Weltspiegel

27. Juni 2022

Klimaschutz als Kollateralschaden?

Russlands Angriffskrieg und die Verschärfung geopolitischer Spannungen machen globa- len Klimaschutz nicht leichter, aber längst nicht unmöglich.

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Bild: Menschen auf einer staubigen Straße während der Hitzewelle in Indien
Die Weltgemeinschaft verfügt über Optionen, um beim Klimaschutz nicht zurückzustecken. Alles andere wäre fatal: Hitzewelle im indischen Allahabad mit 46 Grad Celsius Anfang Juni 2022.
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Ein menschenfreundliches Weltklima ist das globale öffentliche Gut schlechthin. Dabei ist der für seinen Erhalt notwendige Klimaschutz auf die Beiträge aller relevanten Treibhausgas-Emittenten angewiesen. Hierfür ist internationale Zusammenarbeit unabdingbar. Zu Recht gilt daher das Pariser Klimaabkommen von 2015, das neben den Industrie- erstmals auch Schwellen- und Entwicklungsländer in die Pflicht nimmt, als Meilenstein im globalen Klimaschutz.



Aber wie soll internationale Klimakooperation funktionieren bei massiven geopolitischen Spannungen, die mit Putins Invasion der Ukraine eine neue Dimension erreicht haben? Russland hat mit seinem Krieg auch die regelbasierte multilaterale Ordnung angegriffen, auf der das internationale Klimaschutzregime fußt. Hinzu kommt die Großmacht­rivalität zwischen den USA und China, die sich deutlich verschärft hat. Teils wird sogar über eine Anti-Klimaschutz-Allianz unter Führung von Russland und China spekuliert.



Abgesehen von den Implikationen des Ukraine-Krieges für die internationale ­Kooperation schafft er neue Herausforderungen für die jeweils nationale Politikformulierung und Umsetzung beim Klimaschutz. Perspektiven und Prioritäten sortieren sich neu. Mit Blick auf die international wieder anziehenden Zinsen und den durch die Corona-Pandemie bereits hohen öffentlichen Schuldenstand in zahlreichen Ländern wird sich auch die Konkurrenz unterschiedlicher Politikbereiche um finanzielle Ressourcen wieder verstärken. Durch die massiv gestiegenen – wenn auch volatilen – Preise für fossile Energieträger kann die Erschließung neuer Vorkommen wieder attraktiver werden, obwohl die Internationale Energieagentur (IEA) 2021 zu dem Schluss gekommen ist, dass dies mit dem 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Dieses Kalkül wird sich vermutlich am Weltmarktpreis orientieren und auch durch den Verkauf russischen Erdöls mit erheblichen Preisabschlägen an einzelne Abnehmer nicht grundsätzlich infrage gestellt werden.



Droht die Umsetzung des Pariser Abkommens somit zum Kollateralschaden von Putins Krieg gegen die Ukraine zu werden? Sie verträgt keinen weiteren Aufschub mit Blick auf das 1,5-Grad-Ziel. Bis 2030 müssen die globalen Emissionen im Vergleich zu 2019 fast halbiert werden, um eine realistische Chance auf die Zielerreichung zu wahren. Zuletzt sind die Emissionen – auch in Deutschland – wieder angestiegen. Ein Überschreiten des 1,5-Grad-Ziels birgt erhebliche Risiken, kritische Kipppunkte im Weltklima zu erreichen, wie die Klimawissenschaft zuletzt immer deutlicher herausgearbeitet hat. Wenn der globale Klimaschutz in den kommenden Jahren keine Kehrtwende zu sehr viel ambitionierteren Politiken und konsequenter Umsetzung erfährt, wird dies irreparable und teils noch unabsehbare Folgen nach sich ziehen.



Einige Auswirkungen von Putins Krieg können dem globalen Klimaschutz aber auch einen zusätzlichen Schub verleihen: zum einen durch die resultierenden (wenn auch teils politisch abgefederten) Preissprünge für fossile Energien. Die sowieso schon erheblich gestiegene Konkurrenzfähigkeit erneuerbarer Energieträger nimmt dadurch weiter zu; die wirtschaftlichen Anreize für klimafreundliche Energieversorgung verbessern sich. Die Energiewende wird in vielen Ländern somit auch aus rein ökonomischen Gründen immer attraktiver. Erneuerbare Energien machten laut IEA zuletzt bereits 70 Prozent der Investitionen in neue Erzeugungskapazitäten aus.



Zum anderen greift nun die Erkenntnis Raum, dass dezentrale erneuerbare Energien auch geopolitisch neue Freiräume eröffnen. Finanzminister Christian Lindner spricht von „Freiheitsenergien“; Hermann Scheer hatte schon in den 1980er Jahren ähnlich argumentiert. Die Energiewende gewinnt eine weitere – sicherheitspolitische – Ratio, zumindest in Ländern, die fossile Energieträger importieren. Zur Geltung wird diese neue Ratio jedoch nur kommen, wenn die aktuellen Bemühungen um eine kurzfristige Diversifizierung fossiler Lieferketten und ein eventuelles Revival der Kohleverstromung nicht zu Pfadabhängigkeiten führen, welche die Energiewende letztlich doch ausbremsen. Dazu gehört beispielsweise, dass die Ankündigungen zur perspektivischen Umstellung neuer Gasinfrastruktur auf grünen Wasserstoff in Plänen konkretisiert und konsequent umgesetzt werden.



Handlungsoptionen

Aber was bedeutet die aktuelle Krise für die internationale Zusammenarbeit beim Klimaschutz? Die verstärkten Anreize für privatwirtschaftliches und nationalstaatliches Handeln beim Klimaschutz allein werden die Notwendigkeit intergouvernementalen, kollektiven Handelns nicht ersetzen können. Russland allein verursacht rund 5 Prozent der globalen CO2-Emissionen und ist der nach China größte Methan-Emittent weltweit. Russland ist unverzichtbar für die Umsetzung des Pariser Abkommens. Hinzu kommt die Frage, wie sich China – derzeit für rund ein Drittel der globalen CO2-Emissionen pro Jahr verantwortlich – jenseits des Ukraine-Krieges mit Blick auf die ­Zusammenarbeit mit den USA und der EU in Zukunft positionieren wird.



Erstens besteht die Möglichkeit, den globalen Klimaschutz als „funktionale Kooperation“ von geopolitischen Spannungen teilweise zu isolieren: Zusammenarbeit im gemeinsamen Interesse – hier: beim Erhalt eines globalen öffentlichen Gutes, auf das alle angewiesen sind – kann so auch in Krisenzeiten andauern. Notwendig wäre dies beispielsweise in Foren, die Einstimmigkeit erfordern, wie bei den Weltklimakonferenzen, wo theoretisch ein einziges Mitgliedsland Beschlüsse blockieren könnte.



Die nächste Weltklimakonferenz findet im November 2022 in Scharm El-Scheich statt. Es ist schwer vorstellbar, dass Russland den Rest der Welt in Geiselhaft nimmt und entsprechend destruktiv auftritt. Dies würde den Pariastatus Russlands weiter festigen – selbst in Ländern, die sich bislang „neutral“ verhalten. Auch wurden die zentralen Umsetzungsregeln des Pariser Abkommens zum Klimaschutz mittlerweile finalisiert; eine russische Blockade der Weltklimakonferenz würde vor allem Entwicklungsländer treffen, die ein besonderes Interesse an neuen Beschlüssen zur Anpassung an den Klimawandel und zum Umgang mit Verlusten und Schäden haben, nicht die USA oder die EU.



Jenseits der formalen Beschlussfassung in Vertragsstaatenkonferenzen von Klimarahmenkonvention und Pariser Abkommen bedarf es jedoch ambitionierter nationaler Klimabeiträge der Vertragsparteien. Die Ausgestaltung ihrer im Pariser Abkommen vorgesehenen sukzessiven Ambitionssteigerung obliegt den einzelnen Vertragsparteien, Einfluss von außen entsteht vor allem über Klimadiplomatie und „peer pressure“, gekoppelt mit Kooperationsangeboten, beispielsweise über technische und finanzielle Zusammenarbeit. Mit China gelang eine solche funktionale Kooperation in der Vergangenheit durchaus – trotz wachsender geopolitischer Rivalität. Eine analoge Einflussnahme auf und Kooperation mit Russland scheinen nun jedoch bis auf Weiteres ausgeschlossen. Und ein autokratisches, wirtschaftlich isoliertes Regime, das sein kurzfristiges Überleben im Blick hat und sich unter Umständen gar nicht sicher ist, ob ein fortgesetzt fossiler Entwicklungspfad weltweit wie national und der resultierende Klimawandel nicht eher Vorteile für seine wirtschaftlichen Aussichten bergen, wird ungezwungen kaum zusätzliche Schritte im Klimaschutz gehen. Würden ausbleibende russische Ambitionssteigerungen beim Klimaschutz den Ambitionssteigerungsmechanismus des Pariser Abkommens insgesamt ausbremsen? Wohl nicht, denn trotz seiner sub­stanziellen Emissionen ist Russland dafür mit deutlich unter 2 Prozent der globalen Wertschöpfung und seiner wenig diversifizierten Volkswirtschaft letztlich zu unbedeutend.



Zweitens gibt es Möglichkeiten, die Notwendigkeit des kollektiven, alle großen Emittenten umfassenden Handelns im Klimaschutz zumindest temporär zu relativieren. Dies ist der Grundgedanke des von der Bundesregierung vorgeschlagenen „Klimaclubs“: Die großen Industrienationen – angefangen mit den G7 – sollen gemeinsam voranschreiten mit ambitionierteren Klimapolitiken, was ein „Schwarzfahren“ bei den globalen Klimaschutzbemühungen zumindest in diesem Kreis verhindert und Verzerrungen in der Wettbewerbs­fähigkeit ihrer Industrien reduziert. Schon durch die gemeinsame Marktmacht dieser Länder reduziert sich die Gefahr eines ­Abwanderns von energie­intensiven Industrien (des sogenannten „carbon leakage“), verstärkt durch die aktuelle Tendenz zum „reshoring“, also der Verkürzung von ­Lieferketten und Rückverlegung von Produktionsstätten.



Gemeinsam sind die Clubmitglieder ferner in der Lage, internationale Produktionsstandards zu etablieren, die den Notwendigkeiten des Klimaschutzes entsprechen. Langfristig denkbar ist auch ein gemeinsamer CO2-Grenzausgleichsmechanismus des Clubs für den Handel mit Drittstaaten, um ein Unterlaufen der Klimaschutzbemühungen des Clubs von außen zu unterbinden (so war es auch von William Nordhaus, dem Erfinder des Klimaclubs, angedacht). Obwohl seine Konnotation vor allem im Englischen eher exklusiv ist, hat der Klimaclub den Anspruch, offen zu sein für alle ambitionierten Länder. Und je mehr Länder sich dem Club anschließen, umso stärker wird der Druck auf weitere Länder, sich dessen Klimaschutzstandards ebenfalls zu eigen zu machen.



Doch welche Möglichkeiten bestehen, wenn diese Erwartung mit Blick auf Länder wie Russland trügt? Wenn Russland sich vom internationalen Handelssystem zusehends abschottet beziehungsweise über Sanktionen ausgeschlossen wird, reduzieren sich solche Einflussmöglichkeiten. Wenn diese Verbindungen jedoch bestehen bleiben – oder zumindest die Aussicht auf eine Wiederaufnahme erhalten bleibt – können auch Grenzausgleichsmechanismen und Regeln zu Lieferketten das ökonomische Kalkül zugunsten des Klimaschutzes beeinflussen.



Der vorgeschlagene CO2-Grenzausgleichsmechanismus der EU – der Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) – dient der Absicherung der EU-internen Klimaschutzambitionen gegenüber „carbon leakage“; unvermeidbar sind jedoch auch aus dem CBAM resultierende Marktsignale an Handelspartner. In Russland scheinen diese zumindest vor dem Überfall auf die Ukraine durchaus wahrgenommen worden zu sein; ein erheblicher Teil der vor dem Krieg prognostizierten CBAM-Einnahmen sollte auf Importe aus Russland entfallen.



Klimafreundliche Standards



Denkbar sind auch zusätzliche Regeln für Lieferketten: Bei fortgesetzten oder wieder aufgenommenen Importen von Erdgas aus Russland könnten beispielsweise strikte Standards für Methan-Emissionen – die in Russland aufgrund maroder Infrastruktur und resultierender Lecks besonders hoch sind – Wirkung entfalten.



Eine Einflussnahme über internationale klimafreundliche Investitionsstandards scheint hingegen nur denkbar, wenn sich das Verhältnis zu Russland wieder normalisieren kann und internationale Investitionsflüsse nach Russland erneut Fahrt aufnehmen. In diesem – derzeit angesichts Putins Politik nicht absehbaren – Fall entfiele jedoch auch das Ausgangsproblem: der massive geopolitische Konflikt mit einem aggressiven Russland, das auch den globalen Klimaschutz zu belasten droht.



Drittens besteht die Hoffnung, dass die durch Putins Krieg in der Ukraine verursachte Krise trotz oder gerade wegen ihrer erheblichen Auswirkungen auf internationale Politik und Wirtschaft die Ratio für die internationale (Klima-)Kooperation nicht schwächt, sondern letztlich weiter stärkt. Die wirtschaftlichen Folgen des Angriffskriegs – wie die Verwerfungen auf den Energiemärkten, steigende Getreidepreise und zusätzliche fiskalische Belastungen – und durch die Krise verstärkte geopolitische Erwägungen untermauern die Notwendigkeit der Zusammenarbeit gerade auch mit Schwellen- und Entwicklungsländern, die ohne China bereits ein weiteres Drittel der globalen Emissionen ausmachen.



Wo viele dieser Länder nun vor zusätzlichen wirtschaftlichen Herausforderungen stehen, braucht es ein „Mehr“ der Kooperation und Unterstützung auf dem Weg zur Klimaneutralität, insbesondere für die ärmsten und verwundbarsten Länder. Die diesjährige G7-Präsidentschaft Deutschlands hat Möglichkeiten für entsprechende Initiativen geschaffen; internationale Klimakooperation steht oben auf der Agenda.



Kurzum: Putins Angriffskrieg in der Ukraine und die wachsenden geopolitischen Spannungen müssen nicht notwendigerweise zu einem Ambitionsverlust im globalen Klimaschutz führen. Sie dürfen es auch nicht, wenn ein menschenfreundliches Klima auf unserem Globus erhalten bleiben soll. Die internationale Klimapolitik verfügt über Optionen, mit der neuen Situation umzugehen.    

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2022, S. 90-94

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Dr. Martin Kipping ist Referatsleiter für Klimapolitik im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).

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