Kasachstan: Der ewige Balanceakt
Mit Schaukelpolitik und Mehrgleisigkeit versucht der zentralasiatische Staat, mit allen irgendwie zurande zu kommen: mit Russland, China und dem Westen – und nicht zuletzt mit sich selbst. Das bringt eine Menge Probleme mit sich, geopolitisch und zuhause. Beobachtungen aus Almaty.
„Kasachstan gelingt es, sich sowohl mit China und Russland als auch mit den USA zu arrangieren. Das ist ziemlich gut für ein Land, das zwischen zwei Großmächten navigieren muss.” Jessica Neafie, Wissenschaftlerin an der Nasarbajew-Universität in der kasachischen Hauptstadt Astana, beobachtet die Geopolitik Kasachstans seit vielen Jahren – und damit die Schaukelpolitik, die das Land zur Überlebensstrategie erhoben hat. So soll der militärisch übermächtige Nachbar Russland nicht gereizt, der Westen nicht verprellt und dem ökonomisch dominanten China eine Tür geöffnet werden; dies alles aber stets nur so weit, wie es dem Land genügend Spielräume lässt. „Das“, so Neafie, „sagt schon sehr viel über die Zukunft des Landes aus.”
„Multi-Vektor-Ansatz” heißt der Begriff, den man dafür in Kasachstan verwendet und den man in fast jedem Gespräch zu hören bekommt. Aktuelles Beispiel für diese Mehrgleisigkeit ist der Umgang mit den westlichen Sanktionen gegen Russland. Zwar hat der kasachische Präsident Kassim-Schomart Tokajew noch im September 2023 bei einem Besuch in Berlin beteuert, dass er die Strafmaßnahmen gegen Russland wegen des Krieges gegen die Ukraine mitträgt. Doch nicht nur die Außenhandelszahlen und ein Blick auf das Treiben an den Grenzen Kasachstans zeichnen ein anderes Bild.
Verdächtiger Anstieg von Dual-Use-Gütern
Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 sind die Einfuhren von Informationstechnologie wie Halbleiter oder Mikrochips signifikant gestiegen. Gleiches gilt für industrielle Steuerungssysteme, Werkzeugmaschinen und Präzisionselektronik: sämtlich Güter, die als „dual use” gelten, d.h. neben zivilen auch für militärische Zwecke verwendet werden können. Die Nachfrage in Kasachstan, aber auch in Kirgistan ist dabei so stark gestiegen, dass sie nicht allein mit einem gewachsenen Bedarf der heimischen Industrie erklärt werden kann. Die Wahrheit ist vielmehr: Kasachstan ist ein wichtiges Transitland für Russland, das auf diese Weise die Sanktionen umgeht.
Hält also Kasachstan die Sanktionsregeln ein? „Natürlich nicht”, sagt Paolo Sorbello von der unabhängigen kasachischen Investigativplattform Vlast.kz. „Es gibt keinerlei Hinweise, dass die kasachische Seite Verletzungen der Sanktionsregeln ernsthaft nachgeht.” Denn nicht nur wird damit die russische Seite besänftigt, auch zahlreiche kasachische Mittelsmänner verdienen gut an dem illegalen Geschäft.
Begünstigt werden die Sanktionsumgehungen auch von der eurasischen Zollunion. Haben die Waren es erst einmal ins benachbarte Kirgistan geschafft, sind sie schon so gut wie in Kasachstan, denn an der kirgisisch-kasachischen Grenze gibt es de facto keine Kontrollen. Hinzu kommt die Leichtigkeit, mit der Russen, die in Kasachstan leben, dort weitgehend unbeobachtet ihre Geschäfte betreiben können. Dadurch ist ein grauer Markt entstanden, der sich schwunghaft entwickelt.
Ein Kunstwerk des Möglichen
„Ich kann offen sagen, dass unser Land das Sanktionsregime nur auf formaler Ebene unterstützt”, sagt auch Ruslan Izimov, China-Experte beim staatlichen Institut für Philosophie, Politikwissenschaft und Religionswissenschaft in Almaty. Izimov hält sich regelmäßig in China auf und beobachtet die Realitäten des grenzüberschreitenden Handels. „Tatsächlich werden die Sanktionen durch uns, durch China und durch Nordkorea umgangen.” Nach seiner Einschätzung ist dies der Preis, der dafür zu zahlen ist, damit sich Kasachstan eine gewisse Bewegungsfreiheit erhalten kann. Ein „Kunstwerk des Möglichen“ nennt Izimov diese Politik zwischen den Mächten. „Unser Hauptziel sollte sein, zu bewahren, was wir haben, und unsere Unabhängigkeit und Souveränität zu stärken.”
Doch die hat zuweilen enge Grenzen. Denn eine Farbenrevolution wie 2003 in Georgien oder 2004 in der Ukraine tolerieren die Nachbarn Kasachstans nicht. Als im Januar 2022, kurz vor dem russischen Überfall auf die gesamte Ukraine, Massenproteste Almaty und andere Städte Kasachstans erschütterten, wurden diese blutig niedergeschlagen. Über 200 Menschen verloren ihr Leben. Eine vollständige Aufarbeitung der Geschehnisse fehlt bis heute.
Auslöser der Proteste waren die wachsende Frustration über soziale Ungleichheit, anhaltende Korruption, die Machtkonzentration in den Händen einer Elite und der anhaltende Einfluss des ehemaligen Präsidenten Nursultan Nasarbajew, der trotz seines Rücktritts 2019 weiterhin als mächtige Figur galt. Die Kritik richtete sich schließlich auch gegen die Regierung von Präsident Tokajew und sein semiautoritäres politisches System.
Schließlich rief Tokajew die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) zu Hilfe, eine von Russland angeführte Allianz. Für einige Tage befanden sich daraufhin rund 2000 russische Soldaten im Land und verhinderten den Sturz des politisch angeschlagenen Präsidenten. Immerhin entmachtete Tokajew später Nasarbajew und kündigte Reformen an.
Von Reformen keine Spur
Doch der Reformeifer scheint bereits wieder erlahmt. Ein Beispiel dafür sind die Medien: So können zwar Webseiten wie vlast.kz oder das unabhängige Forschungszentrum Paperlab in Kasachstan existieren und auch regierungskritisch berichten. Doch wohl nur so lange, wie diese Organisationen ein Nischendasein führen. Seit Sommer müssen sich zudem sämtliche Medien einem weitaus restriktiveren Mediengesetz unterwerfen.
Die neuen Regeln erweitern den Begriff der Massenmedien auf Online-Publikationen und verpflichten diese zur Registrierung bei den Behörden sowie zu einer physischen Präsenz in Kasachstan. Vermutet die Regierung, dass Medien „Extremismus” propagieren, kann die Registrierung verweigert werden. Die vage Definition von Extremismus bietet viele Möglichkeiten, legitime Äußerungen zu sanktionieren. Nach Auffassung der Organisation Human Rights Watch ist dieses Gesetz nichts weniger als ein Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit des Landes.
Auf offiziellen Pressekonferenzen dürfen zudem nur noch Fragen zu Themen gestellt werden, die vorher von Regierungsseite festgelegt worden sind. Wer davon abweicht, riskiert seine Akkreditierung. Außerdem existieren finanzielle Abhängigkeiten, auf die sich die kasachischen Medien allerdings auch eingelassen haben. So bezahlt die Regierung Zeitungen und Plattformen dafür, dass diese über bestimmte Themen berichten. Für die kasachischen Medien mag dies eine wesentliche Einnahmequelle darstellen; aber das Verfahren steht dem Sinn eines unabhängigen Journalismus diametral entgegen.
Massive Einflussnahme erlaubt auch die Struktur des Verfassungsgerichts. Zwar bewerten es Beobachter als positiv, dass seit 2021 erstmals ein solches Verfassungsorgan existiert. Doch die Tatsache, dass die Richter direkt vom Präsidenten ernannt werden oder vom Parlament, das von der Präsidentenpartei dominiert wird, lassen an dessen Unabhängigkeit zweifeln.
Der Wunsch nach mehr Souveränität
Gleichwohl erlaubt das „Kunstwerk des Möglichen” auch Freiräume. So hat seit dem Beginn des Ukraine-Krieges eine nicht selten heftige Debatte über die Dekolonisierung eingesetzt. Dabei geht es um die Frage, wie Kasachstan das Erbe Russlands abschütteln kann – und eine eigene Identität findet. Dies beginnt bei der Rückbesinnung auf die kasachische Sprache, einer Turksprache, die vom Russischen verdrängt wurde. Oder es geht auch um das Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs. So wurde am 9. Mai, dem Tag des Sieges der Sowjetunion über das Deutsche Reich, bereits wiederholt keine Siegesparade abgehalten. Offiziell wird das zwar mit Haushaltszwängen begründet, hat aber tatsächlich mit dem Wunsch nach mehr Souveränität gegenüber Moskau zu tun – und mit der mehrheitlichen Ablehnung des Krieges in der Ukraine.
Das nukleare Erbe
Als Zeichen für die Emanzipation von Russland kann auch der inzwischen offenere Umgang mit dem nuklearen Erbe der Sowjetunion angesehen werden. Im kasachischen Semipalatinsk, einem Gebiet etwa so groß wie Belgien, wurden zwischen 1949 und 1989 mehr als 450 Atomtests durchgeführt – mit dramatischen Auswirkungen auf Menschen und Umwelt. Über Generationen hinweg litt die Bevölkerung rund um das Polygon-Testgelände unter hohen Krebsraten, Fehlbildungen und anderen Gesundheitsproblemen.
In ihrem 2022 publizierten Buch „Atomic Steppe” beschreibt die kasachische Wissenschaftlerin Togzhan Kassenova realistisch und kritisch, wie Kasachstan mit dieser Hinterlassenschaft umgehen musste, und unter welchen Umständen das Land ebenso wie Belarus und die Ukraine seinen kurzzeitigen Status als Atommacht abgab. Die Publikation ist auch deshalb politischer Zündstoff, weil seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine die Frage diskutiert wird, ob Kyjiws Aufgabe der Atomwaffen und das Vertrauen auf die Zusicherungen im Budapester Memorandum von 1994 ein zentraler strategischer Fehler war.
Pekings Einfluss
Aber wie weit ist Kasachstan bereit, Grenzen auszutesten? Wie sehr ist das Land mehr als nur ein Korridor zwischen den beiden großen Mächten? Denn China betrachtet ebenfalls aufmerksam, in welche Richtung sich Kasachstan entwickelt – und nimmt nach Kräften Einfluss. Die lange geltende Annahme, dass Russland für die Sicherheit der ehemaligen Sowjetrepublik zuständig ist, während China die wirtschaftlichen Belange im Blick hat, ist schon lange überholt.
China hat seine Militärkooperation mit den zentralasiatischen Nachbarn deutlich ausgebaut, insbesondere seitdem Russland Krieg gegen die Ukraine führt und dadurch erheblich militärisch gebunden ist. China nimmt an Militärübungen der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) teil – in Kasachstan, Usbekistan und Tadschikistan. Peking verkauft Überwachungstechnologien und Polizeiausrüstungen in die Region. Und speziell für Kasachstan hat der chinesische Präsident Xi Jinping 2022, nach Beginn der russischen Aggression gegen Kyjiw, sogar eine Sicherheitsgarantie abgegeben.
Xi betonte damals die Bedeutung der Beziehungen Pekings zu Astana und erklärte, China werde Kasachstan „entschlossen bei der Verteidigung seiner Unabhängigkeit, Souveränität und territorialen Integrität unterstützen“. Während eines Treffens der SOZ im Mai 2024 in der kasachischen Hauptstadt Astana erneuerte der chinesische Außenminister Wang Yi diese Haltung. China werde sich „entschlossen allen externen Kräften entgegenstellen, die versuchen, sich in Kasachstans innere Angelegenheiten einzumischen“. Dies konnte nicht nur als klare Warnung an Moskau gelesen werden, sondern auch als die Formulierung eines regionalen Machtanspruchs.
Warum China gewinnen wird
Diese Einschätzung teilt auch Konstantin Syroeszhkin, einer der renommiertesten China-Experten Kasachstans. Syroezhkin war viele Jahre Wissenschaftler am Institut für Strategische Studien, bis er im Februar 2019 unter dem bis heute ungeklärten Vorwurf des Landesverrats festgenommen und zu mehrjähriger Haft verurteilt wurde. Erst vor wenigen Monaten aus dem Gefängnis entlassen, hat sich seine Meinung zu den chinesischen Absichten in China nicht geändert: „China hat nicht nur in Kasachstan, sondern in ganz Zentralasien als Player die Bühne betreten. Und das für lange Zeit, wenn nicht für immer. Zudem: China gewinnt.”
Als jüngste Beispiele nennt er die Abschlussdokumente vom Schanghai-Gipfel in Astana dieses Jahr wie auch die Erklärung von Samarkand 2022. Beide trügen unübersehbar die Handschrift Chinas. Warum sich Peking so klar durchsetzen kann? „Weil China Ideen vorbringt, die für alle akzeptabel sind. Russlands Vorschläge hingegen sollen stets vor allem einem nützen – Russland selbst.”
Internationale Politik, online exklusiv, 02. Januar 2025
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