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02. März 2018

Instrument russischer Geopolitik

Ernste Bedenken sprechen gegen die Erdgaspipeline Nord Stream 2

Der Bau von Nord Stream 2 soll in diesem Jahr beginnen. Deutschland verspricht sich preisgünstiges Erdgas, um die Energiewende zu ermöglichen. Doch sind die Kosten hoch: für das Klima, die Umwelt, für Europas Unabhängigkeit und Energiesicherheit. Die Bundesregierung wird sich mit den Konsequenzen auseinandersetzen müssen.

In Berlin hat der Bau von Ostsee-Pipe­lines für russisches Erdgas viele Fürsprecher. Bundeskanzler Gerhard Schröder stellte die Weichen für die erste Nord Stream-Doppelleitung; seine Nachfolgerin Angela Merkel setzt sich nachdrücklich für den Bau von Nord Stream 2, einer zweiten und ebenso leistungsfähigen Doppelleitung, ein, die bis Ende 2019 fertiggestellt werden soll. Aus Berliner Sicht bietet die Erdgasversorgung durch die Ostsee große Vorteile – in erster Linie für Deutschland, aber angesichts der sinkenden Produktion der Niederlande, Dänemarks und Großbritanniens auch für Europa insgesamt.

Kurz- und mittelfristig brauche man mehr Erdgas, um aus der Atom­energie aussteigen zu können; insofern mache Nord Stream 2 die Energiewende überhaupt erst möglich, sagen die Fürsprecher in Berlin. Das russische Erdgas helfe Deutschland, seine CO2-Emissionen mittelfristig auf das geforderte Niveau zu senken. Noch dazu könne das Großprojekt als Mittel dienen, sich Russland pragmatisch anzunähern, ohne dabei die wegen der massiven russischen Völkerrechtsbrüche in der Ukraine verhängten Sanktionen zu lockern. Die neue Pipeline werde schließlich auch die deutsche Position als Knotenpunkt für die Weiterverteilung von russischem Erdgas in der EU stärken.

Doch gibt es auch massive Kritik an dem Großprojekt. Wird Nord Stream 2 überhaupt gebraucht? Daran bestehen mit Blick auf die fragwürdige Wirtschaftlichkeit der Pipeline und ihre langfristigen Auswirkungen auf die Klimapolitik große Zweifel. Auch belastet das Projekt die deutschen Beziehungen zu den Nachbarstaaten. Vor allem Polen und die Ukraine wehren sich aus wirtschaftlichen wie geopolitischen Gründen heftig gegen den Bau von Nord Stream 2.

Ostsee-Anrainer wie Schweden, Dänemark und Finnland haben ökologische Vorbehalte gegen eine zweite Erdgasdoppelleitung am Grund der Ostsee. Schweden und Dänemark ­haben daneben auch konkrete nationale Sicherheitsbedenken gegen den Bau. Aus EU-Sicht schließlich vergrößert Nord Stream 2 die Abhängigkeit von russischen Energieexporten und gefährdet die geplante Energieunion. Die Brüsseler Wettbewerbshüter äußern Bedenken, denn das neue Projekt würde die Vormachtstellung der russischen Gazprom verstärken. Bei Nord Stream ist Gazprom mit 51 Prozent Mehrheitsgesellschafter, bei Nord Stream 2 gehören der russischen Gesellschaft sogar 100 Prozent der Anteile, seit sich die anfangs beteiligten fünf europäischen Großkonzerne auf Druck der polnischen Wettbewerbshüter schon 2016 zurückzogen.

Bereits die erste Nord Stream-Leitung hatte zu heftigem Streit mit den östlichen EU-Staaten geführt. Umstritten war und ist auch die Rolle von Altkanzler Schröder als Fürsprecher staatlicher russischer Interessen und engem Freund von Präsident Wladimir Putin. Gleichwohl hatte die EU die Pipeline zu einem Energieinfrastrukturprojekt von gemeinsamem Interesse erklärt. Im November 2011 wurde der erste Strang, im Oktober 2012 der zweite Strang von Nord Stream in Betrieb genommen. Die Unterseeleitungen liefern seitdem russisches Gas aus Sibirien von Wyborg nahe der finnischen Grenze quer durch die Ostsee nach Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern.

Kapazität weit über Bedarf

Nord Stream 2 soll – genau wie die erste Doppelleitung – jährlich mindestens 55 Milliarden ­Kubikmeter (bcm) Erdgas aus Russland nach Deutschland liefern; zusammen sollen es also 110 bcm werden. Gegenwärtig beläuft sich der deutsche Erdgasverbrauch auf circa 80 bcm im Jahr, wovon etwas mehr als ein Drittel aus Russland gedeckt wird. Ein weiteres Drittel wird aus Norwegen geliefert, der Rest stammt aus einem kleinen Anteil Eigenproduktion und weiteren externen Lieferquellen.

Hinzu kommen Lieferungen per Transitleitungen über Land, über das Sojus-Erdgasnetzwerk durch die Ukraine, das früher 80 Prozent aller russischen Erdgaslieferungen nach Europa beförderte, sowie über die Jamal-Leitung durch Belarus und Polen, die bis zur Fertigstellung von Nord Stream ungefähr 20 Prozent der russischen Erdgaslieferungen nach Europa trug.

Bundeskanzlerin Angela Merkel versprach der Ukraine und Polen, dass diese Transportwege über Land auch in Zukunft gebraucht würden – ganz im Gegensatz zum Gazprom-Vorstandsvorsitzenden Alexei Miller, der öffentlich erklärte, das Sojus-Netz ab 2020 überhaupt nicht mehr nutzen zu wollen. Stattdessen solle das Erdgas für Westeuropa durch die Ostsee und Deutschland als Verteilerland transportiert werden. Das bedeutet, dass auch die an die Sojus-Leitung aus Sibirien angebundenen östlichen Länder künftig Erdgas über Deutschland beziehen würden.

Zusätzliche russische Lieferungen sollen durch die von Gazprom betriebene Doppelleitung TurkStream (31,5 bcm) durch das Schwarze Meer über Griechenland erfolgen. Der Bau begann im Mai 2017 und soll 2019 abgeschlossen sein. Europas Erdgasverbrauch müsste sprunghaft steigen, um all diese Leitungen auszulasten. Hinzu kommen die Importe von Flüssiggas (LNG), auf die man in der EU wegen der größeren Flexibilität setzt. Möglich geworden ist die verstärkte Nutzung durch die amerikanische Schiefergasrevolution. Sie ließ die Preise auf dem Weltmarkt fallen, da die große Nachfrage der USA nun von einheimischen Produzenten gedeckt werden kann.

Fürsprecher von Nord Stream 2 machen geltend, ­dass Erdgaslieferungen durch die Ostsee billiger seien als LNG-Anlieferungen. In diesem Preiskalkül werden die Kosten für den aufwändigen Leitungsbau allerdings nicht ausreichend berücksichtigt. Um diese Investitionen zu amortisieren, müssen die Erdgasleitungen über mehrere Jahrzehnte genutzt werden. Im Fall von Nord Stream 2 spricht Gazprom selbst von einer Nutzung über mindestens 50 Jahre, also bis zum Jahr 2069. Wie das mit den deutschen und europäischen Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen vereinbar sein soll, ist unklar.

Auch an Land dürften massive Investitionen notwendig werden. Um die enorme zusätzliche Menge an Erdgas weiterzuverteilen, die über Nord Stream 2 angeliefert wird, müssen neue Märkte in der EU erschlossen werden. Dies erfordert den Bau neuer Transportwege. Hinzu kommen Mehrkosten für die Verteilerinfrastruktur von der Küste bis zu den Endnutzern, die entweder von der öffentlichen Hand oder von den Endkunden getragen werden müssen.

Experten der IEA haben prognostiziert, dass der Erdgasverbrauch in Europa in den kommenden Jahren ­signifikant schrumpfen wird, unter anderem durch Energieeffektivierungsmaßnahmen. Sie halten Nord Stream 2 für unwirtschaftlich und vermuten, dass Gazproms Pläne politisch motiviert sind. Auch Experten der Europäischen Kommission gehen davon aus, dass der Erdgaskonsum in der EU sinkt. Erstens würden die erhöhten Investitionen in Energieeffizienz den Verbrauch insgesamt begrenzen; und zweitens werde der Bedarf an fossilen Brennstoffen infolge des Pariser Klimaabkommens im kommenden Jahrzehnt stark reduziert werden.

Durch Nord Stream 2 würde genau das Gegenteil bewirkt, befürchtet die EU-Kommission. Durch die hohen und erst langfristig profitablen Investitionen in die Pipeline werde enorm viel Kapital gebunden. Zugleich werde der europäische Energiemarkt durch die zusätzlichen Gaslieferungen übersättigt. Beides erschwere die Finanzierung erneuerbarer Energieträger. In wichtigen Regionen der EU würde der dringend nötige Wechsel zu klimaneutralen Energiequellen deswegen ausbleiben.

Gefahren für die Umwelt

Langfristige Schäden drohen für die bereits stark überlastete Ostsee. Besonders in den Gewässern Dänemarks, Schwedens und Deutschlands gibt es eine reelle Gefahr, bei den Bauarbeiten auf versenkte Kriegsmunition aus dem Zweiten Weltkrieg zu stoßen. Dabei könnten zudem Senfgas und Phosphor freigesetzt werden, was für Ostsee-Fischer und Badegäste eine ernste Gesundheitsgefahr birgt.

Das Haupthindernis für Nord Stream 2 ist das Erlangen der Baugenehmigungen von Schweden und Dänemark. Auch die indirekt betroffenen Ostsee-Länder (Polen, Estland, Lettland, Litauen) haben ein Recht darauf, dass ihre Umweltbedenken in die Risikobewertung einfließen; dazu laufen Konsultationsverfahren.

Schon bei der ersten Nord ­Stream-Pipeline hatte der WWF die Methoden und den Mangel an Daten in den von Nord Stream vorgelegten Analysen kritisiert: Es seien „aus wissenschaftlicher Sicht kaum mehr als wilde Vermutungen“. Auch die bisher von Nord Stream 2 vorgelegten Gutachten sind lückenhaft. Sie beschränken sich zudem auf den Zeitraum bis 2035.

Es ist zu erwarten, dass die strengen Umweltauflagen der EU-Staaten im Ostsee-Raum die Risiken ein Stück weit verringern werden. Dagegen sind die Folgen für das Ökosystem von russischer Seite schwer abzuschätzen. Russische Umweltschutzorganisationen beklagen sich schon seit Jahren darüber, dass sich Gazprom (und der Kreml) über gesetzliche Verpflichtungen hinwegsetzt. Der Bau der ersten Nord Stream-Leitungen im russischen Naturschutzgebiet am finnischen Meerbusen habe bereits irreparable Schäden verursacht. Bei den Vorarbeiten für Nord ­Stream 2 im Naturschutzgebiet Kurgalsky östlich der estnischen Grenze sei schon jetzt ersichtlich, dass Natur- und Artenschutzgesetze gravierend verletzt würden.

In Schweden erklärte die Regierung Ende 2016 die Risikokontrolluntersuchung für die neue Doppelpipeline zur Chefsache. Gazprom wollte sich für den Bau von Nord ­Stream 2 direkten Zugang zu zwei strategisch wichtigen Häfen verschaffen. Erstens Slite auf der Insel Gotland, wo Schweden seit 2016 seine Militärpräsenz aufbaut als Reaktion auf die veränderte Sicherheitslage nach der russischen Militäraggression gegen die Ukraine. Im Januar 2017 wurde entschieden, dass sich Gotland nicht an der Logistik für Nord Stream 2 beteiligt. Zweitens wollte man den Hafen ­Karlshamn in Blekinge an der Südküste Schwedens nutzen. Nach intensiven Verhandlungen und unter stetigem Druck der Nord Stream-2-Lobbyisten vereinbarten Karlshamn und die schwedische Regierung, dass der Hafen nur unter der Bedingung an Nord Stream 2 mitwirken darf, dass sämtliche Logistikarbeiten vom eigenen Hafenpersonal ausgeführt werden. Die Blekinger Bucht dient der Marine und Luftwaffe als wichtiger Übungsplatz.

Die Nord Stream AG war 2010 mit dem Deutschen Logistikpreis für ihr Logistikkonzept ausgezeichnet worden. Was weniger Aufmerksamkeit erhielt, war die Art, wie dieses Konzept in den Ostsee-Ländern umgesetzt wurde. Damals wie heute bauten die Nord Stream-Lobbyisten gezielt politischen Druck auf, um die gewünschten Genehmigungen zu erhalten. Zu den Instrumenten gehören Finanzierungsangebote auf lokaler Ebene wie die Modernisierung des Hafenkais in Slite auf Gotland und sowohl Einkünfte als auch Arbeitsplätze in Karlshamn, Kotka und Hanko in Finnland und Mukran in Deutschland. Nord Stream 2 bindet auch Unternehmen wie den Stahlproduzenten LKAB in Schweden und das Logistikunternehmen Bluewater in Dänemark ein und spielt Unternehmer, Hafenbetreiber, lokale und nationale Entscheidungsträger gegeneinander aus.

Russisches Machtinstrument

Vor dem Bau der ersten Nord Stream-Pipelines konnte Russland die Erdgaslieferungen an die Ukraine nicht unterbrechen, ohne die wichtigen Kunden in Westeuropa abzuschneiden. In dieser Zeit kam es nur zu vereinzelten Zwischenfällen: Am 1. Januar 2006 nahm Gazprom einen schwelenden Preisdisput mit der Ukraine zum Anlass, die Gaslieferungen zu drosseln. Im Januar 2009 stoppte Russland die Lieferungen erneut, um die Ukraine zu zwingen, Gasschulden zu begleichen. Ansonsten wurde über den Transitweg durch die Ukraine doch stets zuverlässig an westliche Kunden geliefert. Dennoch macht Russland geltend, die Umleitung des russischen Erdgases durch die Ostsee sei wegen der Unzuverlässigkeit der Ukraine als Transitland notwendig.

In Polen, aber auch in der Ukraine gab und gibt es heftige Proteste gegen die Nord Stream-Pipelines, weil durch sie ein klarer Machtvorteil auf russischer Seite entsteht. Vor allem Polen und die baltischen Staaten sorgen sich, dass die russische Regierung nicht vor wirtschaftlichen Nachteilen und politischem Gesichtsverlust zurückscheut, wenn es um ihre strategischen Interessen geht. Seit der Krim-Annexion nutzt Gazprom die beiden bestehenden Ostsee-Rohre verstärkt. Gleichzeitig ist das Liefervolumen, das durch die Ukraine transportiert wird, entsprechend stark gesunken.

Durch die illegale Annexion hat sich Russland auch die Kontrolle über die ukrainischen Erdgas- und Erdölvorkommen der Krim gesichert. Nach den Plänen der ukrainischen Regierung hätten diese eigentlich in Kooperation mit dem italienischen ENI, dem französischen EDF und Exxon weiter erschlossen werden sollen. Durch den Krieg im Donbass-Becken ist auch die Erschließung der ukrainischen Schiefergasfelder verhindert worden. Dabei hätte die Förderung in den Gewässern der Krim und die Schiefergasproduktion im Osten nicht nur die ukrainische Eigenversorgung sichern, sondern das Land auch in die Lage versetzen können, zum Teil mit Russland als Produzent und Exporteur zu konkurrieren.

Gegen deutsche Interessen hat sich die russische Machtpolitik bisher nur selten gerichtet. Ein Beispiel lieferte ein Streit um Lufthansa Cargo 2007. In Verhandlungen mit der Bundesregierung erzwang Russland, dass Lufthansa für Cargo-Flüge nach Asien den bisherigen Standort in Kasachstan aufgab und ihre Zwischenlandungen stattdessen nach Krasnojarsk (Sibirien) verlegte. In Ostdeutschland kann man sich zudem an Gazproms erbitterten Kampf um den ostdeutschen Energiemarkt Anfang der 1990er Jahre erinnern, bei dem die Erdgasversorgung über mehrere Jahre gezielt als Druckmittel eingesetzt wurde.

Durch die Ostsee-Leitungen stellt sich die Machtfrage im Verhältnis zu Deutschland noch viel deutlicher. Zwar würden Russland durch zeitweilige Lieferunterbrechungen wirtschaftliche und politische Kosten entstehen, aber angesichts der langfristigen Anlage der kostspieligen Ostsee-Gasleitungen, in die im Prinzip nur Erdgas aus Russland eingespeist werden kann, hat Deutschland kurzfristig kaum Alternativen. Und als Empfänger von 110 bcm Erdgas, das größtenteils zur Weiterverteilung gedacht ist, würde Deutschland ebenfalls Verantwortung für die Versorgung anderer europäischer Länder tragen. Ein Lieferstopp, der nicht aus Speicherkapazität und über alternative Versorgungswege kompensiert werden kann, würde für erheblichen politischen Druck sorgen.

Diese Bedenken werden von Berlin nicht geteilt. Die Bundesregierung fühlt sich sicher in der Annahme, dass die drohenden finanziellen Verluste und die russische Exportabhängigkeit den Kreml davon abhalten würden, die Erdgasversorgung als Machtinstrument zu missbrauchen. Die Berliner Experten sprechen von beidseitiger Abhängigkeit. Allerdings ist Russland in einer vorteilhaften Position. Winterstresstests 2014/15 haben gezeigt: Auch wenn die an Nord Stream 1 und 2 beteiligten deutschen Energieunternehmen E.ON/Uniper und BASF/Wintershall es wollten, könnten sie im Falle eines Lieferstopps kaum alternative Versorgungsquellen und Lieferwege herbeizaubern.

Sanktionen gegen Russland

Seit Ende 2015 fordern die osteuropäischen EU-Staaten mit Unterstützung von Dänemark, Schweden und Großbritannien, dass sich die EU mit Nord Stream 2 befassen und sicherstellen solle, dass das Projekt im Einklang mit dem Ziel eines diversifizierten und wettbewerbsorientierten Gasmarkts und der Energieunion stehe. Anfang Juni 2017 legte die Europäische Kommission schließlich den Entwurf eines Verhandlungsmandats vor; Deutschland und Österreich waren prinzipiell gegen den Vorschlag.

Die Debatte flammte eine Woche später auf, als der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel und der österreichische Bundeskanzler Christian Kern gemeinsam gegen die Verschärfung der Russland-Sanktionen durch den US-Kongress protestierten. Beide begründeten dies damit, dass sich die Sanktionen auch gegen europäische Unternehmen richten könnten, die sich am Bau von Nord Stream 2 beteiligen. Dem Kongress gehe es eigentlich „um den Verkauf amerikanischen Flüssiggases und die Verdrängung russischer Erdgaslieferungen vom europäischen Markt“.

Eine Überschwemmung des europäischen Marktes mit US-Flüssiggas ist allerdings schon aufgrund des hohen Eigenverbrauchs der USA unwahrscheinlich. Tatsächlich teilt man in Washington die Sorgen der osteuropäischen Staaten in Bezug auf die geopolitischen Ambitionen Russlands in Georgien, der Ukraine und anderen Teilen Europas. Ähnlich ist es mit der Einschätzung der herausragenden Rolle, die der Energiesektor für die russische Machtpolitik spielt.

Insbesondere das Nachbarland Polen hat mehrere Klagen am Europäischen Gerichtshof eingereicht, weil es durch Nord Stream und Nord ­Stream 2 die Monopolstellung von Gazprom und dessen europäischen Partnern verstärkt sieht. Das russische Unternehmen beschäftigt seit 2012 die EU-Wettbewerbshüter. Im Gegenzug hat Russland im April 2014 eine Klage bei der Welthandelsorganisation gegen das so genannte „dritte Energiepaket“ der EU eingereicht.

Ebenso riskiert Nord Stream 2, die Sanktionspolitik der EU gegenüber Russland zu unterminieren. Der russische Erdgassektor wurde – nicht zuletzt auf Drängen der Bundesregierung – explizit von den Bereichen ausgenommen, gegen die sich die Sanktionen richten. Kritiker sehen die deutsche Unterstützung von Nord Stream 2 als indirekte politische Bestätigung für den Kreml, dass der russische Völkerrechtsbruch in der Ukraine geduldet wird. Nord Stream 2 sichert Russland lukrative Gewinne, die nicht nur einen wichtigen Beitrag zum russischen Staatshaushalt leisten, sondern auch die persönlichen Einkünfte der Machtelite sichern.

Der Kreml nutzt bewusst die Möglichkeit, durch Tauschhandel weitere Puzzlestücke der europäischen Energieversorgung (Produktion, Speicher und Verteilernetze) in russischer Hand zu vereinen. Gaz­prom lässt BASF/Wintershall und OMV sich an der Erdgasförderung im westsibirischen Urengoi-Feld beteiligen. Im Gegenzug soll Gazprom Anteile an der norwegischen OMV Norge und der Wintershall Noordzee BV erhalten. Wer nach Alternativen zum russischen Gas sucht, wird nun auch dort mit Gazproms Teilhaberschaft konfrontiert. Externe technische Hilfe und finanzielle Ressourcen sichern so die künftige Produktionskapazität der Russen ab. Durch weitere Geschäfte mit Shell, OMV und BASF stärkt Gazprom systematisch seine LNG-Produktion und den Zugriff auf entscheidende europäische Gasspeicher.

Es ist offensichtlich, dass es bei Nord Stream 2 um weit mehr als nur privatwirtschaftliche Geschäfte geht. Die Bundesregierung wird sich mit den Konsequenzen der neuen Ostsee-Pipelines für Klima und Umwelt sowie für Europas Sicherheit und Unabhängigkeit auseinandersetzen müssen.

Dr. Anke Schmidt-Felzmann ist (non-­resident) Baltic Sea Fellow des Foreign ­Policy Research Institute (FPRI) in Stockholm.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2018, S. 100 - 106

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