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01. Apr. 2007

Gemeinsam Geschichte schreiben

Warum Europa den deutsch-französischen Motor gerade jetzt braucht

Von der neuen französischen Regierung werden verstärkte Impulse zur Weiterentwicklung der EU erwartet. Dabei sollte sie neben der in der Vergangenheit so erfolgreichen deutsch-französischen Zusammenarbeit auch andere Mitglieder in die gemeinsame Politik einbinden, um eine neue Zukunftsvision für Europa zu entwickeln.

Anlässlich des 50. Jahrestags der Römischen Verträge wird von vielen Europa-Freunden nostalgisch an die „goldenen Zeiten“ von Jean Monnet und Robert Schuman erinnert. Damals sei die europäische Integration durch Visionen großer (französischer) Politiker vorangebracht worden. Nun sei das Projekt der Europäischen Union in der Krise und die Eliten Europas seien nicht mehr in der Lage, die Bürgerinnen und Bürger für eine gemeinsame Vision zu begeistern.

Tatsächlich ist zu beobachten, dass die europäische Idee in den meisten europäischen Ländern heute nicht (mehr) im Vordergrund steht. Die Priorisierung der nationalen vor den europäischen Interessen nimmt zu. Anstatt zunächst zu überlegen, wie man das europäische Projekt voranbringen und was zur Fortentwicklung des Hauses Europa nützen könnte, um dann in einer zweiten Etappe die Auswirkungen für das jeweilige Land abzuschätzen und Maßnahmen zur Abfederung eventuell vorübergehend auftretender Schwierigkeiten zu treffen, empfiehlt der Zeitgeist, die nationalen Interessen vor dem berühmten „esprit communautaire“ gelten zu lassen. Die Frage lautet heute: Wie können die nationalen Ziele in Brüssel bestmöglich durchgesetzt werden? Ein gutes Beispiel dafür ist die Schwierigkeit Frankreichs und Deutschlands, sich vorstellen zu können, auf eine national ausgerichtete Doppelbesetzung der EADS-Unternehmensleitung zu verzichten.

Zu behaupten, dass Europa sich in einer Krise befinde, weil die Politik an das Projekt nicht mehr glaube, wäre dennoch übertrieben. Allerdings ist die europäische Integration an einem Punkt angelangt, wo der nächste Schritt eine qualitative Veränderung bedeutet, die Angst einflößt. Wir haben eine gemeinsame Agrarpolitik, eine gemeinsame Handelspolitik, eine gemeinsame Strukturpolitik zur Kohäsion des europäischen Raumes und sogar eine gemeinsame Währung. Es fällt manchen europäischen Politikern aber schwer, das bisher Erreichte zu verteidigen und Verantwortung für eine weitere europäische Integration zu übernehmen. Zwar muss kein europäischer Politiker in der Nostalgie des so genannten „acquis communautaire“ und der Ideen der Gründungsväter stecken bleiben, aber Europa kann nur gemeinsam gelingen, wenn man sich zu seinem Stellenwert bekennt.

Der derzeitige Wahlkampf in Frankreich ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Beobachtungen von dieser Seite des Rheins sollten weder zur Spekulation über den besten Kandidaten, noch zur Belehrung über eine aus deutscher Sicht bestmögliche Europa-Politik führen, sondern eher den positiven und konstruktiven Dialog der deutschen und französischen Partner fortführen.

Eine notwendige europapolitische Positionierung

Zunächst fällt auf, dass das Thema „Europa“ im derzeitigen französischen Wahlkampf nachrangig behandelt wird. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass innenpolitische Themen, die die Bürger aus ihrer Sicht unmittelbar betreffen, im Mittelpunkt der Wahlkampagne stehen, sei es beispielsweise die Kaufkraft oder die Rolle der Polizei in den Vororten. Es ist allerdings zwischen den zwei parallel geführten Kampagnen, zur Wahl des Staatspräsidenten einerseits und der Mitglieder der Assemblée nationale andererseits, zu unterscheiden. Der französische Staatspräsident ist als Mitglied des Europäischen Rates eine bedeutende Institution auf der europäischen Ebene und sollte sich europapolitisch positionieren. Vor allem seit dem 29. Mai 2005 und dem „Non“ des französischen Volkes gegen den Europäischen Verfassungsvertrag scheint Europa aber ein sehr heikles Thema für die Politiker des Hexagons zu sein.

Die Europäer andererseits erwarten, dass die französische Politik etwas gegen die europessimistische Einstellung der französischen Bürger unternimmt. Im unmittelbaren Anschluss an die Wahlen in Frankreich im Juni 2007 wird die deutsche EU-Ratspräsidentschaft einen Fahrplan für die Zukunft des Verfassungsvertrags vorlegen. Die neuen Präsidentschafts- und Premierministerteams werden direkt nach ihrer Amtseinführung europapolitisch in Anspruch genommen werden. Im zweiten Halbjahr 2008 hat Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft inne, was Erfahrungen auf dem europapolitischen Parkett verlangt. Deshalb ist es dringend erforderlich, dass aus Frankreich Impulse für die Zukunft der europäischen Integration kommen.

Von den drei Hauptkandidaten für die Präsidentschaft – Ségolène Royal für die Parti Socialiste (PS), Nicolas Sarkozy für die Union pour un Mouvement Populaire (UMP) und François Bayrou für die Union pour la Démocratie Française (UDF) – hat nur der ehemalige Wirtschafts- und derzeitige Innenminister Sarkozy aktuelle Erfahrungen mit den europäischen Institutionen und den europäischen Kollegen sammeln können. Natürlich kann man sich fragen, ob dies bereits eine Garantie für ein europäisches Profil darstellt. Aber es hilft bestimmt, die EU-Strukturen schon beruflich kennengelernt zu haben. Die Regionspräsidentin Royal hat zusätzlich den Vorteil, Erfahrungen der regionalen und lokalen Ebene mit Europa einbringen zu können. Alle drei Politiker stehen vor der Herausforderung, sowohl die von der europäischen Integration Enttäuschten als auch die „Europhilen“ zu überzeugen.

Ich bin zutiefst überzeugt, dass eine verantwortliche Politik sich nicht der Skepsis und der Desillusionierung der Bürger anschließen darf, sondern es sich zur Aufgabe machen muss, die Menschen an die Hand zu nehmen und ins Haus Europa zu führen. Eine solche Haltung bei französischen populistischen Parteien wie dem Front National von Jean-Marie Le Pen oder dem Mouvement pour la France von Philippe de Villiers sowie bei den Kommunisten zu erwarten, wäre naiv. Auch in Deutschland hat die Linkspartei gegen die europäische Verfassung Stimmung gemacht.

Die großen französischen Volksparteien müssen aber redlich und offen über die europäische Integration sprechen. In einer globalisierten Welt kann die Zukunft eines europäischen Staates nur europäisch sein. Jeder verantwortungsbewusste Politiker ist sich darüber im Klaren und sollte deshalb entsprechend reden und handeln. Selbstverständlich muss angesichts der Vertrauenskrise in Europa ernsthaft über eine Optimierung des europäischen Projekts nachgedacht werden, sei es durch die Betonung seiner sozialen Dimension, die Entwicklung konkreter Projekte oder natürlich durch die Beseitigung seiner institutionellen und demokratischen Defizite. Es reicht nicht, sich auf seinen europäischen Lorbeeren auszuruhen. Ein Wahlkampf lebt dagegen vom begeisternden Werben für den eigenen Gestaltungswillen. Wenn die Politiker selbst ihre Überzeugungskraft aufgeben, müssen wir uns über die Zukunft Europas Sorgen machen.

Europa der Projekte

Eine positive Antwort der französischen Sozialistin Ségolène Royal auf die französische Europa-Verdrossenheit war im Oktober 2006 die Forderung nach einem Europa „par la preuve“. Zu Recht werden von der europäischen Integration mehr konkrete Erfolge verlangt, mit denen die Bürger sich identifizieren können. Kommissionspräsident Barroso hatte auch ein „Europa der Projekte“ gefordert, was zeigt, dass Brüssel nicht, wie oft in politischen Diskursen behauptet, die Erwartungen der Bürger ignoriert. Der Vorschlag der Kandidatin Royal, gegenüber abstrakten Debatten die konkreten Felder von erneuerbaren Energien, von Forschung und Innovation oder auch des Verkehrs, der Jugend und des Arbeitnehmerschutzes zu stärken, zeigt die richtige Richtung. Mit gleichem Engagement sollten aber auch die bereits erreichten praktischen Ziele der europäischen Integration der Bevölkerung präsentiert werden. Denn: „Wir sind die Europäische Union!“

Die Forderung nach einem „schützenden“ Europa, die sich in den Reden aller Politiker wiederfindet, verstehe ich als einen Appell für eine stärkere soziale Dimension der EU. Dieses Anliegen ist eine Antwort auf das „Non“ vom 29. Mai 2005. Viele französische Bürgerinnen und Bürger haben mit ihrer Ablehnung des Verfassungsvertrags eine EU zurückgewiesen, die den Wettbewerb zum Zentrum ihrer Politik macht. Es ging in den Debatten zur Dienstleistungsrichtlinie und zu Standortverlagerungen um die Kritik gegen ein Europa des steuerlichen und sozialen Dumpings, für das man eine radikale Marktorientierung in der EU verantwortlich macht. Nun verfügt die Gemeinschaft – bis auf kleinere Bereiche wie Arbeitsrecht und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz – über keine Kompetenzen in der Sozialpolitik. Wenn die europäischen Sozialdemokraten sich aktiv für eine stärkere Berücksichtigung der Zielsetzung der guten Arbeit und des guten Lebens in Europas Politiken engagieren, dann geht es auch darum, über eine kohärente makroökonomische Politik in der EU den Erhalt bzw. die positive Weiterentwicklung des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells zu ermöglichen.

Vor allem die Europäische Zentralbank (EZB) und der Euro werden zum Sündenbock in den Europa-Diskussionen gemacht. Sie werden für die sinkende Kaufkraft, für die Schwierigkeiten der französischen Industrie und ihrer Unternehmen und für den Untergang der Daseinsvorsorge verantwortlich gemacht. Auch in Deutschland debattierte die Bevölkerung über den „Teuro“, aber insgesamt wird die gemeinsame Währung als positiver Stabilitätsfaktor für die EU gesehen. Das Argument, die Eurozone brauche eine abgestimmte Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik, ist auf jeden Fall gerechtfertigt. Daneben muss die EZB bei ihrer Geldpolitik auch die gesamtwirtschaftliche Stabilität, also Wachstum und Beschäftigung, im Auge haben. Außerdem wäre es notwendig, sich für eine gemeinsame steuerliche Bemessungsgrundlage und einen Korridor von Mindeststeuern einzusetzen. Solche Maßnahmen würden das soziale Europa voranbringen. Deutsche und französische Politiker sollten in anderen Mitgliedstaaten für diese Schritte werben!

Man sollte einer Bevölkerung nicht ihre Ängste, Unsicherheiten und Zweifel vorwerfen. Die Politik aber muss Blockaden überwinden, konkrete und konsensfähige Vorschläge machen, um Europa mitzugestalten und gleichzeitig das eigene Volk mit Europa zu versöhnen. Manche europäische Kritiker befürchten, der Vorschlag für ein erneutes Referendum über einen Verfassungsvertrag in Frankreich sei gleichbedeutend mit einem nationalen Vetorecht gegenüber den europäischen Staaten, die den Vertrag bereits ratifiziert haben. Ist es denn vorstellbar, dass ein erneutes Referendum zu einem Ja zu einem europäischen Grundgesetz führen könnte?

Nicolas Sarkozy hat die Parlamentsratifikation vorgeschlagen. Ich habe aber großes Verständnis für diejenigen, wie François Bayrou und Ségolène Royal, die ein weiteres Referendum über den Verfassungsvertrag in ihrem Wahlprogramm versprechen. Denn alles andere würde von den französischen Bürgern als Missachtung ihres Votums verstanden werden können.  Ein neuer Textvorschlag hat aber auch die Position der 18 Staaten, die ihn ratifiziert haben, zu berücksichtigen. Ihre Politiker sind überzeugt, dass der Verfassungsvertrag positive Veränderungen gegenüber den geltenden Verträgen beinhaltet: Durch ihn würde die Europäische Union handlungsfähiger, transparenter, demokratischer und sozialer, wenn denn Ministerrat, Parlament und Kommission in Brüssel die Möglichkeiten nutzen und eine entsprechende Politik machen würden. Da der Verfassungsvertrag bisher die beste Antwort auf die Ängste der Bürger ist, muss seine Substanz erhalten bleiben.

Europa am Scheidepunkt

In vielen Analysen wird behauptet, Frankreich hätte die letzte Erweiterung der EU nicht verkraftet. Sicherlich ist das Interesse an der Osterweiterung in Deutschland größer als in dem nach Süden orientierten Frankreich. In diesem Kontext ist der Vorschlag Nicolas Sarkozys für eine „Mittelmeer-Union“ zu verstehen. Unsere Verantwortung gegenüber unseren südlichen Nachbarn ist unbestritten. Es ist unsere Pflicht, die Entwicklung der Mittelmeer-Anrainerstaaten zu erfolgreichen demokratischen und rechtsstaatlichen Marktwirtschaften aktiv zu begleiten. Voraussichtlich wird Portugal während seiner Ratspräsidentschaft in dieser Hinsicht Akzente setzen.

Der Blick nach Süden und Osten enthebt uns aber nicht der Verantwortung, die Europäische Union in ihrer derzeitigen Konstellation mit 27 Mitgliedstaaten zunächst zu konsolidieren und politisch zu integrieren. Die junge Wiedervereinigung Europas darf nicht in Gefahr gebracht werden. Eine neue Spaltung zwischen dem „alten“ und „neuen“ Europa könnte für die weitere Integration sehr schädlich sein. Deswegen ist auch jede Forderung nach einer Avantgarde mit großer Vorsicht zu genießen. Als konstruktiver würde sich erweisen, wenn das deutsch-französische Paar weitere Familienmitglieder in die europäische Integration einbinden würde. Das Weimarer Dreieck ist eine wichtige Verbindung, aber insbesondere die kleinen Mitgliedstaaten wollen im europäischen Haus ernst genommen werden.

Die deutsch-französische Verständigung hat während fünf Jahrzehnten die europäische Integration durch die Macht ihrer konstruktiven Dialektik vorangebracht. Sei es durch die Entwicklung gemeinsamer Visionen für Europa, die Durchführung gemeinsamer Projekte oder auch durch die Überzeugungskraft ihrer politischen Führungspersönlichkeiten. Nun befindet sich die Europäische Union an einem Scheidepunkt ihrer Fortentwicklung, ohne dass die beiden Länder bisher eine gemeinsame Zukunftsvision entwickelt haben. Eine solche Vision ist keine Frage des Könnens, sondern eine Frage des Wollens. Es ist uns gelungen, ein gemeinsames Geschichtsbuch zu schreiben, nun gilt es, weiter gemeinsam Geschichte zu schreiben.

Dr. ANGELICA SCHWALL-DÜREN (MdB), geb. 1948, ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion für Angelegenheiten der Europäischen Union.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2007, S. 42 - 47.

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