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17. März 2014

Hinnehmen und abhaken

Der Westgate-Anschlag hat Kenias unfertige Demokratie offengelegt

Im Nachklang des blutigen, von der somalischen Al-Shabaab-Miliz verübten Terroranschlags zeigt sich Kenias Regierung von ihrer schlechtesten Seite: Eine Aufklärung findet nicht statt, vielmehr geraten die Medien ins Visier der Regierung.

Auf den ersten Blick schien die kenianische Hauptstadt Nairobi zehn Tage nach dem Anschlag auf das Westgate-Einkaufszentrum vom 21. September 2013 zur Normalität zurückgefunden zu haben. Gehälter waren ausgezahlt worden, und wie immer am Monatsanfang konnten Autobesitzer es sich wieder leisten, die Tanks ihrer Fahrzeuge aufzufüllen. So erreichten Anfang Oktober die Staus auf den Straßen der Stadt wieder ihre monatliche Rekordlänge. Öffentliche Plätze und Geschäfte waren voller Menschen – beinahe so, als hätte es die fast 70 Toten, mehr als 200 Verletzten, das zerstörte Shopping-Center nicht gegeben.

Doch der flüchtige Blick trog. Noch immer war die Bevölkerung gefangen in einem Schockzustand, bedrängt vom tief sitzenden Gefühl verlorener Sicherheit und aufgewühlt durch die Sorge, Ähnliches könnte sich wiederholen. „Wir werden die Städte Kenias in Friedhöfe und Blutbäche verwandeln“, soll die radikal-islamistische Miliz Al-Shabaab aus dem Nachbarland Somalia verkündet haben, die sich zu dem Anschlag bekannt hatte.

Keine „Insel des Friedens“

„Das Attentat ist ein Signal dafür, dass unser Land nicht mehr die vielgepriesene Insel des Friedens ist, die es jahrzehntelang war“, meint der Journalist und Blogger Patrick Gathara. Allerdings war dies bei weitem nicht das erste solcher Signale: Vor fast genau 15 Jahren starben beim Al-Kaida-Anschlag auf die US-Botschaft in Nairobi 270 Menschen, Tausende wurden verletzt. Fünf Jahre später wurde ein Hotel an der Südküste Ziel eines Terroranschlags mit 13 Toten.

Seit Kenia im Oktober 2011 in Somalia einmarschierte und sich den Truppen der Mission der Afrikanischen Union in Somalia (AMISOM) im Kampf gegen Al-Shabaab anschloss, verübten die Miliz oder ihre Sympathisanten etwa 50 Anschläge auf Menschenansammlungen, Restaurants, Kleinbusse und Polizeistationen, vor allem im Nordosten Kenias, aber auch in den Großstädten Nairobi und Mombasa. Sie sind, genau wie das Blutbad im Westgate, als Vergeltungsschläge für Kenias militärisches Engagement in Somalia einzustufen.

Während die kleineren Anschläge der jüngsten Zeit international kaum wahrgenommen wurden, hatte der Überfall auf das Westgate eine andere Dimension. Protzig und innen großzügig mit Marmor ausgekleidet, ist der Bau ein Symbol des wirtschaftlichen Aufschwungs Kenias – auch in den Augen all jener, die es sich niemals leisten können, in den teuren Läden einzukaufen. In einem wohlsituierten Teil der Hauptstadt gelegen, traf der Anschlag zum ersten Mal die wohlhabende Mittel- und Oberschicht Kenias und damit die Vertreter des Mantras „Africa Rising“ mitten ins Herz.

Kurzlebige Einigkeit

Kenia ist ein Land, das sich nach Krisensituationen wie zum Beispiel den Gewaltausbrüchen nach den Präsidentschaftswahlen von 2007 mit schier unverwüstlicher Energie immer wieder aufrafft. So auch in diesem Fall: „Wir sind tapfer und unbesiegbar wie die Löwen auf unserem Staatswappen“, hatte Präsident Uhuru Kenyatta seine Landsleute während der Belagerung des Einkaufszentrums beschworen;  ein weiterer Ausdruck seiner Nationalismus-Rhetorik, die er auch immer dann anstimmt, wenn es um sein „persönliches Problem“ geht: seine Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach den Wahlen 2007. Doch dies wäre gar nicht nötig gewesen: Spontan, großzügig und ohne viele Worte verschenkte die Bevölkerung Decken, Nahrung und Geld an die zahlreichen Verletzten, während das kenianische Rote Kreuz landesweit provisorische Blutspendezentren in öffentlichen Parks und an Straßenecken einrichtete.

Tausende kamen, viele ließen sich dafür von ihrer Arbeit freistellen. Psychologische Beratungsstellen für Traumatisierte und ihre Angehörigen öffneten unbürokratisch und kostenfrei ihre Türen. Initiativen wie #WeAreOne nutzten soziale Medien wie Twitter oder Facebook, um Ressourcen zu mobilisieren oder Informationen und Unterstützung auszutauschen.

So entstand für wenige Tage oder Wochen der Eindruck von Einigkeit und Solidarität untereinander, die sich die Menschen so sehr wünschen. Doch schon kurze Zeit später folgte die Ernüchterung: Die Regierung verheimlichte, was während der vier Tage der Belagerung des Einkaufszentrums wirklich passiert war. Inkompetenz und mangelnde Kommunikation zwischen Behörden hatten dazu geführt, dass kenianische Einsatzkräfte sich im Einkaufszentrum gegenseitig beschossen. Und so war das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber ihrer Regierung wieder da, als hätte es die Momente der Gemeinsamkeit nie gegeben.

Kurz nach dem Anschlag erhöhten sich die Parlamentarier ihre Diäten. Streikende Lehrer, Ärzte und Krankenschwestern gingen erneut leer aus. Die Bevölkerung muss Steuererhöhungen auf Grundnahrungsmittel erdulden und mit ansehen, wie ihre Regierung das neue dezentrale Regierungssystem – in dessen Zuge einige Dienstleistungen sowie die lokale Prioritätensetzung an die Bezirke übergehen sollen – nicht finanzieren kann. In dieser Atmosphäre vertiefen sich weder Einigkeit noch Solidarität, sondern nur die in Kenia ohnehin schon eklatanten Unterschiede zwischen Arm und Reich.

„Accept and move on“ 

Bis heute ist nicht klar, was tatsächlich im Einkaufszentrum passiert ist. Und gäbe es offizielle Erkenntnisse, würden diese wohl nie veröffentlicht. Eindeutige Hinweise, dass die Einsatzkräfte geplündert haben, wiegelten die Behörden bislang ab. Selbst das kleinste Stück Information gaben sie nur auf Druck preis. Die zu oft einbestellten, zahnlosen parlamentarischen  Untersuchungsausschüsse wecken unter der Bevölkerung nur noch Zynismus und Hohn, waren sie doch bisher immer nur eine Taktik, die Schuldigen zu schützen. Resignation setzte ein, die sich treffend im kenianischen Un-Satz des Jahres 2013 widerspiegelt: „Accept and move on.“ Hinnehmen und abhaken. Den Mund halten.

Als die beiden investigativen Journalisten John Allan Namu und Mohammed Ali für den privaten Fernsehsender KTN eine Chronologie der Ereignisse von Westgate unter dem Titel „The Inside Story: Wolves at Westgate“ zusammenstellten, drohte Polizeichef David Kimaiyo: Der Bericht grenze an Volksverhetzung  und lasse Patriotismus vermissen. Kimaiyo bestellte die Journalisten sogar ins Präsidium ein, zog die Vorladung Stunden später aber wieder zurück.

Die Regierung nutzte die Gunst der Stunde, unerwünschte Berichterstattung zu unterbinden und mit einem restriktiven Mediengesetz von der eigenen Inkompetenz abzulenken. Verstöße gegen das Verbot von „Propaganda, Aufwiegelung zu Gewalt und Volksverhetzung“ sind nun mit hohen Geldstrafen belegt. Was unter Volksverhetzung fällt, legt eine Aufsichtsbehörde fest, über deren Besetzung fast ausschließlich der Präsident bestimmt.

Vage formuliert, geben die Bestimmungen dem Staat großen Spielraum und halten Journalisten zu ständiger Selbstzensur an. Human Rights Watch kritisierte die Novellierung mit deutlichen Worten: „Die Gesetze werden zu einem Zeitpunkt verabschiedet, da Kenias Menschenrechtsverteidiger und Nichtregierungsorganisationen immer mehr Feindseligkeiten, Schikanen und Drohungen ausgesetzt sind. Dies betrifft vor allem Personen und Organisationen, die als Befürworter der Untersuchungen des Internationalen Strafgerichtshofs in Kenia wahrgenommen werden.“

Ein weiterer Gesetzentwurf, den das Parlament jedoch ablehnte, sah größere Kontrolle über Nichtregierungsorganisationen vor. Das Scheitern dieses Gesetzentwurfs war die erste Niederlage der regierenden Jubilee-Koalition von Präsident Kenyatta. Selbst Menschenrechtsexperten der Vereinten Nationen hatten die kenianische Regierung aufgefordert, solch massive Beschränkungen der Zivilgesellschaft zu verwerfen.

Kontinuität der ungleichen Verteilung

Seit der Staatsgründung verfolgten kenianische Regierungen eine Politik, die der kenianische Historiker E. S. Atieno Odhiambo in den achtziger Jahren als „Ideologie der Ordnung“ beschrieb: Politische Stabilität sei für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes stets aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig sei die Unantastbarkeit dieser Mentalität aber dazu missbraucht worden, Kritiker der Regierungslinie zu diskreditieren und die Menschenrechte zu verletzen. Dies zeigt sich in Kenia bis heute: Nach außen hin verfügt das Land über eine robuste Wirtschaft mit hohem Wachstum, von dem aber nur eine kleine Elite beziehungsweise ausgewählte Regionen profitieren. Werden die ungleiche Verteilung der Einkünfte, Ressourcen und Chancen oder Entscheidungen der Regierung kritisiert, drohen Repressionen. „Der Westgate-Anschlag hat Kenia nicht radikal verändert“, sagt Patrick Gathara. „Eher haben sich die schon sichtbaren Trends zu mehr staatlicher Kontrolle und Einschränkung der Meinungsfreiheit intensiviert.“

Einen Monat nach dem Anschlag hat eine Bürgerinitiative in einem Waldstück in Nairobi, das Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai vor dem Abholzen gerettet hatte, 70 Bäume für die Opfer gepflanzt. Der Ort des Gedenkens wird „Amani Garden“ heißen, Garten des Friedens. Eine Tafel mit den Namen der Toten ist geplant. Der Wald liegt fernab des Zentrums, sein Zutritt ist kostenpflichtig. Das Einkaufszentrum „Westgate“ soll wieder aufgebaut werden. Seine zentrale Lage macht es zu einem der teuersten Grundstücke der Stadt.

Rena Hage ist Afrika-Korrespondentin.

Bibliografische Angaben

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