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02. Sep 2024

Gegen den Westen mit dem Rest der Welt: Wie Russland im Süden Verbündete sucht

Revolutionär aus Notwendigkeit: Wie Wladimir Putin den Globalen Süden für Russlands Kreuzzug gegen die westliche Hegemonie gewinnen will.

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Bild: Wladimir Putin und Kim Jong-un in Nordkorea
Trittbrettfahrer: In vielen seiner Beziehungen tritt Wladimir Putins Russland heute in der Rolle des Bittstellers auf, weil es Ressourcen für den Ukraine-Krieg braucht. Hier in Nordkorea, Juni 2024.
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Und täglich grüßt das Murmeltier. Am 7. Juni 2024 bekamen die Teilnehmer des Sankt Petersburger Wirtschaftsforums eine dramatische Videopräsentation zu sehen. Inhalt: die Geschichte der europäischen Kolonisierung mitsamt Ausbeutung und Versklavung indigener Völker. Kontext: die gegenwärtigen Beziehungen westlicher Staaten zum Globalen Süden. Für die Verknüpfung sorgte der russische Präsident Wladimir Putin höchstpersönlich, indem er die westlichen Staaten bezichtigte, „alle erforderlichen Mittel zu ergreifen, ihre trügerische Rolle als Hegemon aufrechtzuerhalten“ und „dabei Lügen zu erzählen“.

Es hätte nur einer leichten Veränderung der Dekoration bedurft und man könnte diese Szene für Material aus den 1970er Jahren halten – eines von vielen Treffen zwischen Leonid Breschnew und Staatschefs der Schwellen- und Entwicklungsländer, in denen Breschnew schimpfte, Afrika sei „für die Kräfte des Imperialismus“ ein Objekt von „starkem und ungesundem Interesse“; diese Kräfte agierten im Geist der „verrufenen Kolonialzeit“ und stünden im harten Kontrast zum „friedliebenden“ und „uneigennützigen“ Ansatz der Sowjetunion.

100 Jahre nach dem Tod von Wladimir Lenin – der angetrieben war von der Idee einer Weltrevolution, einem antikapitalistischen Aufstand der globalen Arbeiterklasse – drängt Russland in Gestalt von Wladimir Putin die Welt erneut dazu, sich von der westlichen Hegemonie mit ihren Regeln und Institutionen zu befreien und mit Russland „eine neue Welt zu bauen“. Und während Putin seine Weltrevolution mit weniger Eifer zu verfolgen scheint als Lenin, ist das Anliegen für ihn doch sicherlich drängender, als es für Breschnew in den 1970er Jahren war. 

War Lenin ein Revolutionär aus Überzeugung, so ist Putin ein Revolutionär aus Notwendigkeit. Es ist der Krieg gegen die Ukraine, der seinen Versuch, den Globalen Süden für seinen Kreuzzug gegen die westliche Hegemonie zu gewinnen, mit existenzieller Bedeutung auflädt. Die Logik ist einfach: Selbst wenn es Moskau gelingt, auf dem Schlachtfeld die Oberhand zu behalten, kann es den Krieg politisch nicht gewinnen, solange der Westen eine dominante Weltmacht bleibt. Ein starker Westen würde Russland für den verbrecherischen Krieg auf verschiedenen Wegen bestrafen: durch Sanktionen und eine Drosselung von Einnahmen, Handelsverbindungen, technologischen Programmen und internationalem Einfluss Russlands. 

Um den Krieg also wirklich gewinnen zu können – das heißt, um aus ihm mit ähnlichem Status und Einfluss wie vor Kriegsbeginn hervorzugehen oder die eigene Position zu stärken – muss Russland den Westen nun so sehr herabwürdigen, dass dieser seine Regeln in der Welt nicht mehr durchsetzen und Russland seine Strafe nicht zuteilwerden lassen kann. 

Russlands Reichweite im Globalen Süden kommt nicht von ungefähr. In der Sowjetzeit hat Moskau die Beziehungen zu nichtwestlichen Staaten in der Hoffnung kultiviert, dadurch den westlichen Einfluss zu begrenzen und ideologische Verbündete zu gewinnen – ganz ähnlich wie heute. Man bot kommunistischen Regimen von Kuba bis Nordkorea Unterstützung an und versuchte, sozialistische Aufständische in Afrika und Lateinamerika zu unterstützen; auch lieferte man Waffen an einen weiten Kreis von Staaten des Globalen Südens und akzeptierte Studierende aus diesen Ländern an den heimischen Universitäten. 

Einige dieser Aktivitäten haben Früchte getragen, von denen Moskau noch heute profitiert. So haben viele der Zehntausenden Studierenden aus dem Globalen Süden, die in der Sowjetzeit ihre Abschlüsse an russischen Universitäten gemacht haben, heute einflussreiche Positionen inne. In einem Interview im Jahr 2001 prahlte der Rektor der Russischen Universität der Völkerfreundschaft in Moskau mit den vielen hochrangigen Alumni, darunter „der Präsident von Guyana, der kubanische Botschafter in der Ukraine, der Gesundheitsminister von Nicaragua, der Rektor der Nationaluniversität in Äquatorialguinea und der Außenminister der Elfenbeinküste“. 

Bis heute ist es keine Seltenheit, in den technokratischen und politischen Eliten nichtwestlicher Länder russischsprachige, in der Sowjetunion ausgebildete Menschen anzutreffen. Gelegentlich bringt das spürbare politische Erträge für Moskau. Nehmen wir etwa Mali, wo man froh war, französische Friedenstruppen gegen russische Söldner der Gruppe Wagner austauschen zu können; später stimmte das Land in einer potenziell rufschädigenden Weise in der UN-Generalversammlung gegen ein sofortiges Kriegsende in der Ukraine. 

Wenn man auch nicht wissen kann, ob es damit zusammenhängt – jedenfalls hat Malis Premierminister Choguel Kokalla Maïga in der Sowjetunion studiert und erinnert sich gern daran. „Ich habe elf Jahre lang in der Sowjetunion gelebt. Ich bin Moskauer“, sagte er jüngst in einem Interview, das die russischen Botschaften in der Region freudig weiterverbreiteten. 


Alles erreicht, alles verspielt

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte Moskau den Globalen Süden zunächst weitgehend vergessen. Zwar hielt man das Netz aus Botschaften aufrecht, doch fehlten die Ressourcen für Investitionen. Der politische Fokus richtete sich auf innere Angelegenheiten und die Beziehungen zum Westen. 

Nicht selten kam es vor, dass Russland seine Beziehungen zum Globalen Süden einsetzte, um die eigene Agenda mit dem Westen voranzutreiben. Beispiel Iran: Über mehr als zwei Jahrzehnte bewegten sich Moskaus Beziehungen zu Teheran spiegelverkehrt zu den russisch-amerikanischen Beziehungen. Russland setzte die Verbindungen in den Iran als Hebel für die Beziehungen zu den USA ein – Waffendeals mit Teheran wurden je nach Stimmungslage eingefroren oder wiederbelebt. Das änderte sich, als Putin 2012 in den Kreml zurückkehrte. Während er in seinen ersten zwei Amtszeiten versucht hatte, eine funktionierende Beziehung zum Westen aufzubauen, definierte er Russland nun um zum nichtwestlichen Land. Er begann, die Beziehungen zu nichtwestlichen Staaten als Selbstzweck zu pflegen, nicht mehr nur als Kapital, das sich im Dialog mit dem Westen einsetzen ließ. 

Zugegeben: Dieser Ansatz hat sich aus russischer Sicht bewährt. In gewisser Weise hatte Moskau Anfang 2022 alles erreicht: Man war sowohl mit den USA als auch mit China im Gespräch, man war der wichtigste externe Vermittler beim Machtkampf in Nahost, man baute in unterschiedlichsten Winkeln der Welt Einfluss auf. Auch hatte man gelernt, militärische Macht effektiv zu politischen Zwecken einzusetzen und in einer Welt Fuß zu fassen, in der man keine Supermacht mehr war.


Zurück auf Los

Der Krieg hat all das zunichte gemacht. Abgeschnitten vom Westen hat Russland weite Teile des früheren diplomatischen Einflusses und seine Rolle als Königsmacher eingebüßt. Es hat sich in ein „Ein-Themen-Land“ verwandelt: Praktisch die gesamte Politik Moskaus und alle seine auswärtigen Beziehungen dienen heute den Kriegsanstrengungen und der Konfrontation mit dem Westen. Für andere Projekte bleiben kaum Ressourcen. Auch tritt Russland in vielen seiner Beziehungen in der Rolle des Bittstellers auf: Es braucht iranische Drohnen und nordkoreanische Granaten für den Krieg gegen die Ukraine. Und es braucht die Hilfe von Banken und Unternehmen anderer Staaten, um den Ölhandel und andere Geschäfte unter Umgehung der Sanktionen fortzusetzen.

In gewisser Weise ist die neue „weltrevolutionäre“ Rhetorik Russlands eher ein Zeichen der Schwäche als der Stärke: Nachdem es die letzten Sympathien im Westen verspielt hat, muss es nun den Rest der Welt gegen den Westen mobilisieren. Einmal im Kreis gelaufen, ist Moskau zurück auf Los; man lässt dieselben Phrasen wie zu Sowjetzeiten verlautbaren, ist aber verglichen mit der alten Supermacht nurmehr ein Schatten seiner selbst. 

Anders als seinerzeit der Sowjetunion fehlt es Russland heute an einer Vision für die Zukunft, die es exportieren könnte. Die Betonung „traditioneller Werte“ mag bei Randgruppen im Westen gut ankommen, ist aber kaum genug, um Herz und Hirn der restlichen Welt zu erobern. Daher ist es verlockend, das russische Engagement im Globalen Süden als eine aus der Verzweiflung geborene Farce und damit als unseriöses Unterfangen abzutun. Ganz so einfach ist es jedoch nicht. 


Außenseiter und Herausforderer

Russland ist in der Tat geschwächt; es wird von Vetternwirtschaft und Korrup­tion heimgesucht. Außerdem fehlt es an einem kohärenten Wertesystem und einer ­Vision für die Zukunft. Doch paradoxerweise können sich diese Schwächen im Alltagsgeschäft mit dem Globalen Süden als Hilfe statt als Hindernis erweisen.

Denn es hat durchaus Vorzüge, keine Supermacht mehr zu sein: Russland kann die Netzwerke aus der Sowjetzeit nutzen, wird aber, anders als die Sowjetunion, nicht gefürchtet. Die Gefahr ist gering, dass Russland irgendwelche Staaten im Globalen Süden in ähnlicher Weise dominieren könnte, wie Sowjetunion und USA es zu Zeiten des Kalten Krieges getan haben. Daher sorgen sich diese Staaten wenig um den wachsenden russischen Einfluss. Moskau weiß das und inszeniert sich bewusst als pragmatischer Außenseiter, auf den sich die Staaten des Globalen Südens – von denen einige Europa als ehemaligen und China als kommenden Kolonisator betrachten – sorglos verlassen können. Außerdem bringt die Stellung als exponiertester Herausforderer der amerikanischen Supermacht sein eigenes symbolisches Kapital mit sich. 

Aus der Sowjetzeit hat man in Russland gelernt, dass es dem eigenen Einfluss abträglich sein kann, übermäßig ideologisch aufzutreten 

Auch das Fehlen eines kohärenten Wertesystems und einer Zukunftsvision kann nützlich sein. Tatsächlich haben die Erfahrungen aus der Sowjetunion Russland gelehrt, dass es dem eigenen Einfluss abträglich sein kann, übermäßig ideologisch aufzutreten. Ein russischer Außenpolitiker erinnert sich so an die Hochphase des Kalten Krieges: „Damals waren die Vereinigten Staaten intern ideologisch, indem sie den Liberalismus verkündeten und vor den Kommunisten warnten. Aber nach außen waren sie eine pragmatische Macht, die mit jedem kooperierte, mit dem es erforderlich war – von Josip Broz Tito bis Augusto Pinochet.“ Die Sowjetunion dagegen warb zur selben Zeit für ideologische Reinheit und verfolgte ideologische Ziele, die viele potenzielle Verbündete ­abschreckten oder entfremdeten.

Heute hat sich das Blatt gewendet: Der russische Ansatz zur Friedenssicherung in Afrika, der ohne weitere Bedingungen auskommt, hat gegenüber der europäischen Unterstützung, die mit Zuckerbrot und Peitsche, Regeln und Normen einhergeht, erkennbar Oberwasser. Infolgedessen hat Russland die Europäer in einer Reihe afrikanischer Staaten abgelöst, deren angeschlagene Herrscher mit Russland und seinen zwielichtigen privaten Militärdienstleistern leichter eine gemeinsame Sprache finden. Das verschafft Moskau Einfluss, den es in Stimmen in der UN-Generalversammlung umwandeln möchte.

Auch das Fehlen von Spitzentechnologie kann zuweilen ein Vorteil sein, wie die Waffengeschäfte Moskaus im ­Globalen Süden, insbesondere in Afrika, zeigen. Der Westen mag die besten Waffensysteme der Welt produzieren, doch sind sie auch die teuersten – sie liegen weit jenseits des Budgets vieler ärmerer Staaten, die daher seit Langem Kunden der russischen Waffenindustrie sind. Das in Russland hergestellte Kalaschnikow-Maschinengewehr, bekannt für seine robuste und zuverlässige Konstruktion sowie seinen erschwinglichen Preis, ziert sogar die Flagge von Mosambik. Zwar hat der Krieg in der Ukraine die Kapazitäten Russlands beim Waffenexport beeinträchtigt und das Land zum Waffenimporteur gemacht – doch immerhin zahlt Moskau dafür deutlich weniger als der Westen für die militärische Ausrüstung, die er an die Ukraine liefert.

Ein weiteres Beispiel ist die Bildung: Die Konfrontation mit dem Westen hat Moskau dazu angeregt, erneut in Soft Power zu investieren. Wieder rekrutiert man Studierende aus dem Globalen Süden, deren Anzahl mittlerweile diejenige von 1990 überschritten hat. Zwar schaffen es die russischen Universitäten nicht an die absolute Spitze der weltweiten Rankings, aber schlecht sind sie auch nicht. Gleichzeitig sind die Gebühren, verglichen mit denen im Westen, unbedeutend und die Einwanderungsregeln locker. Daher betrachten viele Studierende aus dem ­Globalen Süden dies als bezahlbares Ticket in eine bessere Zukunft.

Es könnte ein Fehler sein, wenn wir im Westen annehmen, dass die russischen Beziehungen mit dem Globalen Süden zum Scheitern verurteilt seien, weil Russland wenig anzubieten habe: keine ­Vision, keine Werte, keinen Fortschritt. Der Globale Süden dürfte sich an Putins ideologischem Kreuzzug gegen den Westen kaum beteiligen. Doch er wird sich auch dem Westen beim Versuch, Russland zu isolieren, nicht anschließen – jedenfalls nicht in ausreichender Geschlossenheit. 

Viele Staaten des Globalen Südens weigern sich, eine Entscheidung zu treffen: Sie haben kein Interesse an der Rückkehr einer bipolaren Welt mit ihren Zwängen und Dilemmata. Angesichts der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen sowie des Bröckelns der westlichen Weltordnung wollen sie stattdessen die Gunst der Stunde nutzen, um ihren eigenen Einfluss zu erhöhen, ihre Partnerschaften auszubauen und ganz allgemein zu profitieren. Vor diesem Hintergrund ist das, was Russland anzubieten hat, zwar absolut betrachtet nicht besonders gut: weder inspirierende Ideen noch hochwertige Produkte. Doch für den einen oder anderen Staat des Globalen Südens könnte es eben gut genug sein, um das eine oder andere tagespolitische Problem zu lösen.

Das alles heißt nicht, dass der Westen dazu verdammt wäre, den Wettstreit um Herz und Hirn der Weltöffentlichkeit zu verlieren. Doch es bedeutet, dass der Westen – will er ihn gewinnen – seinen Ansatz gegenüber dem Globalen Süden in etwas weitaus Praktischeres verwandeln muss statt zu hoffen, dass es zum Erfolg bereits genügen würde, ausgerüstet mit Regeln, Normen und Werten auf einem hohen ­moralischen Ross zu reiten.

Aus dem Englischen von Matthias Hempert  

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Gegen den 
Westen mit dem Rest der Welt" erschienen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 5, September/Oktober 2024, S. 34-38

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Kadri Liik 
ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR) in Berlin.

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