen bezeichnet, die von Abgeordneten der Linken und der AfD repräsentiert werden – immerhin rund 17 Prozent. Sieht man sich aber deren gemeinsames Wählerpotenzial an, so dürften wir bei mindestens einem Viertel der Bevölkerung liegen. Das ist kein Randphänomen, und es passt zur Tatsache, dass Bücher wie jene von Seipel oder Abelow Publikumsrenner sind.

 

Nun darf es niemanden wundern, dass es von rechten Putin-Verehrern nur so wimmelt. Am linken Rand aber müsste das eigentlich ganz anders sein. Viele radikale Linke haben so etwas wie einen antifaschistischen Alleinvertretungsanspruch für sich reklamiert und sehen den neuen Faschismus nahezu überall auferstehen. Nimmt man diesen Alleinvertretungsanspruch ernst, so sollte man erwarten, dass denen, die ihn erheben, zuvorderst klargeworden sein müsste, um wen es sich bei Putin handelt: dass er nicht nur rechtsradikal denkt und im Grunde immer so dachte, sondern auch immer schon so handelte; dass er hemmungslos log und einschüchterte; dass er lange vor dem ersten Ukraine-Überfall sprichwörtlich über Leichenberge ging; und dass er lange vor dem 24. Februar 2022 kaltlächelnd ganze Städte in Schutt und Asche versinken ließ. Kurz: Als echte Antifaschisten hätten sie die ersten sein müssen, die Putin als das erkennen, was er ist: ein Faschist.



 Wie ist es möglich, dass ausgerechnet bei den selbsternannten Antifaschisten die faschistische Propaganda Putins auf fruchtbaren Boden fiel und teilweise noch fällt? Hierzu hatte der Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek schon gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in einer Streitschrift mit dem Titel „Der Weg zur Knechtschaft“ den entscheidenden Hinweis gegeben. Leider wurde Hayek später als Hohepriester eines – jeweils völlig unterschiedlich definierten – Neoliberalismus von vielen seiner Anhänger ebenso kultisch verehrt, wie er von seinen Gegnern verteufelt wurde. Das war insofern besonders bedauerlich, als sein Buch eine gerade für moderate Sozialisten unbequeme, zugleich aber wichtige Botschaft enthielt. Unglücklicherweise verlor diese Botschaft im Hayek-Strudel ihre argumentative Wirkung zugunsten ideologischer Positionierungen.



Immerhin enthielt das ungefähr zeitgleich erschienene Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ des Philosophen Karl Popper im Prinzip die gleiche Botschaft. Wie schon Hayeks Buch entstand auch dieses vor dem Hintergrund des Nazi- und Stalinterrors. Anders als Hayeks Werk aber war Poppers Buch für ein akademisches Publikum geschrieben. Deshalb polarisierte es einerseits weniger, entfaltete aber andererseits über akademische Kreise hinaus keine so große Wirkung.



Worum ging es? Kurz gesagt verorteten beide Autoren die Wurzeln von Linksradikalismus und Rechtsradikalismus in ein und demselben intellektuellen Nährboden; heute würde man wohl noch den religiösen Fundamentalismus hinzufügen. Folgt man dieser These, so zeichnet das gängige Rechts-Links-Kontinuum ein falsches Bild. Das relevante Gegensatzpaar wäre dies: Auf der einen Seite steht der liberale Individualismus, der das Wohl und Wehe des Einzelnen in den Mittelpunkt allen gesellschaftlichen Strebens stellt. Auf der anderen Seite steht der Kollektivismus, für den das Wohl der Gesellschaft stets mehr ist als die Summe des Wohls der Individuen, aus denen sie besteht.



Der liberale Individualismus nimmt die Menschen in ihrer jeweiligen Individualität an und akzeptiert keine Werte, die sich nicht aus dem Wohl der Individuen ableiten lassen. Eine solche Haltung oberflächlich zu finden, ist gerade in Deutschland eine Art philosophischer Breitensport. Denn sie fußt auf dem unter deutschen Ethikern ungeliebten Utilitarismus, der oft geradezu böswillig missverstanden wurde, was schon vor über 150 Jahren der große John Stuart Mill beklagte und was dem Kollektivismus stets reichlich Nahrung gab.



Denn der Kollektivismus definiert jenseits des schnöden individuellen Nutzens „höhere“ Werte und Gesellschaftsziele, in deren Dienst die Individuen zu stellen seien. Er legitimiert dies mit einem ­kollektivistischen Freiheitsbegriff, der sich prominent bei Karl Marx findet, aber eine weit ältere und unrühmliche Tradition aufweist. Danach müssen Individuen, um Freiheit zu erlangen, mit dem für sie relevanten Kollektiv verschmelzen und in dessen übergeordneten Zielen und Werten aufgehen. Folglich gelangen die Menschen genau in dem Maße zur Freiheit, in dem sie ihre Individualität aufgeben und ihre Erfüllung darin finden, ein kleines Rädchen in einem großen kollektiven Getriebe zu sein. Die bekanntesten Spielarten des Kollektivismus sind der Kommunismus, der Nationalismus und der religiöse Fundamentalismus. Sie bilden das eine Ende eines Kontinuums, an dessen anderem Ende der liberale Individualismus steht.

 

Der liberale Individualismus hat sich als das einzige mit Freiheit, Menschenrechten und Demokratie vereinbare Gesellschaftsmodell erwiesen. Er ist im Zuge der europäischen Aufklärung entstanden und zur Grundlage der rechtsstaatlichen Demokratien westlicher Prägung geworden. Genau hier aber beginnen seine Imageprobleme. Seine westlichen Wurzeln bieten einen Ansatz, um ihn als eurozentrisch, westlich-imperialistisch oder postkolonialistisch zu denunzieren. Zudem wird der liberale Individualismus oft mit einem Zerrbild des persönlichen Individualismus verwechselt; er verkörpere Egoismus und die Weigerung, für „höhere“ Werte einzustehen, womit in der Regel kollektivistische Werte gemeint sind. Beide Imageprobleme werden von Marxisten, postmodernen Theoretikern, rechten und linken Identitätspolitikern, Nationalisten und religiösen Fundamentalisten gleichermaßen instrumentalisiert.



Für dogmatische Linke stieg die Bedeutung dieser Imageprobleme seit jeher mit ihrem Grad an Dogmatismus. Je höher der war, desto eher waren sie bereit, die scheinbare linke Alternative zum liberalen Individualismus in einem allzu günstigen Licht zu betrachten. Viele wurden darüber völlig blind gegenüber dem, was im Namen dieser vermeintlichen Alternative so alles geschah und bis heute geschieht. Die Nähe prominenter Vertreter der Linkspartei zu verschiedenen trotzkistischen oder leninistischen Zirkeln innerhalb oder rund um diese Partei zeugt davon.



Denn in ihrer Blindheit ignorieren sie, dass nicht erst Stalin, sondern bereits Lenin und Trotzki den sowjetischen Sozialismus auf dem heute von Putin erneut kultivierten Dreiklang von Lüge, Einschüchterung und Gewalt aufbauten; dass sie zu diesem Zweck den berüchtigten und von Putin verehrten Geheimdienst Tscheka unter der Leitung des blutrünstigen Feliks Dzierżyński gründeten; dass die Herrschaft Stalins ebenso wie die Maos und viele andere linksradikale Herrschaftssysteme mit der Zeit in blanken und aggressiven Rechtsnationalismus umschlugen; dass linke Ideologen wie Horst Mahler plötzlich als rechte Hetzer wiedererstanden; und dass seit Lenin linke wie rechte Diktaturen kaum voneinander zu unterscheiden waren, wenn man deren jeweilige Propaganda ausblendete. Auch diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.



Alles das stand jedem deutlich vor Augen, der nur sehen wollte. Aber zumindest die dogmatischen Linken wollten es nicht sehen. Denn es hinderte sie daran, den liberalen Individualismus als westlich-­imperialistisch und zugleich als Brutstätte rücksichtslosen kapitalistischen Egoismus zu verdammen – und sich an den Kollektivismus als die von alledem erlösende Alternative zu klammern. Im liberalen Individualismus werde das Individuum über die Gemeinschaft gestellt; in einer solidarischen Gesellschaft müsse das umgekehrt sein. Dieses Bild wird von den rechten, linken und religiösen Gegnern des liberalen Individualismus immer wieder gern herangezogen. Dabei ist es ebenso anziehend wie irreführend, weil es ungeklärt lässt, was gut für eine Gemeinschaft sein kann, wenn es nicht gut ist für die Individuen, aus denen jede Gemeinschaft besteht.

 

Durch eine kollektivistische Brille betrachtet, ist das Bild allerdings konsistent: So erscheint die Gemeinschaft stets als etwas, das mehr ist als die Summe ihrer Teile. In der Folge wird das Bild oft gedankenlos als Rechtfertigung dafür benutzt, das Wohl und Wehe der Individuen auszublenden, um das größere, übergeordnete Bild des Kollektivs zu zeichnen.



Hier treffen sich die Blickwinkel der westlichen Kollektivisten in der Gestalt religiöser Fundamentalisten sowie rechter und linker Extremisten mit jenem Wladimir Putins. Denn für sie alle spielen weder die Interessen noch die Handlungen und Interaktionen individueller Menschen für den Ablauf gesellschaftlicher und historischer Prozesse irgendeine Rolle. Für sie ist stets Übergeordnetes im Spiel, und deshalb gerät ihnen die Geschichte zwangsläufig zu einer Abfolge großflächiger Verschwörungen – und seien diese noch so sehr philosophisch oder theologisch verbrämt.



In diesem Sinne kann nun auch das historische Ergebnis, dass rund um Russland ein Gürtel von Staaten entstanden ist, der sich westlichen Werten zugewandt, westliche Regierungsformen mit Demokratie und Gewaltenteilung angenommen hat und noch dazu der EU und der NATO beigetreten ist, nicht einfach so passiert sein. Dahinter muss ein großer kollektiver Akteur stecken, der alles dafür getan hat, dass das von ihm gewünschte Ergebnis zustande kam: der von Russland heute regierungsoffiziell so bezeichnete „kollektive Westen“.



Natürlich ist das zunächst einmal nur die Deutung Wladimir Putins. Aber die große Zustimmung zu dieser Interpre­tation seitens westlicher Kollektivisten lässt sich gut mit der kollektivistischen Brille erklären, durch die sie alle die Welt sehen: die Rechten, die Linken, die Mullahs im Iran und selbst der Papst, der gleich zu Beginn des Februar-Überfalls auf die ­Ukraine der NATO eine Mitschuld zuwies.



Würden sie alle die kollektivistische Brille ablegen, so erschlösse sich ihnen ein weit differenzierteres Bild. Demnach reflektierte die Ausbreitung westlicher ­Regierungsformen ebenso wie der Wunsch, alles das durch die Schutzschirme von Europäischer Union und NATO abgesichert zu sehen, einen aus den Tiefen der Gesellschaft getriebenen Emanzipationsprozess, der nach dem Fall der Sowjetunion vom Freiheitsdrang vieler Millionen Menschen getragen wurde und zunächst völlig er­gebnisoffen war.



Daher ist die heutige Ausdehnung demokratischer und rechtsstaatlicher Regierungsformen ebenso wie die EU- und NATO-Mitgliedschaft der Ausdruck freier Willensentscheidungen innerhalb der jeweiligen Region, die es angeht. Genau in dem Maße, in dem die NATO-Ost­erweiterung den Einwohnern der neuen Mitgliedstaaten garantierte, sich ungehindert im Rahmen des liberalen Individualismus persönlich entfalten zu können, wollten sie die Mitgliedschaft in der NATO; und deshalb kann keine Rede davon sein, dass die daraus folgende Entwicklung von irgendwelchen Mächten im Hintergrund orchestriert wurde. Es wäre auch gar nicht notwendig gewesen.



Aber durch eine kollektivistische Brille betrachtet sieht man gemeinsam mit Putin nur dies: Gesteuert vom „kollektiven Westen“ rücken EU und NATO gezielt vor, um den Ländern im russischen Umfeld die westliche Kultur, ihren Kapitalismus und den eigennützigen Individualismus überzustülpen und es Putin damit unmöglich zu machen, deren historische Identität zu bewahren. Individuelle Freiheit kommt in dieser Erklärung gar nicht vor. Dazu passt, dass Freiheit für Putin keine relevante Kategorie ist; und dazu passt, dass westlichen Kollektivisten der liberale Individualismus aufgrund ihres kollektivistischen Freiheitsbegriffs ohnehin ein Dorn im Auge ist.



 In der Folge zeigten sich viele verständnisvoll oder sogar angetan, als Putin in seiner berüchtigten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007 behauptete, es drohe eine vom Westen dominierte monopolare Weltordnung, worunter er nichts Anderes verstand als den um sich greifenden liberalen Individualismus und dessen institutionelle Schwester, die Demokratie. Es widersprachen auch nur wenige, als er fortan immer aggressiver darauf bestand, dass die Geschichte Russland das historische Vorrecht dazu eingeräumt habe, die gesellschaftlichen und kulturellen Geschicke seiner Nachbarländer nach seinen Werten zu gestalten, womit er selbstverständlich das Gegenteil von Liberalismus und Demokratie meinte.



Ebenso wenige widersprachen seiner Behauptung, der Westen sei dabei, Russland dieses vermeintliche historische Recht zu entreißen; und geradezu populär war noch bis zum 24. Februar 2022 seine aberwitzige Behauptung, die NATO bedrohe damit legitime russische Sicherheitsinteressen.



Man wurde nicht einmal hellhörig, als Putin seinen Hass gegen den „kollektiven Westen“ mit derart reaktionären Inhalten aufzufüllen begann, dass sämtliche Alarmglocken hätten läuten müssen: Der „kollektive Westen“ zwinge Russland in die Rolle des hilflosen Zuschauers, während er eine von Drogensucht, Homosexualität und Verweichlichung geprägte westliche Seele in die einst stolze russische Brust der Ukrainer mit der Folge pflanze, dass das Volk der „Kleinrussen“ für immer von der Landkarte verschwinde. Dass es der russische Präsident für „nicht übertrieben“ hielt zu behaupten, die „gegenwärtige Politik einer gewaltsamen Assimilation, der Schaffung eines ethnisch sauberen ukrainischen Staates, die sich aggressiv gegen Russland richtet“, sei „in ihren Folgen vergleichbar mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen uns“: das fiel am Ende kaum noch jemandem auf.

 

Der Nährboden für diese Blindheit gegenüber dem neuen Faschismus in Europa ist oft benannt worden. Leider stoßen diese Warnungen noch bis heute bei vielen Beobachtern auf taube Ohren – tragischerweise oft gerade bei denen, die links der Mitte emanzipatorische Ziele verfolgen, dabei aber nicht bemerken, wie sie sich durch die trügerischen Verlockungen des Kollektivismus davon ablenken lassen. Ein Teil auch der moderaten Linken lässt sich bis heute von einer kaum gebrochenen Anziehungskraft des Marxismus leiten, während ein anderer mittlerweile unter dem Einfluss postmoderner Identitätspolitik steht. Beide Denkschulen einen ihre kollektivistische Basis, die ihr jeweils innewohnende Verschwörungslogik und die fundamentale Gegnerschaft zum liberalen Individualismus.



Obwohl gerade Grüne einen Hang zu postmoderner Identitätspolitik haben, sind sie spätestens seit dem 24. Februar 2022 gegenüber dem russischen Faschismus erfreulich hellsichtig; bemerkenswert viele waren es lange vorher. Das liegt vermutlich daran, dass die Grünen seit ihrer Gründung eine eher unorthodox-linke Position kultiviert haben, was wiederum der Tatsache geschuldet sein mag, dass zumindest ein Teil ihrer Wurzeln liberal-individualistisch geprägt ist – vielleicht stärker, als manche von ihnen sich eingestehen wollen.



Doch in anderen linken Milieus wurden Stimmen, die vor dem Kollektivismus warnten, häufig ignoriert. Hier verwechselte man die liberal-individualistische Gesellschaftskonzeption mit dem Klischee des gemeinschaftsfeindlichen persönlichen Individualismus, mit Vereinzelung, Vereinsamung und Egoismus. Das alles nährte die irrige Überzeugung, dass der Kollektivismus moralisch überlegen sei, weil er das Gemeinschaftliche über die Vereinzelung stelle, das Gemeinwohl über den Eigennutz und die Solidarität über den Egoismus. So verwechselten viele das totalitäre Potenzial des Kollektivismus mit solidarischen Prinzipien. Tragisch wurde das, als viele in ihrer kollektivistischen Prinzipientreue zum Opfer der Propaganda eines faschistischen Massenmörders wurden und manche sogar zu ihrem Echo. Überall witterten sie das Aufkommen neuer faschistischer Kräfte, manchmal zu Recht, manchmal nicht. Nur da, wo der Faschismus deutlich sichtbar erwuchs, da sahen sie nichts.



Es kann und soll hier nicht darum gehen, sich gegen linke Positionen zu stellen, vor allem nicht, soweit man darunter das Eintreten für emanzipatorische Ziele sowie für Gleichheit und Gerechtigkeit versteht. Das Gegenteil ist der Fall. Umso mehr muss es aber darum gehen, dem Irrtum entgegenzutreten, linke Politik müsse kollektivistisch grundiert sein. Denn der Kollektivismus ist keineswegs die Grundlage einer solidarischen Gesellschaft; er ist keineswegs ein Konzept dagegen, dem Egoismus in uns Menschen auf gesellschaftlicher Ebene Einhalt zu gebieten; und er ist keineswegs ein Konzept gegen Nihilismus und Prinzipienlosigkeit.

Gerade Linken müsste es ein Anliegen sein, sich von Rechten in der Einsicht zu unterscheiden, dass der Kollektivismus ein gefährliches, aggressives und menschenverachtendes Prinzip ist. Unabhängig von allen abstrakten Überlegungen erweist sich die Richtigkeit dieses Befunds ganz praktisch und in schmerzhafter Weise immer wieder neu.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2023, S. 92-97

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Prof. Dr. Thomas Apolte lehrt Ökonomische Politikanalyse an der Universität Münster. Er erforscht politische Regime, Autokratien und Konflikte und war verschiedentlich Gastwissenschaftler in den USA und in Polen.

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