IP

01. Nov. 2015

Kleines Wirtschaftslexikon Indien

Indien von A wie "Amtsschimmel" bis U wie "Ungleichheit"

Amtsschimmel
Bangalore

Chalo America

Demografie

Filmindustrie

Infrastruktur

Make in India

Outsourcing

Planung

Smart Cities

Ungleichheit

 

 

Amtsschimmel

→ So offensiv wie selten zuvor wirbt die indische Regierung derzeit um ausländische Investoren. Doch bleiben die Reaktionen darauf derzeit noch verhalten. Besonders die Bürokratie ist es, die viele von einem Engagement in Indien abschreckt.

Überbordende und ineffiziente Bürokratie, mangelhafte Infrastruktur, fehlende Rechtsstaatlichkeit, Korruption: Für Investoren bleibt Indien allen Reformbemühungen zum Trotz ein schwieriges Terrain. Im aktuellen Doing Business-Ranking der Weltbank liegt Indien nur auf Platz 142 von 189 – hinter Ländern wie Jemen, Sierra Leone und Papua-Neuguinea. Auch im Vergleich zu den anderen BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, China und Südafrika) und aufstrebenden Schwellenländern wie Mexiko und Indonesien schneidet Indien schlecht ab. Besonders beim Erhalt von Baugenehmigungen (Platz 184), der Durchsetzung vertraglicher Ansprüche (Platz 186), der Gründung von Unternehmen (Platz 158) und dem Zahlen von Steuern (Platz 156) macht es Indien Unternehmern nicht leicht.

Es ist zwar erklärtes Ziel der Regierung, die Rahmenbedingungen für Investitionen durch den Abbau administrativer Hürden zu verbessern. Doch greift das zu kurz, da andere Probleme wie das antiquierte Arbeitsrecht, das hoffnungslos überlastete Rechtswesen und fehlende einheitliche Steuern im Grunde schwerer wiegen. Zwar gibt es auch hier Ansätze, dem Amtsschimmel zu Leibe zu rücken, allerdings noch keine konkreten Ergebnisse. Zudem ist fraglich, ob diese Schritte die grassierende Korruption wirksam eindämmen können, da der bürokratische Apparat tendenziell eher unwillig ist, Privilegien und Gelegenheiten zur Korruption einfach aufzugeben.

Dass es noch keine umfassenden Reformen gegeben hat, ist auch dem Umstand geschuldet, dass die BJP-geführte Regierungskoalition nur im Unterhaus über eine stabile Mehrheit verfügt, nicht aber im Oberhaus, und in dieser Legislaturperiode auch keine Chance hat, hier eine Mehrheit zu erreichen. Nicht besser wird die Lage durch die Tatsache, dass die Regierung dieser Konstellation zum Trotz bisher nicht ernsthaft versucht hat, einen Konsens bei größeren Gesetzes-initiativen zu suchen – und das hat zusätzlich den Widerstand der Opposition befeuert.

Daniel Neff

Bangalore

→ Dass Indiens IT-Branche eine führende Rolle in der globalen Software-Industrie spielt, verdankt sie einem einzigartigen Mix aus technologischem Können, Projektmanagementerfahrung und einem riesigen Arbeitskräftepotenzial.

„Bangalore statt Böblingen?“ lautete der Titel eines 2005 erschienenen Buches über die Internationalisierung der IT-Branche. Dass Bangalore – auch als „indisches Silicon Valley“ bezeichnet – zum Symbol dieser Entwicklung wurde, hat seine Gründe. Fast eine Million IT-Fachkräfte arbeiten hier in indischen und internationalen Software-Firmen und produzieren pausenlos Software-Codes für Bankgeschäfte oder für Anwendungen in der Luft- und Raumfahrt.

Diese Entwicklung kommt nicht von ungefähr. Seit der Unabhängigkeit hatten Indiens Regierungen erhebliche Summen in die technische Hochschulbildung investiert (wenn auch zu Lasten des Grundschulwesens). Das brachte ein beachtliches Potenzial hochqualifizierter Ingenieure und Techniker hervor, die es in die nach Spezialisten dürstende internationale Software-Branche zog. Westliche Technologieunternehmen entdeckten dieses Potenzial für sich, und in der Folge bildete sich ein System heraus, bei dem indische Unternehmen die Personalbeschaffung für einzelne Projekte organisierten. Ein Geschäftsmodell, das als Body-Shopping bekannt wurde.

In den achtziger Jahren waren Devisen ein knappes Gut in Indien. Da die Technologiebranche von internationalen Zulieferern abhängig war, die Regierung aber entsprechende Importe nur unter der Bedingung erlaubte, dass Devisen erwirtschaftet wurden, mussten zwangsläufig internationale Märkte erschlossen werden. Die Entwicklung des PC und die Entkopplung von Hardware und Software öffneten indischen Firmen die Märkte, die eine Abkehr vom Body-Shopping hin zur Entwicklung von Computerprogrammen ermöglichten.

Bangalore wurde zum bevorzugten Standort, weil es dort eine Vielzahl von Forschungseinrichtungen gab, die hochqualifizierte Kräfte hervorbrachten (vom angenehmen Klima einmal abgesehen). Anfangs noch überwiegend im Auftrag multinationaler Unternehmen tätig, begannen die indischen IT-Firmen Ende der neunziger Jahre, sich die Stufen der Wertschöpfungskette hinaufzuarbeiten, indem sie sich auf bestimmte Industriesegmente konzentrierten und dort Expertise entwickelten.

Beschleunigt wurde dieser Prozess durch die Vertreter der indischen Diaspora im Silicon Valley, die inzwischen in leitende Funktionen vorgerückt waren. Die folgenden Jahrzehnte sahen ein rasantes Wachstum und die Entstehung von Technologieriesen wie Tata Consultancy Services, Infosys oder Wipro. Internationale IT-Schwergewichte wie IBM und Google erkannten den Wettbewerbsvorteil eines Standorts in Bangalore – sie zogen nach und gründeten dort eigene Software-Entwicklungszentren. Einige, etwa IBM, sollen heute mehr Mitarbeiter in Indien als in den USA beschäftigen.

Die Kombination von innovativen Projekten und gesteigertem Wachstum hat dazu geführt, dass sich die Produktivität pro Mitarbeiter im Zeitraum von 1995 bis zum Jahr 2014 vervielfacht hat – von 7000 Dollar auf 38 000 Dollar. In diesem Jahr kamen für jede eingenommene Milliarde in der Branche 13 000 Beschäftigte hinzu. Mit Gesamteinnahmen von derzeit rund 146 Milliarden Dollar (wovon 67 Prozent auf den Export entfallen), insgesamt 3,5 Millionen Beschäftigten und einem Anteil am indischen BIP von 9 Prozent will die Branche bis 2020 die 300-Milliarden-Dollar-Marke knacken. Rund 60 Prozent der Exporte gehen in die Vereinigten Staaten, mit großem Abstand gefolgt von Europa mit 24 Prozent.

Kein Wunder, dass sich mittlerweile eine ganze Reihe von indischen CEOs in verantwortlicher Position bei US-Riesen wie Google, Microsoft und Adobe finden. Seit der Finanzkrise 2008 wird gezielt aus den USA nach Europa und Asien verlagert. Indien richtet den Blick verstärkt nach China als Markt für seine Software-Dienstleistungen, da das Reich der Mitte wegen des erheblichen indischen Handelsbilanzdefizits strategische Bedeutung gewonnen hat.

Der neueste Trend heißt in Indien wie in vielen Industrieländern E-Commerce. Hier gibt es die weltweit dritthöchste Anzahl von Internetnutzern nach China und den USA (die man noch in diesem Jahr überholen dürfte), nämlich 240 Millionen (wovon 70 Prozent mit Mobilgeräten online gehen). Das hat zu einem wahren Boom geführt: 3100 eingetragene Start-ups machen Indien zum viertgrößten Start-up-Zentrum weltweit. Immerhin acht „Unicorns“ (Unternehmen, die spätestens zehn Jahre nach der Gründung mit mindestens einer Milliarde Dollar bewertet werden) verzeichnet das Land; in Europa sind es neun. Rund vier Milliarden Dollar pumpten die Anleger 2014 in den indischen Markt. Mittlerweile investieren die indischen IT-Großunternehmen vermehrt in die Grundlagenforschung und erwerben Hightech-Start-ups. Denn eine Führungsposition in der Automatisierungswelle und stetige Innovationen für Software-­Lösungen sind der Schlüssel dafür, in der Branche nicht an Bedeutung zu verlieren.

Murali Nair

Chalo America

→ „Auf nach Amerika“ ist nicht nur der Titel eines Bollywood-Films, sondern immer noch das Motto ganzer Legionen von Indern. Rund drei Millionen Menschen mit indischen Wurzeln leben heute dort. Doch die Geschichte der Auslandsinder beschränkt sich nicht auf die USA.

In seiner bisher relativ kurzen Amtszeit von anderthalb Jahren ist Premierminister Narendra Modi nun schon zwei Mal in den USA gewesen. Und das hat nur begrenzt mit seiner Freundschaft zu Präsident Obama zu tun, den er gern mit seinem Vornamen Barack anspricht. Gut drei Monate nach seinem Wahlerfolg sprach Modi im September 2014 vor 20 000 Menschen im Madison Square Garden in New York, was ihm in amerikanischen Medien den Vergleich mit einem Rockstar einbrachte.

Genau ein Jahr später war Modi wieder in den Vereinigten Staaten. Dieses Mal, um Investoren nach Indien zu locken. Es gibt gute Gründe für Modis Roadshows. „Chalo America“ (Auf nach Amerika) ist nicht nur der Titel eines Bollywood-Films, sondern immer noch das Motto ganzer Legionen ­junger Inder. Nach Angaben der UNESCO studierten 2010 mehr als 200 000 Inder im Ausland, davon mehr als die Hälfte in den Vereinigten Staaten. Laut Erhebungen des Forschungsinstituts Pew in Washington leben rund drei Millionen Menschen mit indischen Wurzeln in den USA.

Und sie sind ausgesprochen erfolgreich. Mehr als 70 Prozent haben einen Universitätsabschluss (Bachelor und höher). Ihr jährliches Haushaltseinkommen ist mit 88 000 Dollar doppelt so hoch wie das der Durchschnittsamerikaner. Viele von ihnen sind erfolgreiche Unternehmer und Vorstände, die gern in Indien investieren würden – wenn die Voraussetzungen stimmen. So traf Modi den Microsoft-CEO Satya Nadella und Google-CEO Sundar Pichai.

Doch die Geschichte der Auslands­inder beschränkt sich nicht auf die USA. Insgesamt leben mehr als 25 Millionen Menschen im Ausland, die indische Wurzeln haben. Sie werden in NRI (indische Bürger, die im Ausland leben) und PIO (Personen indischen Ursprungs) unterteilt. Es gibt sogar ein eigenes Ministerium in Neu-Delhi, das sich um ihre Angelegenheiten kümmert: das Ministry of Overseas Indian Affairs.

„Die Diaspora ist etwas ganz Besonderes für Indien“, heißt es euphorisch auf einer Seite des indischen Außenministeriums. „In fernen Ländern lebend, haben ihre Mitglieder spektakuläre Erfolge in ihren Berufen durch Entschlossenheit und harte Arbeit erzielt. Gleichzeitig haben sie ihre emotionale, kulturelle und spirituelle Beziehung zu Indien bewahrt.“

Neben den Indern, die vor allem zur Ausbildung in westliche Länder gehen (weitere beliebte Länder sind Kanada, wo mehr als eine Million Inder leben, und Großbritannien mit 1,4 Millionen), zieht es nach wie vor jedes Jahr Millionen von Menschen auf Jobsuche ins Ausland. Mehr als zwei Millionen Inder arbeiten derzeit in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo sie mehr als 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die meisten von ihnen kommen aus südindischen Bundesstaaten wie Kerala, wo das Geld, das sie an ihre Familien überweisen, ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist. Nach Schätzungen betragen diese Überweisungen etwa zehn Milliarden Dollar im Jahr.

Darüber hinaus leben zahlreiche Inder inzwischen in der vierten und fünften Generation auf dem afrikanischen Kontinent (knapp drei Millionen), vor allem in Südafrika, auf Mauritius und auf Madagaskar. Viele kamen während der britischen Kolonialzeit, entweder um auf Plantagen zu arbeiten oder um Jobs in der Kolonialverwaltung anzunehmen, wie auch Mahatma Gandhi. Die meisten Menschen indischen Ursprungs leben aber im Nachbarland Nepal (rund vier Millionen); dank eines Gesetzes aus dem Jahr 2006 konnten viele Inder die nepalesische Staatsangehörigkeit annehmen.

Britta Petersen

Demografie

→ Indiens Bevölkerung ist jung, und sie wächst rasch. Doch bevor man die berühmte „demografische Dividende“ einstreichen kann, hat die Regierung in Neu-Delhi noch eine ganze Reihe von Hausaufgaben zu erledigen.

Seit der Unabhängigkeit 1947 hat sich die Bevölkerung Indiens mehr als verdreifacht, auf derzeit rund 1,25 Milliarden, was einem Anteil von etwa 18 Prozent an der Weltbevölkerung entspricht. Den Prognosen der Vereinten Nationen zufolge wird Indien in etwa sieben Jahren China als bevölkerungsreichstes Land der Welt ablösen. Allein in den zehn Jahren zwischen den letzten Volkszählungen 2001 und 2011 ist Indiens Bevölkerung um etwa 181 Millionen Menschen gewachsen. Das Wachstum ist zwar seit 1975 rückläufig und liegt derzeit bei 1,2 Prozent, allerdings scheint ein Bevölkerungsrückgang aufgrund des demografischen Trägheitseffekts noch in weiter Ferne.

Dabei ist die regionale demografische Entwicklung alles andere als einheitlich. Das Bevölkerungswachstum konzentriert sich auf die eher rückständigen Bundesstaaten im Norden des Landes; in vielen Bundesstaaten des Südens ist dagegen sogar ein Bevölkerungsrückgang aufgrund niedriger Geburtenraten zu erwarten oder bereits zu verzeichnen.

Indien hat dank des rasanten Bevölkerungswachstums und der gesunkenen Kindersterblichkeit eine vergleichsweise junge Bevölkerung. Laut Zensus 2011 liegt der Anteil der Bevölkerung unter 15 Jahren bei knapp 30 Prozent, der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) bei etwa 65 Prozent und der Anteil der über 64-Jährigen bei nur etwas mehr als 5 Prozent.

Auffallend ist das verzerrte Geschlechterverhältnis zuungunsten von Frauen. Man spricht in diesem Zusammenhang oft von „Indiens verlorenen Töchtern“. Obwohl sich das Verhältnis in den vergangenen zwei Jahrzehnten leicht verbessert hat, gibt es in Indien pro 1000 Männer lediglich 940 Frauen – infolge des geringen Stellenwerts ist, den Frauen haben. Wegen der Bevorzugung von Söhnen werden weibliche Föten trotz Verbots abgetrieben, Mädchen werden sys­tematisch vernachlässigt und häufig misshandelt, was wiederum die weibliche Kindersterblichkeit erhöht.

Der demografische Wandel ist für Indien zugleich Chance wie Bürde. Die junge Bevölkerung, das bis etwa 2040 wachsende Arbeitskräftereservoir und das daraus resultierende geringe Abhängigkeitsverhältnis (Arbeitnehmer haben verhältnismäßig weniger Kinder und Alte zu versorgen) versprechen einen komparativen Vorteil gegenüber alternden Gesellschaften wie China und Japan. Die Kehrseite: Jedes Jahr drängen zwischen acht und neun Millionen Menschen auf den Arbeitsmarkt. Die Zahl der neuen Stellen wird nicht die Arbeitsplatznachfrage decken können, da das hohe Wirtschaftswachstum (getragen durch den Dienstleistungssektor) in den vergangenen zwei Jahrzehnten wenig beschäftigungsintensiv ausgefallen ist. Indien steht also vor der Herausforderung, die Schaffung von Arbeitsplätzen zu fördern, unter anderem indem es den Arbeitsmarkt neu reguliert. Doch das ist nicht alles: Es gilt, Infrastruktur sowie Bildungs- und Gesundheitssysteme auszubauen, die Produktivität in der Landwirtschaft zu steigern, Korruption zu bekämpfen und die Diskriminierung von Frauen zu beenden. Andernfalls wird es schwer für Indien, sein Wirtschaftswachstum nachhaltig zu steigern.

Daniel Neff

Filmindustrie

→ Bollywood boomt: Zwar macht man weniger Umsatz als das große Vorbild, doch ist das vornehmlich den billigen Ticketpreisen geschuldet. Und der kulturelle Einfluss, den die indische Traumfabrik ausübt, ist ohnehin kaum zu überschätzen.

Wenn die Filmindustrie eines Landes in einem kleinen Wirtschaftslexikon wie diesem eine prominente Rolle spielt, dann muss sie ziemlich groß sein: Bollywood, wie die indische Traumfabrik in Anlehnung an Hollywood liebevoll genannt wird, ist in der Tat nicht nur groß, sondern darüber hinaus auch noch mit einer Soft Power ausgestattet, die für Europäer kaum vorstellbar ist. Der Begriff Bollywood (nach dem früheren Namen der Stadt Mumbai), den wir hier der Einfachheit halber für die gesamte indische Filmindustrie verwenden, meint eigentlich nur die Hindi-Filmindustrie; aber auch die Industrien in verschiedenen Landessprachen sind wirtschaftlich stark und kulturell einflussreich. Der erste Stummfilm wurde bereits 1913 in Indien produziert; 1930 brachte Indien jedes Jahr rund 200 Filme auf den Markt.

Heute werden in Bollywood jährlich mehr als 1500 Filme veröffentlicht. Damit ist Indien mit Abstand der größte Filmproduzent der Welt. Nach einem Bericht der indischen Handelskammer FICCI in Zusammenarbeit mit der Unternehmensberatung KPMG soll die indische Filmindustrie bis 2017 jedes Jahr um 11,5 Prozent wachsen und dann einen Umsatz von umgerechnet 3,1 Milliarden Dollar erreicht haben.

Damit macht Bollywood zwar weniger Kasse als der US-Konkurrent Hollywood, doch das ist in erster Linie den billigeren Ticketpreisen in Indien geschuldet. Nach verkauften Karten führt Bollywood mit 3,3 Milliarden im Jahr deutlich vor Hollywood mit etwa zwei Milliarden. Laut ­FICCI trug die Filmindustrie 2013 ca. 0,5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei und beschäftigte rund 1,8 Millionen Menschen.

Doch die nackten Zahlen sagen relativ wenig über den enormen kulturellen Einfluss aus, den die indische Traumfabrik im In- und Ausland ausübt. Bollywood-Schauspieler und -Schauspielerinnen wie Salman Khan, Shahrukh Khan, Katrina Kaif und Deepika Padukone beeinflussen nicht nur die Mode der Jugend. Wenn Bollywood gesellschaftlich heiße Themen aufgreift wie Homosexualität, Drogensucht in der Modewelt oder den Stress im indischen Schulsystem, macht das Thema garantiert über mehrere Wochen hinweg Schlagzeilen. Seit jeher leisten Filme damit auch einen Beitrag zum Selbstverständnis Indiens.

Da indische Filme auch in Afrika, dem Nahen Osten und im übrigen Asien weit verbreitet sind, bestimmen sie das Image Indiens in diesen Ländern und tragen viel zur Soft Power von Delhi bei. In Afghanistan etwa steht Bollywood bei der Jugend hoch im Kurs und beeinflusst damit die Sicht auf Indiens politische Rolle in der Region – kein Wunder, dass man diese hier ausgesprochen positiv sieht. Auch die indische Tourismusindus­trie zieht nicht geringen Nutzen aus dieser Sogwirkung.

Andere Industrien, die von Bollywood profitieren, sind die Modebranche, die Werbeindustrie und die Musikbranche. 70 Prozent der indischen Musikindustrie hängen direkt von Bollywood ab. Schauspielerinnen und Schauspieler sind zudem noch stärker als bei uns beliebte Ikonen in der Werbung. Kino-Veteran Amib­tabh Bachchan (73) wirbt für fast alles – vom Zement über Speiseöl bis zum Internethandel für Babybedarf.

Weiteres Indiz für den hohen gesellschaftlichen Stellenwert Bollywoods ist die Tatsache, dass regelmäßig Schauspieler in die Politik wechseln – etwa Jayalalithaa Jayaram, Ministerpräsidentin von Tamil Nadu, oder Nara Chandrababu Naidu, Ministerpräsident in Andhra Pradesh. Amitabh Bachchan, der bis heute beliebteste Schauspieler Indiens, war Abgeordneter im Parlament in Neu-Delhi; seine Frau Jaya ist es bis heute.

Britta Petersen

Infrastruktur

→ Um geschätzte 2 Prozent höher könnte das indische Wirtschaftswachstum jährlich ausfallen, gäbe es nicht die Infrastrukturdefizite. Ob Straße, Schiene oder Strom: Überall ist der Wurm drin. Immerhin scheint es, als habe die Regierung das erkannt.

Man kennt die Bilder: Überfüllte Straßen, auf denen es offenbar an jeglicher Straßenverkehrsordnung fehlt, überladene Züge mit Menschen auf dem Dach, dazu Nachrichten von Zugunglücken, wie zuletzt im August 2015. Indiens Eisenbahnnetz stammt größtenteils noch von den ehemaligen britischen Kolonialherren. Seit der Unabhängigkeit 1947 wurde es nur um rund 11 000 Kilometer erweitert.

Indien verfügt heute zwar über ein vergleichsweise langes Streckennetz, doch es ist alles andere als engmaschig. Ein Großteil der Technik ist veraltet, nur etwa ein Drittel des Netzes ist elektrifiziert. Die staatliche Eisenbahn arbeitet hoch defizitär. Zwar nutzen täglich an die 23 Millionen Passagiere das Bahnnetz, die Fahrpreise sind aber viel zu niedrig, um kostendeckend arbeiten zu können. Die Gehälter und Renten der 1,4 Millionen Beschäftigten der Eisenbahn (der weltweit achtgrößte Arbeitgeber) sowie Korruption und Missmanagement haben ihr Übriges dazu beigetragen, dass das Eisenbahnnetz hoffnungslos veraltet und marode ist. Die Folge sind zahlreiche Unfälle mit Todesopfern – allein in diesem Jahr waren es schätzungsweise 25 000.

Wenn Indien tatsächlich langfristig mit China konkurrieren will, dann sind nach Schätzungen der Weltbank um die 750 Milliarden Dollar an Investitionen in die Infrastruktur des Landes notwendig. Gäbe es keine Infrastrukturdefizite, könnte das Wirtschaftswachstum jedes Jahr um geschätzte 2 Prozent höher ausfallen. Gründe für die mangelhafte Infrastruktur sind unter anderem die – über Jahrzehnte hinweg – viel zu geringen Investitionen.

Um das Eisenbahnnetz schneller, sicherer und effizienter zu gestalten, hat die Regierung Modi im aktuellen Haushalt Investitionen von 137 Milliarden Dollar geplant. Priorität haben neben einem Ausbau des Netzes die Schaffung von zwei Frachtkorridoren, um der steigenden Nachfrage nach Güterverkehrskapazitäten gerecht zu werden. Daneben sollen Hochgeschwindigkeitstrassen geschaffen werden – etwa zwischen Delhi und Mumbai. Die konkrete Umsetzung der Pläne erfolgt allerdings oft eher schwerfällig. Auch ist fraglich, ob die kostenintensive ­Schaffung von Hochgeschwindigkeits­trassen nicht zu Lasten von Modernisierung und Erweiterung des bestehenden Schienennetzes geht.

Der wichtigste Verkehrsträger in Indien bleibt die Straße, auf der geschätzte 65 Prozent des Waren- und rund 80 Prozent des Personenverkehrs befördert werden. 40 Prozent davon entfallen auf die nationalen und regionalen Schnellstraßen, die allerdings nur einen Bruchteil (2 Prozent) des gesamten Straßennetzes ausmachen. Im „National Highway Development Program“ wurde bereits 1998 das ehrgeizige Ziel festgelegt, das nationale Schnellstraßennetz um 20 Kilometer pro Tag auszubauen; derzeit liegt der Schnitt jedoch gerade einmal bei zehn Kilometer.

Hinzu kommt, dass die bestehenden Straßen oft von sehr schlechter Qualität sind und nur unzureichend gewartet werden. Durch den wachsenden Verkehr, die vielen Verkehrshindernisse (Tiere, Menschen, Gegenstände auf der Fahrbahn) und die schlechte Fahrbahnqualität sind Höchstgeschwindigkeiten von 30 bis 40 Stundenkilometern – auch auf den Schnellstraßen – keine Seltenheit. Neben den höheren Transportkosten wegen der schlechten Straßennetze beklagt die Industrie vor allem hohe Kosten durch Transportschäden.

Zudem sind viele ländliche Gemeinden bis heute nicht an das ­Straßennetz angeschlossen. Und dort, wo Straßen entstehen, sind diese oft aufgrund von Misswirtschaft, Korruption, Fehlplanung und Naturkatastrophen sehr schnell wieder reparaturbedürftig. Im wohlhabenderen Süden des Landes sieht die Lage allerdings wesentlich besser aus als im Norden.

Indiens Exportgüter werden hauptsächlich per Schiff umgeschlagen, da der Handel mit den unmittelbaren Nachbarn (Pakistan, Nepal, Bangladesch und Bhutan) nur einen Bruchteil des gesamten Handels ausmacht und der Außenhandel aufgrund der geografischen Lage des Landes nur per Schiff kosteneffizient möglich ist. Der Handel erfolgt über 13 Seehäfen, die heute schon an der Kapazitätsgrenze operieren. Ein Hauptproblem ist die mangelnde Effizienz beim Warenumschlag, denn sie führt zu hohen Liegezeiten und damit zu höheren Kosten. Eine Modernisierung der Hafeninfrastruktur ist dringend notwendig. Immerhin verfügt Indien über ein brauchbares Flughafennetz, dem aufgrund der großen Entfernungen im Land und den vergleichsweise langsamen und schlechten Alternativen eine immer größere Bedeutung zukommt.

Und dann sind da noch die ständigen Stromausfälle, von denen weite Teile des Landes betroffen sind; geschätzte 75 Millionen Haushalte vor allem in ländlichen Gebieten haben noch immer keinen Zugang zu Elektrizität. Das Stromnetz ist marode und nicht in der Lage, den Bedarf zu decken. Das ist zum Teil Folge einer verfehlten Politik, die den meist staatlichen Stromverteilungskonzernen nicht erlaubt, kostendeckende Tarife von privaten Kunden zu verlangen. Das Geld holt man sich zum Teil von den Geschäftskunden zurück – mit erheblichen Folgen: Aufgrund der hohen Energie- und Transportkosten sind viele indische Produkte nicht wettbewerbsfähig.

Neben neuen Infrastrukturprojekten plant die Regierung Modi derzeit die Schaffung von großen Industriekorridoren (etwa zwischen Delhi und Mumbai) und die Errichtung hundert so genannter Smart Cities. Diese Pläne sind richtig und waren im Grunde überfällig. Nur, ist es auch genug? Das Budget für den Ausbau von Straßen, Eisenbahnen, Brücken und Häfen ist für die kommenden vier Jahre um 25 Prozent angehoben worden. Ob das ausreicht und das Geld effizient eingesetzt wird, ist allerdings noch ebenso offen wie die Frage, ob sich ausreichend private Investoren finden werden, um die Kosten zu stemmen.

Daniel Neff

Make in India

→ Das Ziel ist ambitioniert: Die Regierung Modi möchte Indien in einen globalen Produktionsstandort verwandeln, das Wirtschaftswachstum ankurbeln und Jobs für die wachsende Bevölkerung schaffen. Besonders in der Wirtschaft sind die Erwartungen hoch.

Als Premierminister Narendra Modi in diesem Frühjahr die Eröffnungsrede der Hannover-Messe hielt, nutzte er die Gelegenheit, den versammelten deutschen Unternehmensführern seine „Make in India“-Kampagne zu präsentieren. Indien sei ein „Land des Wandels“, so Modi, und seine Kampagne sei für Indien, aber auch für die deutschen Unternehmen eine historische Chance.

Eine Chance, das ja – aber aufgrund der demografischen Entwicklung und des wenig beschäftigungsintensiven Wachstums in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch schlicht eine Notwendigkeit. Dabei ist „Make in India“ Teil eines umfassenden Plans der Regierung, das Wirtschaftswachstum wieder in Schwung zu bringen und gleichzeitig ausreichend Arbeitsplätze für die wachsende und junge Bevölkerung zu schaffen.

Das erklärte Ziel ist es, Indien in einen globalen Produktionsstandort zu verwandeln und den Anteil der Produktion – in direkter Konkurrenz zu China – von derzeit 15 Prozent auf 25 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu erhöhen. Denn da die chinesische Gesellschaft altert, werden die Löhne dort künftig eher steigen, während ­Indiens junge Bevölkerung dazu beitragen dürfte, die Löhne auf einem relativ niedrigen Niveau zu halten. Damit wird Indien für Unternehmen interessant, die derzeit zum Beispiel noch in China produzieren.

Mit der „Make in India“-Kampagne will Indien auch das deutlich freundlichere Wirtschaftsklima nach dem Regierungswechsel nutzen, um den Anteil der Direktinvestitionen zu erhöhen. Seit seinem Amtsantritt hat Premierminister Modi bereits 26 Länder bereist – darunter neben Deutschland auch die Vereinigten Staaten, China, Russland, Brasilien, Japan, Frankreich, Australien und Kanada –, um für seine Pläne zu werben.

Gleichzeitig versucht man, die Rahmenbedingungen für ausländische Investoren zu verbessern, etwa durch die Einführung von E-Governance-Plattformen (mit deren Hilfe sich Genehmigungsverfahren beschleunigen lassen und die Korrup­tion eingedämmt werden kann) und durch eine Anhebung der Investitionsobergrenzen in ausgewählten ­Industriezweigen.

Als Investitionsziele hat die Regierung 25 Industriezweige ausgemacht, unter anderem die Automobilproduktion, Biotechnologie, Chemie, Pharmazie, IT, Tourismus, Textil- und Kleidungsindustrie sowie Lebensmittelverarbeitung. Daneben wirbt man mit Blick auf die ehrgeizigen Infrastrukturprojekte der Regierung gezielt um ausländische Direktinvestitionen im Bau-, Eisenbahn-, Luftfahrt- und Energiesektor. Eine Reihe dieser Industriezweige, insbesondere die Öl-, Gas-, Kohle- und Schwerindustrie, das Transportwesen, Banken und Versicherungen, wird noch immer überwiegend von öffentlichen und halböffentlichen Unternehmen dominiert. Doch die Regierung hat vor, diese Zug um Zug zu privatisieren.

Daneben gibt es weitere Ansätze, mit deren Hilfe man das Wachstum ankurbeln möchte: Seien es „Skill India“, eine Initiative zur Förderung der Berufsbildung von Jugendlichen, die Einführung einer flächendeckenden digitalen Verwaltung („Digital India“), die Schaffung von Wohnraum für alle („Housing for all“), die Errichtung von 100 neuen Satellitenstädten („Smart Cities“) oder Maßnahmen zum Ausbau der Infrastruktur und der Energieversorgung.

Doch die Resonanz auf die „Make in India“-Kampagne ist bislang eher verhalten, viele Investoren bleiben zurückhaltend. Das liegt vor allem an den schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit; man ahnt, dass sich ein Wandel zum Besseren nicht über Nacht einstellen wird.

Noch immer sind Korruption, über-
bordende Bürokratie, die schlechte Infrastruktur und Energieversorgung, die teilweise schlecht ausgebildeten Arbeitskräfte sowie die mangelnde Rechtssicherheit gravierende Investitionshemmnisse. Hinzu kommt, dass es in einer stagnierenden Weltwirtschaft nicht unbedingt leichter wird, das nötige ausländische Kapital zu mobilisieren. Die Privatwirtschaft erwartet, dass Indien zunächst eigene Schritte unternimmt und in das Land investiert.

Daniel Neff

Outsourcing

→ Wenn große US-Unternehmen ihre Geschäftsprozesse auslagern, dann heißt das heute „bangalorisieren“. Kein Wunder, ist doch Indien einer der führenden Player in Sachen „Business Process Outsourcing“. Nur: wie lange noch?

In einem wegweisenden Artikel über Unternehmensstrategien stellten die beiden Ökonomen C.K. Prahalad und Gary Hammel 1990 das Konzept der „Kernkompetenz“ vor. Ihre entscheidende Frage: Was besitzt ein Unternehmen an außergewöhnlichen Ressourcen und Fähigkeiten, und welche Routinearbeiten kann es an externe Dienstleister vergeben?

In der Branche heißt die Auslagerung von Geschäftsprozessen „Business Process Outsourcing“ (BPO). Bangalore wurde zu einem bevorzugten Ziel und „to bangalore“ zum feststehenden Begriff für das digitale Outsourcing aus Industrieländern nach Indien. Hauptgründe für die „Bangalorisierung“ sind die Alterung der Bevölkerung in den Industriestaaten, das steigende Qualifikationsniveau in den Schwellenländern, die Digitalisierung von Dienstleistungen und die rasante Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien. Treibende Kraft waren die amerikanischen multinationalen Unternehmen, die in Indien kostengünstige Dienstleister fanden und sich eines riesigen Potenzials gut ausgebildeter Kräfte bedienen konnten.

Dabei spielten drei Kategorien von Dienstleistungen die entscheidende Rolle: Unternehmensverwaltung, Supply-Chain-Management sowie Vertrieb und Marketing. Hier konnten sich die Dienstleister von der einfachen Datentranskription bis hin zur Übernahme des gesamten Prozesses hinaufarbeiten. Heute setzen die BPO-Dienstleister den Schwerpunkt auf Bereiche wie das Bankwesen. Die indischen Tochterfirmen der Multis, etwa GE, haben sich von Kostenstellen zu Profitcentern entwickelt und bieten eigene Dienstleistungen an.

In den vergangenen zehn Jahren hat die indische BPO-Branche ihre Umsätze enorm gesteigert: von 3,2 auf 26 Milliarden Dollar; damit ist sie das bevorzugte Ziel der 104 Milliarden Dollar schweren globalen BPO-Branche. Allerdings führen neue Technologien wie Cloud-Computing oder Systeme wie „Business Process as a Service“ dazu, dass das klassische BPO an Bedeutung verliert. Zudem ergreifen die Industrieländer in steigendem Maße gesetzliche Maßnahmen zur Sicherung der heimischen Arbeitsplätze. Das hat indische Unternehmen veranlasst, vom bloßen Business Process Outsourcing zum Knowledge Process Outsourcing (KPO) überzugehen. KPO beschreibt Outsourcing-Prozesse, die Urteilsvermögen und Spezialisierung in der ­Organisation von Abläufen voraussetzen. Der Schwerpunkt verlagert sich besonders im Finanzsektor vom reinen Support hin zu hochqualifizierten Spezialisten, die ihre Arbeit in Bangalore ebenso gut wie die Analysten an der Wall Street erledigen, allerdings zu einem Bruchteil der Kosten.

Doch ist es nachhaltig, nur mit Blick auf niedrige Kosten zu konkurrieren? Die Philippinen und China liefern Indien hier einen harten Wettbewerb. Dagegen dürfte es Delhis Führungsposition eher stärken, wenn man in verschiedenen Branchen entlang der Wertschöpfungskette vorankäme und sich neue Kooperationsmöglichkeiten mit global operierenden Multis erschlösse.

Murali Nair

Planung

→ Die sozialistische Planungskommission hat in Indien ausgedient. Ihre Nachfolgerin ist ein Thinktank, der eine Reihe von ehrgeizigen Initiativen gestartet hat. An ihrem Erfolg wird sich erweisen, ob sie einen Unterschied zur „alten“ Kommission ausmachen kann.

Eine der ersten Entscheidungen, die die Regierung von Premierminister Narendra Modi nach ihrem spektakulären Wahlerfolg 2014 traf, war die Abschaffung der so genannten Planungskommission. 65 Jahre sozialistisch inspirierter Wirtschaftsplanung kamen damit zu einem Ende.Kritiker unkten seit Langem, dass die Kommission vor allem dazu diente, Posten für ausrangierte Politiker zu finden.

Ersetzt wurde die altehrwürdige Institution Anfang dieses Jahres durch einen Thinktank mit dem Namen „NITI Aayog“, wobei das Kürzel NITI für „National Institution for Transforming India“ steht. Vorsitzender dieser Kommission ist Modi selbst; ihr ökonomischer Kopf ist der stellvertretende Vorsitzende Arvind Panagariya, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Columbia Universität in New York und ein ehemaliger Ökonom der Asian Development Bank.

Nach Aussagen der Regierung soll der neue Thinktank einen „kooperativen Föderalismus“ fördern und die Regierung in „strategischen und ­technischen“ Fragen beraten. Das „Team NITI“, wie es sich selbst nennt, umfasst neben Panagariya noch drei weitere Mitglieder: den Ökonomen Bibek Debroy, den früheren Staats­sekretär für Verteidigung Vijay K. ­Saraswat und den Agrarwissenschaftler Ramesh Chanda. Eine Untergruppe, die aus den Ministerpräsidenten mehrerer Bundesstaaten besteht, soll sich verschiedener Ini­tiativen der Regierung wie zum Beispiel der Mission „Sauberes Indien“ annehmen.

Außerdem wurden Task Forces zu den Themen „Berufliche Bildung“ und „Ländliche Entwicklung“ gegründet und eine Initiative zur Energiesicherheit gestartet. Seit Kurzem ist Arvind Panagariya auch Sherpa der indischen Regierung für die G-20- Gipfel. Am Erfolg dieser Initiativen wird sich erweisen, ob NITI Aayog einen nennenswerten Unterschied zur guten alten Planungskommission aus-
machen kann.

Britta Petersen

Smart Cities

→ Etwa 400 Millionen Inder werden bis 2050 vom Land in die Stadt ziehen. Zeit für nachhaltige urbane Lebens- und Wirtschaftsmodelle, Zeit für Smart Cities. Doch Erfolg wird dem neuen Projekt nur beschieden sein, wenn es gelingt, ausreichend Förderer zu gewinnen.

Ende Juni dieses Jahres stellte Premierminister Narendra Modi ein weiteres Vorzeigeprojekt seiner Regierung vor: Die Smart Cities Mission soll 100 Städte und Gemeinden zu „neuen Motoren für Wachstum“ machen – eine Form der Stadtentwicklung, wie es sie hier bislang nicht gab.

Prognosen der Vereinten Nationen zufolge werden bis 2050 rund 400 Millionen Inder vom Land in die Stadt ziehen. Das entspricht der zahlenmäßig größten Migration von Menschen in Städte weltweit. Die urbanen Ballungsräume Indiens haben bereits jetzt mit den Menschenmassen zu kämpfen. Infrastrukturbereiche wie Abwasser, Transport und Strom sind unzureichend ausgebaut.

Zwar ist Indien nur zu rund 30 Prozent urbanisiert, doch erwirtschaften seine Städte rund 60 Prozent des BIP, Tendenz steigend. Allerdings erschweren infrastrukturelle Defizite die Wachstumsaussichten. Kein Wunder, dass man europäische Vorstellungen von Smart Cities übernommen hat und die Idee von funktionierenden, wenn auch sterilen Lebenswelten erstrebenswert findet. Fußt das europäische Konzept allerdings auf der Idee, bestehende Infrastrukturen durch eine stärkere Einbindung von Informations- und Kommunikationstechnologien zu optimieren und neu zu vernetzen, so müssen diese Strukturen in Indien vielerorts erst geschaffen werden.

Zu den Zielen der Mission zählt die Einführung von intelligenten ­Lösungen für die Nutzung der verfügbaren Bausubstanz, Ressourcen und Infrastruktur, die Verbesserung der urbanen Lebensqualität sowie die Sicherung einer sauberen Umwelt. Auch den Mangel an Arbeitsplätzen soll eine Smart City beheben können. Flankiert wird die Mission durch ein Stadt­entwicklungsprogramm, die Atal Mission for Rejuvenation and Urban Transformation (AMRUT), die rund 500 Städte unterstützen soll.

Die Pläne für die smarten Städte können mit ihren Maßnahmen auf zwei unterschiedliche Ebenen abzielen: einerseits auf die Entwicklung bestehender urbaner Räume durch Sanierung oder Umgestaltung, andererseits auf die Planung komplett neuer Vorhaben im Umkreis bestehender Städte. Das Ministerium für Stadtentwicklung hat einen Wettbewerb ausgeschrieben, bei dem Städte und Gemeinden sich online bewerben können. Rund sieben Milliarden Euro stellt die Regierung den Gewinnerstädten über einen Zeitraum von fünf Jahren in Aussicht. In einem dreistufigen Auswahlprozess werden die 100 zukünftigen Smart Cities bestimmt.

Ist die Methode einer solchen Online-Ausschreibung vergleichsweise neu, so ist die Vorgehensweise, die knappe Budgetierung mithilfe von Public Private Partnerships (PPP) aufzufangen, bekannt. Bereits bei der Schaffung des Industriekorridors zwischen Delhi und Mumbai (Delhi-Mumbai Industrial Corridor, DMIC), einer Highspeed-Verbindung zwischen den beiden Städten, wurde auf japanische Unterstützung gesetzt.

Beim Projekt Finance-Tec City Dholera, ebenfalls im Einzugsbereich des DMIC gelegen, blieben die Zahlungen des Hauptinvestors dagegen aus. Das Projekt Smart City Kochi in Südindien wurde bereits 2007 in Kooperation mit Tecom Investments, einer Beraterfirma aus Dubai, gestartet. Das erste Gebäude wurde 2015 fertig gestellt. Uneinigkeiten hinsichtlich der Landnutzung zwischen Regierung und Investor sowie politische Gründe verzögerten den Prozess.

Im Rahmen der Smart Cities Mission soll etwa die Hälfte der geplanten Kosten für die Maßnahmen durch die Bundesstaaten, Städte oder Gemeinden aufgebracht werden – mit Hilfe von PPP. Im Planungs- und im ­laufenden Auswahlprozess waren multinationale Firmen beteiligt. Beraterfirmen aus dem In- und Ausland und internationale Unterstützerorganisationen wie die Weltbank, KfW oder UN Habitat sollen die Pläne für die künftigen Smart Cities erstellen und gemeinsam mit den Städten umsetzen. Der Erfolg der Mission wird auch davon abhängen, ob es den Bundesstaaten und Kommunen gelingt, ­finanzkräftige Unterstützer zu gewinnen.

Luise Lina Schulz

Ungleichheit

→ Wie lässt sich die extreme Armut in Indien bekämpfen, was kann man gegen die ungleichen Lebensverhältnisse tun? Nicht alle Versuche indischer Regierungen, hier Abhilfe zu schaffen, waren erfolgreich. Doch einige Fortschritte sind zu verzeichnen.

Nicht erst seit seiner Unabhängigkeit begleitet Indien das Problem der Armut und einer ungleichen Verteilung von Lebenschancen. Hatte der erste Premierminister Jawaharlal Nehru versucht, die Armut durch gesteuerte Entwicklung in einem halbsozialistischen Wirtschaftssystem zu beseitigen, so wurden die raren Erfolge dieser Politik durch das rasante Bevölkerungswachstum und die neuen sozialen Herausforderungen weitgehend zunichte gemacht.

Zwar ist die Armutsrate insbesondere in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gesunken. Doch noch immer lebt über ein Viertel aller Inder unter der internationalen Armutsgrenze von 1,25 Dollar pro Tag, was einem Anteil von rund einem Drittel der Armen weltweit entspricht. Eine Mehrheit der Armen lebt auf dem Land und entstammt den unteren Kasten oder gehört zu den so genannten „registrierten Stämmen“.

Zudem ist die Ungleichheit trotz des rasanten Wirtschaftswachstums seit der Liberalisierung der Wirtschaft im Jahre 1991 größer geworden. Bei einer ganzen Reihe von Sozialindikatoren wie der Kindersterblichkeit schneidet Indien im regionalen Vergleich schlechter ab als seine ärmeren Nachbarn. Im „globalen Hungerindex“ belegt das Land einen unrühmlichen 15. Platz.

Die Gründe dafür sind vielfältig: Seit der Unabhängigkeit wurden viele Programme zur Armutsbekämpfung eingeführt – vielleicht zu viele. Die Folgen waren eine Fragmentierung der Programme und eine chronische Unterfinanzierung vieler von ihnen. Daneben haben eine schlechte Zielgruppenorientierung, Misswirtschaft, Korruption, politische Einflussnahme und schließlich eine schwerfällige Bürokratie die Wirksamkeit der Programme erheblich beeinträchtigt.

Bildungspolitisch hat Indien einige Erfolge errungen: Nahezu alle Kinder werden eingeschult, die geschlechtsspezifischen Unterschiede beim Schulbesuch sind drastisch gesunken, die Analphabetenrate ist auf 29 Prozent gefallen. Allerdings lässt die Qualität der Bildungseinrichtungen oft zu wünschen übrig. Und die Abbruchquote in der Sekundarstufe ist nach wie vor vergleichsweise hoch.

Auch mit Blick auf verschiedene Gesundheitsindikatoren hat man Fortschritte gemacht. Die Lebenserwartung ist signifikant gestiegen, einige Krankheiten wie Kinderlähmung sind nahezu verschwunden. Die Kinder- und Müttersterblichkeit liegen allerdings immer noch auf einem im internationalen Vergleich hohen Niveau. Und Indien verfügt zwar über ein beitragsfreies Gesundheitssystem, doch befindet sich dieses System in einem prekären Zustand – besonders auf dem Land, wo fast 70 Prozent der Bevölkerung leben.

Die Lücke, die das marode Gesundheitssystem hinterlässt, wird in steigendem Maße durch – oft teure – private Einrichtungen gefüllt. Auch für die Herausforderungen einer älter werdenden Bevölkerung und der damit einhergehenden Zunahme an Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder Herz- und Gefäßkrankheiten ist das staatliche System schlecht gerüstet.

Zudem gibt es nach wie vor erhebliche regionale Unterschiede beim Zugang zu Bildung und Gesundheit. Man versucht, dem entgegenzuwirken, indem man für benachteiligte Kasten und Stammesangehörige gemäß ihrem Bevölkerungsanteil eine bestimmte Menge an Studien- und Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst reserviert.

Eine der bedeutsamsten Veränderungen der Sozialpolitik wurde im Jahre 1993 eingeläutet. Da man erkannt hatte, dass zentral gesteuerte Programme ineffizienter waren als kommunal oder lokal gesteuerte, übertrug man entwicklungspolitische Aufgaben auf die unterste Verwaltungsebene, auf die Dorfräte. Und im Jahre 2004 nahm man einen weiteren Politikwechsel vor: Seither konzentriert man sich auf rechtebasierte Programme, deren Leistungen einklagbar und für alle Bürger gleichermaßen zugänglich sind.

Rund 90 Prozent der indischen Berufstätigen sind im informellen Sektor beschäftigt; sie haben keinen Zugang zur staatlichen Sozialvorsorge und kaum Schutz vor Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit. Aus diesem Grund plant die Regierung die Einführung neuer Programme, etwa ein umfassendes Sozialversicherungssystem für Rente, Krankheit und Unfall sowie ein Haus- und Wohnungsbauprogramm.

Daniel Neff

Bibliografische Angaben

IP-Länderporträt 3, November 2015-Februar 2016, S. 32-49

Teilen