IP Special

01. Nov. 2021

Hipster 
Bennett

Der neue Premierminister, der Benjamin Netan­jahu beiseite schob, steht für den politischen Aufstieg der Nationalreligiösen. Diese stellen Israels liberale Demokratie auf die Probe.

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Bild: Zeichnung der Mauer in der West Bank und einer jüdischen Siedlung im Hintergrund
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Wir schreiben das Jahr 2015. Israel steht vor Neuwahlen, und Naftali Bennett, Vorsitzender der Siedlerpartei HaBayt HaYehudi („Jüdisches Heim“), versucht, dem angestaubten national-religiösen Sektor einen modernen Touch zu verleihen. Dazu parodiert er die linksliberale Tel Aviver Community und spielt überspitzt den Hipster. Sein Werbevideo endet mit der Botschaft: „Ich werde niemals zulassen, dass ein Körnchen des Landes Israel an die Araber abgetreten wird.“



2021 entpuppt sich der Anhänger des rechts­religiösen Lagers während der vierten Parlamentswahl binnen zwei Jahren plötzlich als Schlüsselfigur. Auf der einen Seite steht Benjamin Netanjahu mit seiner rechtskonservativen ­Likud-Partei, die einmal mehr als stärkste Kraft aus der Wahl hervorgegangen ist. Unter Netanjahu bekleidete Bennett von 2013 bis 2019 verschiedene Ministerposten. Nun könnte er in einer rechtsreligiösen Regierung mit den ultraorthodoxen Parteien als Premierminister mit Netanjahu im Amt rotieren.



Genau eine solche Rollenteilung bietet aber auch die andere Seite an: Yair Lapid, Vorsitzender der mitteorientierten Yesh-Atid-Partei, will ebenfalls mit ihm rotieren, als Kopf einer heterogenen Acht-Parteien-Koalition. Noch kurz zuvor hatte Bennett im Fernsehen demonstrativ ein Schriftstück unterzeichnet und hoch und heilig versprochen, Yair Lapid niemals als Premierminister zuzulassen. Zwei Monate später entscheidet er sich für das Bündnis mit Lapid und schreibt damit im Juni 2021 ein Stück israelischer Geschichte neu. Die ungewöhnliche Koalition setzt sich aus dem linken bis rechtsnationalen Lager zusammen. Zum ersten Mal beteiligt sich eine arabische Partei an der Regierung. Bennetts unorthodoxe Entscheidung sorgt dafür, dass der am längsten amtierende Premierminister Israels, Benjamin Netanjahu, seinen Job verloren hat.

Der Aufstieg Bennetts steht für den Marsch der in Israel einst marginalisierten Bewegung des nationalreligiösen Lagers in die gesellschaftliche Mitte. Der anfänglich propagierte Universalismus-Gedanke der europäisch geprägten Gründer­elite musste über die Jahrzehnte partikularistischen Ansichten weichen. Die Transformation der israelischen Gesellschaft hat Auswirkungen auf den demokratischen Charakter, die politischen Machtverhältnisse sowie die Außen- und Verteidigungspolitik des Staates.



Jung, reich, modern orthodox

Naftali Bennett verleiht den Nationalreligiösen ein modernes Gesicht. Als Selfmade-Hightechmillionär lebt er im Gegensatz zu seiner Kernwählerschaft nicht in einer jüdischen Siedlung im Westjordanland, sondern in einem schicken Viertel Tel Avivs. Als Sohn amerikanischer Einwanderer verbrachte er einen Teil seiner Kindheit in den USA und diente später als Soldat in verschiedenen Elite-Einheiten des israelischen Militärs. Im Alter von 29 Jahren gründete er die US-Softwarefirma Cyota, die ihm finanziellen Erfolg bescherte.



Danach stieg er in die Politik ein – und gleich recht weit oben, als Stabschef im Büro von Netanjahu. Nach zwei Jahren warf er abrupt hin; Netanjahus einflussreiche Ehefrau Sarah soll zu dem Zerwürfnis beigetragen haben. Bennett wurde Vorsitzender des Yesha-Council, eines Dachverbands für die jüdischen Siedlungen im West­jordanland. Dieser setzt sich für die Besiedlung der Westbank, des biblischen Kernlands Judäa und Samaria, ein.



2018 verabschiedete er sich aus der Siedlerpartei „Jüdisches Heim“ und gründete zusammen mit Ayelet Shaked die Partei Neue Rechte. Das Ziel: nicht nur religiöse, sondern auch säkulare, nationalorientierte Bevölkerungsteile des rechten politischen Spektrums zu erreichen. Bei all der Euphorie über die neue heterogene Regierung Israels, die die Ära Netanjahu beendete, sollte man nicht übersehen – Bennett ist im politischen Spektrum weiter rechts zu verorten als sein Vorgänger. Wie auch Netanjahu mag Bennett ein Pragmatiker sein, aber seine politischen Überzeugungen mit Blick auf das Westjordanland, gemeinhin Westbank genannt, sind festgefügt. Das macht ihn vor allem für seine Wählerschaft verlässlich.



60 Prozent des Westjordanlands sollten stets unter der Kontrolle des israelischen Staates bleiben, „um die nationalen Interessen zu gewährleisten“, wie Bennett in seiner ersten Regierungsrede als Premier und selbsternannter Sprecher des rechten Lagers klarstellte. Zum Vergleich: 2020 hatte der „Deal of the Century“ von US-Präsident Donald Trump und zur Freude Netanjahus 30 Prozent des Westjordanlands unter israelischer Souveränität vorgesehen. Schon das sorgte national wie international für Empörung.



Die ideologische Spaltung

Bennett identifiziert sich als modern orthodox. Anders als die deutsche oder amerikanische Gesellschaft spaltet sich die israelisch-jüdische in vier Identitätsgruppen, die sich vor allem an ihrer Religiosität messen und voneinander abgrenzen lassen: Hilonim (Säkulare), Masortim (Traditionelle), Datim (Moderne Orthodoxe) und die Haredim (Ul­traorthodoxe).



Wie die Studie „Religious Divided Society“ des Pew Research Center von 2016 aufzeigt, sind die Identitätsentwürfe dieser Gruppen eng mit ihren jeweiligen ideologischen und politischen Ausrichtungen verknüpft. In Deutschland wird selten differenziert dargestellt, dass sich das politische Spektrum in Israel vornehmlich über zwei Konfliktlinien aushandelt: einerseits entlang der sicherheitspolitischen Agenda gegenüber den autonomen palästinensischen Gebieten in der Westbank und andererseits am Verhältnis zwischen Religion und Staat.



Wie Yossi Kuperwasser, Sicherheitsexperte am Jerusalem Center for Public Affairs, in einem Interview im Rahmen meiner Recherchen betonte: „In Israel geht es zwischen links und rechts fast ausschließlich um die Haltung bei der Palästinenserfrage.“ Daneben sollte die Rolle der Religion im Staat nicht unterschätzt werden. Während sich die Hälfte der Gesellschaft als säkular und mit dem linken Lager identifiziert, spielen Religion und jüdische Identität als religiöse Kategorie im rechten politischen Spektrum durchaus eine stärkere Rolle.



Die Gruppenzugehörigkeit ist eng verknüpft mit der Parteienpräferenz und der Haltung zur Westbank. In Israel muss die politische Terminologie „rechts“ und „links“ in ihrem regionalen und kulturellen Kontext verstanden werden und sollte nicht, wie es in deutschen Medien mitunter vorkommt, eins zu eins aus ihrer hiesigen Bedeutung adaptiert werden.



Moderne Orthodoxe

Bennetts nationalreligiöse Kernwählerschaft kommt aus den Reihen der modernen Orthodoxen, den Datim oder in deutscher Übersetzung „den Religiösen“. Laut der genannten Pew-Studie identifizieren sich 10 bis 20 Prozent der israelischen Bevölkerung mit den Datim. Im Vergleich zu Säkularen, Traditionellen und auch Ultraorthodoxen unterstützen moderne Orthodoxe am stärksten den Siedlungsbau in den palästinensischen Autonomiegebieten.



So überrascht es kaum, dass die religiösen Siedler die Mehrheit dieser Gruppe bilden. Insgesamt sind die jüdischen Bewohner der Westbank weitaus religiöser als die jüdische Bevölkerung in Israel. Die Mehrheit der Juden, die im Westjordanland lebt, setzt sich aus den modernen und Ultraorthodoxen zusammen. Sie berufen sich darauf, dass Gott das Land Israel dem jüdischen Volk übertrug. Trotz der Bezüge auf die ­Vergangenheit bilden Bennetts Kernwähler eine moderne, ­heterogene Bewegung. Der Mix aus religiösen und nationalen Elementen spricht darüber hinaus nicht nur religiöse, sondern auch säkulare und traditionelle Bevölkerungsteile an, die für eine Ausweitung der jüdischen Souveränität im Westjordanland stehen.



Der nationalreligiöse Zionismus

Im Gegensatz zu heute spielten die national­religiösen Bewegungen während der Gründungsjahrzehnte des Staates nur eine untergeordnete Rolle. Die säkulare, europäischstämmige Elite dominierte die Parteienlandschaft und räumte der Religion im Staat nur einen kulturellen Stellenwert ein.



Erst nach dem Sechstagekrieg 1967 erweiterte sich das Netzwerk der Nationalreligiösen und damit die Reichweite ihrer Ideologie, während die linke Regierung an Rückhalt in der Bevölkerung verlor. Der nationalreligiöse Zionismus ist als eine Ausprägung der Moderne zu verstehen. Anders als die abgeschotteten ultraorthodoxen Gemeinden nimmt der nationalreligiöse Sektor am Hochschulwesen und an der Arbeitswelt teil. Zudem beteiligt er sich engagiert am Militärdienst und bildet einen sozioökonomisch wichtigen Bestandteil der Bevölkerung. Die Nationalreligiösen setzten von Anfang an auf eine Integration in die Mehrheitsgesellschaft.



Die nationalreligiösen Zionisten lehnen die ultraorthodoxe Vorgabe ab, dass das jüdische Volk die Wiederkehr des Messias passiv erwarten solle. Vielmehr wollen sie ihre Zukunft aktiv gestalten. Der religiöse Zionismus befürwortet die Schaffung eines souveränen jüdischen Nationalstaats auf religiöser Grundlage. Aus nationalreligiöser Per­spektive ist dies die Voraussetzung für das Kommen des Messias. Dahingehend soll das jüdische Volk aktiv das biblische und historische Kernland Eretz Israel besiedeln, was das Territorium der Westbank einschließt.



Israels nationalreligiöses Lager entwickelte sich insbesondere in den vergangenen Jahren zu einer einflussreichen gesellschaftspolitischen Größe, die mit ihren Werten und Überzeugungen auch die säkulare Bevölkerung erreicht. Angesichts ­ihres wachsenden Einflusses ist sie auf dem besten Weg, den säkularen Teil der Rechten als bisher ­treibende Kraft in der israelischen Politik abzulösen. Diese Entwicklung nimmt wiederum Einfluss auf den Charakter des demokratischen Staates. Dabei wird Demokratie keinesfalls abgelehnt. Allerdings eröffnet das individuelle Verständnis, was einen demokratischen Staat ausmacht, einen breiten Interpretationsspielraum.



Die jüdisch-israelische Bevölkerung des säkularen wie religiösen Spektrums stimmt mehrheitlich darin überein, dass Israel als Demokratie und gleichzeitig als jüdischer Staat funktionieren kann. Dennoch gehen das Verständnis darüber und dessen Umsetzung weit auseinander. Die Frage der Bedeutung stellt sich, wenn zum Beispiel die demokratische Entscheidungsfindung mit der Halacha, dem jüdischen Recht, kollidiert. Spätestens in diesem Punkt herrscht zwischen der säkularen und der religiösen Gesellschaft Uneinigkeit. Das dokumentieren auch die Umfrageergebnisse des Pew Research Center. Eine überwiegende Mehrheit säkularer Juden gibt demokratischen Prinzipien Vorrang vor dem religiösen Recht. Ein ähnlich großer Anteil aus dem religiösen Spek­trum der modernen Orthodoxen und Ultraorthodoxen räumt dagegen dem religiösen Recht eine größere Priorität als den demokratischen Werten ein.



Glaube und Militärdienst

Die Spannungen zwischen den unterschiedlichen Wertesystemen zeigen sich heutzutage zunehmend im Militär. Die Zahl der nationalreligiösen Soldaten in der Armee, insbesondere in Kampfeinheiten und in den Offizierslehrgängen, ist deutlich höher als in der Vergangenheit, wie der israelische Militärsprecher Arye Shalicar mir im Interview bestätigt. „Früher kamen die Elitekämpfer oft aus den Kibbutzim, also aus dem linksliberalen Umfeld. Heute tragen viele der Kampfsoldaten und Offiziere eine Kippa und kommen aus den Siedlungen im Westjordanland.“



Dieser demografische Wandel stellt die in der Armee etablierten kulturellen und sozialen Normen vor neue Herausforderungen. In den ersten Jahren nach der Staatsgründung dienten fast alle jüdischen Israelis in der Armee. Als sich die Sicherheitslage in Israel stabilisierte, versuchten nationalreligiöse Rabbiner eine Möglichkeit zu schaffen, das Studium an religiösen Schulen mit dem Militärdienst zu kombinieren. Da die Armee und die dort vorherrschenden kulturellen Normen säkularen Strukturen unterlagen, bot dieses alternative Programm einen Kompromiss zwischen der säkularen und der religiösen Welt. Zugleich sollte so der Militärdienst für die nationalreligiösen Soldaten attraktiver werden.



Diese Religionsschulen, Yeshivot Hesder genannt, nehmen seit 1965 an einem in Kooperation mit der israelischen Armee gegründeten Programm teil, das den obligatorischen Militärdienst für religiöse Soldaten erleichtert. Dabei können die jungen Männer sowohl den Thora-Studien nachgehen als auch die Ausbildung in den jeweiligen Militäreinheiten absolvieren. Die Armee versucht damit, die junge Generation Nationalreligiöser zu integrieren und gleichzeitig ihren Bedürfnissen gerecht zu werden.



Dieser Integrationsgedanke birgt allerdings auch Gefahren, wenn die religiöse Autorität in Konflikt mit der staatlichen Autorität des Militärs steht. „Es gab zuvor bestimmte Situationen, in denen junge Offiziere verwirrt waren, ob die Hoheit der Armee oder das Urteil eines Rabbiners außerhalb höher stünden. Es ist eine schwierige Situation, wenn ein Rabbiner eine andere Anweisung gibt als ein Kommandeur in der Armee. Da muss die Armee hart gegenwirken,“ macht Militärsprecher Shalicar deutlich. Denn in der Armee gebe es nur eine Autorität. „Ob die Person Kippa trägt oder nicht, in einem Sicherheitsapparat kann es nicht sein, dass es jemanden außerhalb gibt, der das Recht hätte, etwas anderes zu befehlen.“



Dieser Konflikt kann auftreten, wenn es um die staatlich angeordnete Räumung von jüdischen Siedlungen im Westjordanland geht. Für die Nationalreligiösen hat der Militärdienst auch eine religiöse Bedeutung. Der Diskurs der nationalreligiösen Siedlerbewegung geht heute davon aus, dass der Messias erst dann erscheint, wenn der jüdische Staat das gesamte Territorium des biblisch-historischen Israels kontrolliert. Somit wird auch der jüdische Siedlungsbau zum religiösen Gebot. Hier kann der weltliche Befehl des Kommandeurs mit dem religiösen Gebot des Rabbiners in Konflikt geraten. Es bestehen berechtigte Sorgen, dass der religiöse Einfluss in der Lage ist, die staatlichen Strukturen im Ernstfall zu untergraben.



Ein weiteres Spannungsfeld eröffnet sich, wenn die Gleichberechtigung von Frauen und der LGBTQI-Community in der Armee auf die konservativen Werte der Religiösen trifft. Seit den 1990er Jahren setzt die Armee verstärkt auf die Integration von Frauen in allen Bereichen des Militärs. Die Einheiten sind heute heterogener.



Pnina Shavit Baruch, früher als Stabsoffizierin in der israelischen Armee tätig, arbeitet heute als Wissenschaftlerin am Institute for National Security Studies (INSS) in Tel Aviv. Sie gibt einen Einblick in das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Säkularismus im Militär: „Früher waren die meisten Frauen in der Armee in zivilen Berufen, zum Beispiel als Anwältinnen oder als Ärztinnen, tätig. Und heute kämpfen Frauen in allen Einheiten und können sogar zu Kampfpilotinnen ausgebildet werden. Ich denke, dass es vor allem in Bereichen, in denen Männer und Frauen viel enger zusammenarbeiten, mehr Frauen gibt als zuvor. Auf der anderen Seite wächst die Anzahl religiöser Soldaten. Sie sind konservativer und extremer in ihrer Ablehnung, Frauen nahe zu sein.“



Nach streng-religiöser Auslegung der Halacha ist der enge Kontakt zwischen Frauen und Männern verboten. Auch Frauen in übergeordneten Rängen mit Befehlsbefugnissen treffen nicht unbedingt auf die Akzeptanz religiöser Soldaten. Hier prallt die Gleichberechtigung der Frauen auf die restriktive Auslegung des religiösen Rechts.



Die israelische Armee ist auf die Integration verschiedenster Gesellschaftsgruppen mit ihren jeweiligen Identitätsentwürfen angewiesen. Die wachsende Offenheit des Militärs bietet gleichzeitig die Möglichkeit einer Minimierung gesellschaftlicher Gräben auch über die Grenzen der jüdischen Bevölkerungsteile hinaus. So dienen auch Drusen und ein kleinerer Anteil von arabischen Christen und Muslimen in der israelischen Armee.



Mit dem wachsenden Pluralismus steigen allerdings auch die Anforderungen an das Militär. Die Interessenkonflikte der verschiedenen Identitätsgruppen verändern die Strukturen des ­Sicherheitsapparats.



Universalismus trifft auf Partikularismus

Die europäisch geprägten Gründerväter Israels standen einst für universalistische ­Prinzipien. Der Nationalstaat, hervorgegangen aus den ­historischen Ereignissen der Französischen Revolution und der Unabhängigkeitsbewegung in den USA, verdrängte die traditionellen und ­partikularistisch geprägten Gesellschaftsordnungen. In diesem Geiste setzte der erste Premierminister Ben-Gurion auf die Homogenisierung der Gesellschaft nach europäischen Maßstäben, wodurch der multikulturelle junge Staat zusammengehalten werden sollte. Die religiösen Gemeinden fanden kaum Gehör.



Heute sind die einst marginalisierten Stimmen in der Öffentlichkeit viel präsenter. Sie etablieren ihre Interessen und Einstellungen im Rahmen der politischen und gesellschaftlichen Strukturen des demokratischen Staates. Auf der einen Seite legen sie dabei die ideologische Fragmentierung der israelischen Gesellschaft offen. Auf der anderen Seite ist die politische Partizipation der unterschiedlichen Gruppierungen auch ein Zeichen für das starke demokratische Fundament des Staates Israel.



Wandel der Eliten

Der Wandel der politischen Eliten erzwingt die Aushandlung zwischen universalistischen und partikularistischen Einstellungen. Die Krise, in der sich nicht nur Israel, sondern eine Reihe liberaler demokratischer Staaten heute befinden, legt gleichzeitig das Spannungsverhältnis zwischen Tradition und westlicher Moderne offen. Die Frage, wie der demokratische Staat damit umgeht, ist in vielen Fällen offen.



Insbesondere die wachsende Popularität partikularistischer Interessen und Gruppierungen, die gleichzeitig versuchen, an den Pfeilern der alten demokratischen Strukturen zu rütteln, stellt den liberalen Staat vor große Herausforderungen. Bennetts Partei Neue Rechte versuchte in der Vergangenheit immer wieder, die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs einzuschränken, um größere politische Kontrolle auszuüben. Unter Führung der ehemaligen Justizministerin Ayelet Shaked setzt sich die Neue Rechte bis heute für die Ernennung konservativer Richter ein, die mit der religiösnationalistischen Linie sympathisieren und die Entmachtung der alten Strukturen vorantreiben sollen. Bennett ernannte Shaked im Juni 2021 zur neuen Innenministerin.



Die Krise des demokratischen Staates kann als ein Aushandlungsprozess zwischen der alten etablierten Elite und den zuvor marginalisierten Gruppen gesehen werden, die den Status quo nicht länger akzeptieren und das gesellschaftliche und politische Machtgefüge zu verändern versuchen.  Gleichzeitig ist es angesichts des Antisemitismus, der weltweit u.a. mit  Anschlägen auf Synagogen immer offener zutage tritt, nicht überraschend, wenn für einen wachsenden Anteil der Bevölkerung in Israel auch dadurch die jüdische Identität an Bedeutung gewinnt und die Betonung des jüdischen Charakters im israelischen Staat gefordert wird.



Der Rückbezug auf partikularistische Identitäten scheint mehr Sicherheit zu bieten als der Pluralismusgedanke des linken Lagers. Israels neue Koalition und ihr Premierminister Naftali Bennett sind dennoch ein Spiegelbild der heterogenen israelischen Gesellschaft und Ausdruck einer funktionierenden Demokratie. Ob Bennett bald als rechter Hipster Anschluss an den linksliberalen Mainstream findet, bleibt abzuwarten. Zuzutrauen wäre es ihm.

 

Isabel Weiss ist seit 2018 ist Doktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin. In diesem Rahmen schreibt sie über die Sakralisierung staatlicher Politik in Israel. Zuvor absolvierte sie den Master „Politik, Religion und Kultur“ an der Humboldt-Universität zu Berlin und studierte an der Hebrew University in Jerusalem. Sie ist Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung und Fellow im internationalen Promotionskolleg „Sicherheit und Entwicklung im 21. Jahrhundert“. Zuletzt arbeitete sie an einem Projekt für Bundeswehr Consulting, dem Inhouse-Beratungsunternehmen des deutschen Bundesverteidigungsministeriums. Vor ihrer Promotion war sie beruflich als Referentin sowohl bei der Jewish Claims Conference in Tel Aviv als auch in der politischen Interessensvertretung eines Energieunternehmens in Berlin tätig.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 7, November 2021, S. 50-57

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