Interview

29. Sep 2022

„Geht es um China, dann versteckt sich die EU“

Die transatlantischen Beziehungen sind bereits eng, könnten allerdings noch weiter ausgebaut werden, findet Ben Rhodes, der ehemalige außenpolitische Berater von US-Präsident Barack Obama. Gerade in Bezug auf ihre China-Politik müssten sich die USA und Europa besser abstimmen. Außerdem drohe die Gefahr, dass sich die USA selbst in eine Autokratie verwandeln.

Bild
A picture of Ben Rhodes
Ben Rhodes ist der Autor von “After the Fall, The Rise of Authoritarianism in the World We've Made” (2021) und “The World As It Is” (2018). Er war der wichtigste Redenschreiber des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama und von 2009 bis 2017 stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

IP: Europa blickt den US-Kongresswahlen im November entgegen und darüber hinaus auch schon auf das Jahr 2024, in dem womöglich eine zweite Amtszeit von Donald Trump im Weißen Haus ansteht. Sogar das Szenario eines Bürgerkriegs wird diskutiert. Was bedeutet es für die amerikanische Außenpolitik, dass das Land so tief gespalten ist?

Ben Rhodes:
Es wird für die USA schwierig sein, außenpolitische Initiativen konsequent zu verfolgen, wenn die Machtverhältnisse im Land weiterhin so stark zwischen den Demokraten und den Republikanern hin und her schwanken. Denn selbst kleinere Verschiebungen im Kongress können dem Präsidenten das Leben bereits sehr schwer machen. Blickt man jedoch auf die Trump-Jahre zurück, dann muss man auch festhalten, dass es in der amerikanischen Außenpolitik immer einige Konstanten gegeben hat, so die interessenbasierte Politik gegenüber China oder der NATO. Trotzdem gehe ich davon aus, dass andere Staaten vorsichtig sein werden, wenn es darum geht, die USA bei neuen außenpolitischen Initiativen und neuen Strategien zu unterstützen. Stattdessen wird man vielerorts zunächst abwarten wollen, wohin sich die Demokratie hierzulande entwickelt.

Die nächsten Wahlgänge werden für die USA zweifelsohne eine große Herausforderung sein. Aber so dysfunktional die USA auch sind: Wir werden auf absehbare Zeit weiterhin das größte und stärkste Militär der Welt haben und über die vitalste und widerstandsfähigste Wirtschaft der Welt verfügen. Ich versuche wirklich ganz offen und ehrlich über den bröckelnden Status der USA als Supermacht nachzudenken. Gleichzeitig glaube ich aber trotzdem, dass die Vereinigten Staaten auch in den nächsten Jahrzehnten die stärkste Macht der Welt sein werden.

 

Wäre Donald Trump im Jahr 2020 wiedergewählt worden, hätte er womöglich den Austritt der USA aus der NATO veranlasst. Besteht diese Gefahr weiterhin, wenn das Weiße Haus 2024 von Trump oder einem anderen Republikaner besetzt wird?

Im Falle einer Wiederwahl hätte Trump die NATO tatsächlich unbedingt verlassen wollen; viele seiner Berater haben das mittlerweile offen bestätigt. Ich glaube allerdings nicht, dass andere Republikaner diese Meinung teilen. Ich bin kein Fan von Ron DeSantis oder anderen Republikanern, die kandidieren könnten, sollte Trump nicht antreten. Gleichzeitig gehe ich davon aus, dass keiner von ihnen aus der NATO austreten würde. Sie sind eher konventionelle Republikaner, die zwar einen harten außenpolitischen Kurs fahren und dementsprechend wohl auch ziemlich direkte Worte an andere NATO-Länder richten würden, wenn es um ihre finanziellen Verpflichtungen gegenüber der Allianz geht. Einen Austritt aus der NATO würden sie meiner Meinung nach aber nicht befürworten. Und selbst wenn Trump wiedergewählt würde und sich wirklich aus der NATO zurückziehen wollte, wäre das noch nicht das Ende. Denn angesichts des Krieges in der Ukraine und der überwältigenden Unterstützung des Kongresses für den ukrainischen Staat und die NATO wären führende Republikaner hier womöglich durchaus bereit, mit Trump zu brechen. Es könnte also sein, dass man versucht, ihm die Hände zu binden und ihn daran hindert, einen NATO-Austritt anzuordnen. Unter dem Strich ist Trump also der einzige Republikaner, der einen Austritt aus der NATO überhaupt in Erwägung ziehen würde – und selbst für ihn wäre es schwierig, diesen Austritt praktisch umzusetzen.

 

Unabhängig davon, wer 2024 die Präsidentschaftswahlen gewinnt: Wie wichtig sind die transatlantischen Beziehungen für die USA in Zukunft? Und wie können sie zukunftssicher gemacht werden?

Ich denke, dass uns 2024 eine 50:50-Wahl ins Haus steht. Es kann in beide Richtungen gehen, und das ist durchaus beunruhigend. Wenn Joe Biden oder ein anderer Demokrat gewinnt, werden die transatlantischen Beziehungen bei fast allen wichtigen Themen eine zentrale Rolle spielen – sei es mit Blick auf die Ukraine, auf die Energiepolitik, auf China, Technologie oder Klimawandel. Wird jedoch ein Republikaner gewählt, etwa Trump oder ein Typ wie DeSantis, dann wird Europa von diesem Präsidenten wieder eher wie ein Rivale behandelt werden. Ich glaube, die Republikaner, insbesondere Trump, arbeiten lieber mit einer Handvoll gleichgesinnter Autokraten zusammen und benutzen Europa als eine Art Boxsack. Hinzu kommt, dass Trump ganz andere Prioritäten hat. Während Präsident Bidens Agenda sich weitestgehend mit den Ideen europäischer Staatschefs überschneidet, schert sich Trump weder um den Klimawandel noch um eine regelbasierte Weltordnung. Und auch die NATO und die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu Europa interessieren ihn nicht. Für ihn ist Europa ein Konkurrent.

Dabei bräuchte es meiner Meinung nach in Zukunft vor allem eine Vertiefung und Weiterentwicklung der transatlantischen Beziehungen und mehr Abstimmung zwischen den USA und Europa. Natürlich war die Zusammenarbeit in Bezug auf die Ukraine zuletzt bereits sehr eng, und auch in Bezug auf China, Technologien, künstliche Intelligenz und soziale Medien sowie die Finanzwirtschaft gab es bemerkenswerte Kooperationen. Angesichts der komplexen internationalen Lage ist es jedoch wichtiger als je zuvor, dass Verbündete als Einheit agieren. Und das auch, wenn es ab und zu bedeutet, von den eigenen Positionen abzuweichen. Ich würde mir wünschen, dass die USA in Bezug auf soziale Medien und Technologie mit Europa gleichziehen, und ich würde mir wünschen, dass die USA und Europa einen Mittelweg in ihrer China-Politik finden. Eine solche Annäherung wird wirklich wichtig sein, wenn wir in den USA eine weitere demokratische Regierung sehen und diese die Kooperation mit Europa weiter vertieft.

 

Und welche Kompromisse sollte Europa eingehen?

Gerade im Energiesektor steht Europa vor enormen Herausforderungen, bei denen auch die USA eine Rolle spielen könnten. Dabei geht es nicht nur darum, kurzfristig die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas zu minimieren, sondern auch um die Frage, wie all das mit der Umstellung auf erneuerbare Energien und unserer Klimaagenda zusammenpasst. Ich denke, dass wir die Zusammenarbeit in diesem Bereich in Zukunft noch ausbauen können.

Außerdem würde ich mir wirklich wünschen, dass der Dialog über China intensiviert wird. Europa hat das Thema China in der Vergangenheit oft als eine amerikanische Angelegenheit abgetan und die Spannungen zwischen Peking und Washington auf den bilateralen Wettbewerb zwischen den beiden Staaten zurückgeführt. Und gerade während der Trump-Jahre wollte man es vermeiden, sich auf eine Seite zu schlagen, was ich durchaus nachvollziehen kann. Ich denke aber, dass es mittlerweile nicht schlecht wäre, sich zu einer Seite zu bekennen. Was denken die Europäer und insbesondere die Deutschen über die chinesischen Rückschritte beim Thema Wirtschaftsreformen? Wie werden die Lieferkettensicherheit und ihre Auswirkungen auf die nationale Sicherheit in Europa diskutiert – und wie denkt man aus europäischer Sicht mit Blick auf China über den Technologiesektor, Datenmanagement, Pharmazeutika und Biotechnologie nach? All das sind Fragen, mit denen wir uns in Zukunft näher befassen sollten. 

In den USA vollzieht sich gerade ein massiver Wandel hin zur Sicherung von Lieferketten. Das bedeutet unter anderem, dass die Produktion aus China wegverlagert wird. Dieses Ziel wäre natürlich einfacher zu erreichen, wenn Europa daran beteiligt wäre. Und noch besser wäre es, wenn Europa sich selbst mehr Gedanken darüber machen würde, wo sich die eigenen Interessen mit den Interessen der Vereinigten Staaten überschneiden und daraus ein entsprechendes Konzept entwickeln würde. Auch mit Blick auf das Thema Menschenrechte und auf Taiwan überlässt Europa ja gerne den USA die Initiative. Man sieht die eigenen Interessen dort nicht berührt. Wenn es vor der Küste von Taiwan jedoch wirklich zu einem Konflikt käme, dann würde das natürlich auch Europa betreffen. Es handelt sich hier also nicht nur um US-Angelegenheiten, sondern auch um transatlantische Fragen.

 

Sie meinen also, dass die USA und Europa sich gerade in Bezug auf China stärker abstimmen müssen?

Ja. Ich habe allerdings derzeit nicht das Gefühl, dass wir uns diesem Ziel annähern. Die USA haben bereits vor Jahren beschlossen, in den Beziehungen zu China vermehrt das Wettbewerbselement und die konfrontative Ebene zu betonen. Das war erstmals unter Obama der Fall, wurde unter Trump noch deutlicher und wird mittlerweile auch von Biden fortgesetzt. Bei Handelsfragen, etwa in Bezug auf globale Lieferketten, und in militärischen sowie geopolitischen Angelegenheiten wie den Entwicklungen in Taiwan und in der chinesischen Provinz Xinjiang, schlägt Washington mittlerweile einen härteren Ton an. Europa zieht allerdings bislang nicht mit. 

Europa neigt weiterhin mehr als die USA dazu, sich auf China einzulassen und den Handelsbeziehungen mit Peking Vorrang einzuräumen. Das war zwar für lange Zeit auch in den USA der Fall, mittlerweile ändert sich diese Haltung dort jedoch. Ich denke, dass das vor allem Deutschland beunruhigt. Man zögert deshalb offensichtlich, in bestimmten politischen Fragen oder bei Sanktionen, die auch die eigene Wirtschaft treffen könnten, klar Stellung zu beziehen.

 

Liegen die Positionen der USA und Europas denn hier weit auseinander?

Ich finde es interessant, dass beide in vielen Punkten die gleichen Bedenken haben: Wir wünschen uns wirksamere Maßnahmen gegen den Klimawandel und brauchen dafür auch China. Wir sind besorgt über die Zukunft des Datenschutzes und müssen dafür auch ein Auge auf China haben. Wir sind besorgt über die Unterwanderung der regelbasierten Weltordnung – und China spielt dabei eine zentrale Rolle. Gerade deshalb denke ich, dass sich die USA und Europa auf ihre gemeinsamen Positionen besinnen müssen. Vielleicht streben wir nicht die gleiche China-Politik an. Trotzdem verfolgen wir gerade in den Bereichen Handel, Technologie, Klima, Politik und Menschenrechte sehr ähnliche Ziele. Es gibt also eine gewisse Basis für eine gemeinsame Außenpolitik vis-à-vis China. Ich würde mir wünschen, dass wir diese Basis weiter ausbauen. Mit Blick auf die Ukraine sehen wir, dass es durchaus genug politischen Willen gibt, auch große diplomatische Anstrengungen gemeinsam zu unternehmen. Gleichzeitig zeigt uns dieses Beispiel aber auch, dass eine massive und brutale Invasion auf dem europäischen Kontinent natürlich sehr viel Aufmerksamkeit erregt, die wiederum politisch genutzt werden kann. In Bezug auf die Beziehungen zu China ist es uns noch nicht ganz gelungen, diese Aufmerksamkeit und politische Energie zu erzeugen.

 

Lassen Sie uns zu der Rolle Deutschlands kommen: Die Bundesregierung hat eine „Zeitenwende“ in Gang gesetzt und versprochen, sehr viel Geld für militärische Zwecke auszugeben. Werden diese Investitionen Ihrer Meinung nach die gewünschten Resultate haben, und mit welchen Folgen?

Das ist für mich schwer zu sagen. Ich habe das Gefühl, dass es in Deutschland immer eine gewisse Zurückhaltung geben wird, wenn es um militärische und verteidigungspolitische Fragen geht, was ja zunächst einmal nicht schlecht ist. Meine eigenen politischen Erfahrungen zugrunde gelegt, kann ich das nachvollziehen und finde es – basierend auf meiner Betrachtung der deutschen Politik von außen – auch in gewisser Weise angemessen, dass sich die Begeisterung für militärische Abenteuer und Interventionen in Berlin in Grenzen hält. Im Vergleich zu Frankreich, dem Vereinigten Königreich und gewissen Strömungen in den USA wird Deutschland immer etwas vorsichtiger agieren, und das ist auch in Ordnung, weil es zur historischen Rolle der Bundesrepublik passt. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass Deutschland allein aufgrund seiner Größe und seines Einflusses in Europa mehr in die transatlantische Sicherheitsarchitektur investieren muss. Und dazu gehören auch höhere Verteidigungsausgaben. Im Grunde geht es darum, die NATO funktionsfähig zu machen und anderen Staaten zu zeigen, dass jeder seinen Teil zu der Allianz beiträgt – einschließlich der größten europäischen Länder.

Ich habe den Eindruck, dass ein Teil der deutschen Zurückhaltung in diesen Fragen mit Berlins Russland-Politik und der Überzeugung zusammenhängt, dass die Bundesrepublik so etwas wie eine Brücke zu Russland sein könnte. Viele halten weiter an diesen einzigartigen Beziehungen zu Moskau fest, sowohl im Energiesektor als auch in diplomatischer Hinsicht. Dabei ist längst der Zeitpunkt gekommen, anzuerkennen, dass die Beziehungen zu Russland tot sind – und in naher Zukunft auch nicht wiederbelebt werden können. Dieser Konflikt lässt keinen Spielraum für einen Minsker Prozess und es ist ausgeschlossen, dass Deutschland in drei oder fünf Jahren wieder ein normales Verhältnis zu Russland pflegt. Vielmehr treten wir aus meiner Sicht gerade in eine neue Phase ein, in der Deutschland weniger zurückhaltend agieren muss und wahrscheinlich auch wird, was die eigenen Verteidigungsausgaben, die militärische Unterstützung für die Ukraine und die Finanzierung der NATO angeht. Gerade in letzterem Punkt hat der deutsche Umgang mit Russland in der Vergangenheit dazu geführt, dass man ein härteres Vorgehen der Allianz und eine verstärkte NATO-Präsenz in Osteuropa immer wieder gebremst hat.

 

Vertreter der Biden-Regierung haben die Weltpolitik gleich zu Beginn ihrer Amtszeit als einen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie beschrieben. In Berlin befürchtet man jedoch, dass diese Wahrnehmung einen eher kontraproduktiven Konflikt zwischen der G7 und dem Rest der Welt befeuern könnte. Und selbst Präsident Biden besuchte kürzlich Saudi-Arabien. Wie stehen Sie zu dieser Debatte?

Die Reise nach Saudi-Arabien offenbart nur einmal mehr die Heuchelei der USA, wenn es um Menschenrechtsfragen geht. Ich selbst war kein Fan dieses Besuchs. Gleichzeitig weiß ich, dass man in der Politik ab und zu auch widersprüchlich agiert.

Die Behauptung, dass wir heute einen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie erleben, ist für mich geopolitisch viel weniger relevant als innenpolitisch. Ich halte sie also eher für einen guten Erklärungsansatz für das, was innerhalb der USA und innerhalb Europas geschieht. Den echten Kampf zwischen Demokratie und Autokratie erleben wir gerade in den Vereinigten Staaten und vielen anderen Staaten. Ich finde aber nicht, dass jeder Aspekt der Außenpolitik von diesem Konflikt abhängt.

Als jemand, der sich selbst für ziemlich progressiv hält und der keinen Konflikt sucht, der vermieden werden kann, denke ich, dass die G7 und andere Demokratien sich mit der Tatsache abfinden müssen, dass China und Russland sich innerhalb der vergangenen Dekade maßgeblich verändert haben. Russland arbeitet mittlerweile daran, die bestehende internationale Ordnung zu zerstören, und China versucht, seine eigene aufzubauen. Als ich noch für die US-Regierung arbeitete, sah das ganz anders aus. Damals wollte Russland die internationale Ordnung „nur“ aus dem Gleichgewicht bringen und China arbeitete noch interessenbasiert in ihr.

Heute will China, dass die Welt mehr wie China aussieht, und agiert damit im Stil einer Supermacht. Das kann man nicht verhindern, sondern man muss es zur Kenntnis nehmen und einen eigenen Umgang mit dieser neuen Realität finden. Ich glaube dementsprechend auch nicht daran, dass wir die Welt einfach in ein Schema pressen können, in dem plötzlich alle Staaten Demokratien oder Autokratien sind. Wichtig wird es in Zukunft vielmehr sein, dass die Bürgerinnen und Bürger, die in Demokratien leben, die Wertschätzung für diese Regierungsform wiederentdecken und verstehen, dass es sich für sie zu kämpfen lohnt. Und sie müssen begreifen, dass wir uns in einer neuen Phase befinden: in einer Zeit, in der China und Russland viel aggressiver vorgehen – und in der wir uns auch aggressiver zur Wehr setzen sollten.

 

Wird Kritik Ihrer Ansicht nach deutlich genug formuliert?

Die G7 und auch die USA haben sich bislang nur ungern etwa zu den inneren Angelegenheiten Chinas geäußert. Aber warum eigentlich? China äußert sich doch auch tagtäglich zu unserer Innenpolitik und nimmt kein Blatt vor den Mund. Wir sollten dementsprechend auch sagen können, was wir über Taiwan oder Tibet oder die Uiguren denken. Diese demokratische Selbstzensur, die wir betreiben, hat meiner Meinung nach damit zu tun, dass wir uns für überlegen halten und denken, wir müssten uns gewissen Beschränkungen unterwerfen. Ich glaube aber nicht, dass das heute noch der Fall ist. Wir müssen jetzt weniger schüchtern sein und unsere Meinung kundtun.

Ein anderes Beispiel ist Ungarn. Sowohl in der EU als auch in den USA hat man sich für geraume Zeit mit Kritik an Viktor Orbán zurückgehalten. Man hatte Angst davor, Orbán an den Pranger zu stellen und ihn damit noch mehr zu verprellen. Nun hat sich Ungarn aber bereits so weit vom Kern der EU entfernt, dass Brüssel sich nicht mehr in Zurückhaltung übt und konkrete Schritte unternimmt, um Ungarns Mittel zu kürzen. Zudem wird die finanzielle Unterstützung wieder an bestimmte Bedingungen geknüpft. Das freut mich, weil es ein gutes Beispiel dafür ist, dass wir durchaus die Möglichkeit haben, unsere Stimme zu erheben und unsere Werte zu verteidigen – und das auch ohne die ganze Welt nur schwarzweiß zu malen. Wenn jemand aggressiv eine andere Strategie verfolgt als wir, dann dürfen wir auch ebenso vehement für unseren Weg eintreten.  

 

Sie erwähnten bereits, dass die Gefahr besteht, dass die USA selbst zu einer Autokratie werden. Wie kann die amerikanische Gesellschaft dem autoritären Populismus die Stirn bieten?

Als Donald Trump gewählt wurde, waren viele Menschen meiner Meinung nach noch nicht ausreichend sensibilisiert für die Gefahr, die von ihm ausging. Während der Trump-Jahre und gerade auch nach dem 6. Januar 2021, dem Sturm auf das Kapitol, hat sich diese Alarmbereitschaft jedoch erhöht. Vielleicht läuft die tatsächliche Gefahr aber noch immer etwas unter dem Radar.

Aus meiner Sicht ist die Republikanische Partei in den vergangenen Jahren zu einer extremistischen, rechtsextremen und nationalistischen Partei geworden. In Europa könnte man sie am ehesten mit der Alternative für Deutschland (AfD) oder Fidesz in Ungarn vergleichen. Wir haben es hier mit einer fremden- und einwanderungsfeindlichen Partei zu tun, deren politischer Erfolg auf der gesellschaftlichen Spaltung beruht und die – auch wenn das für viele eine provokante Aussage sein dürfte – meiner Meinung nach eine autoritäre Agenda verfolgt. Die Republikaner wollen die Geschichte umschreiben, Gesetze und das Wahlrecht verändern, um die Chancen auf politischen Erfolg zu erhöhen, und Medien in Propagandamaschinen verwandeln. Man muss nur in die Türkei, nach Ungarn, Russland, Brasilien oder Indien schauen, um zu verstehen, wie so eine autokratische Wende aussehen kann. Die Vereinigten Staaten befinden sich bereits in der Abwärtsspirale.

 

Abschließend die Frage nach Donald Trump – wie sehen Sie ihn?

Vor dem gerade beschriebenen Hintergrund ist er aus meiner Sicht die gefährlichste Figur. Er agiert maximal rücksichtslos und gibt nicht einmal vor, grundlegende Normen zu respektieren. Seine Wiederwahl stellt die größte Gefahr dar. Aber selbst, wenn Trump nicht erneut Präsident werden sollte, ist die Gefahr nicht gebannt. Wir befinden uns allgemein in einer sehr schwierigen Phase – und das wird auch erstmal so bleiben. Man muss aber dazu sagen, dass das in der amerikanischen Geschichte nichts Neues ist. Die USA haben schon einige merkwürdige politische Entwicklungen erlebt. Es gab einen Bürgerkrieg, die Rassentrennung – reaktionäre Strömungen haben unser politisches System stets belastet. Gerade erleben wir allerdings eine besonders aggressive Version davon, die auch maßgeblich von den sozialen Medien angetrieben wird. 

Ich bleibe aber optimistisch und bin weiterhin davon überzeugt, dass vieles dagegen spricht, dass die USA tatsächlich eine autoritäre Wende erleben. Es gibt immer noch viele politische Normen, Traditionen und Institutionen in unserem Land, die das erschweren, und auch keine Mehrheit für so einen Umsturz. Das heißt aber nicht, dass autokratische Tendenzen keine reale Bedrohung für unsere Gesellschaft darstellen. Sie werden uns noch eine ganze Weile beschäftigen.

 

Das Interview führten Martin Bialecki, Henning Hoff, Joachim Staron und Alina-Sophie Ober.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik, online exclusive, 29.09.2022

Teilen