Gegen den Strich

27. Juni 2022

Gegen den Strich: Europäische Sicherheitsordnung

Dass Wladimir Putin mit seinem Angriff auf die Ukraine die Regeln, nach denen wir in Europa miteinander leben wollen, zutiefst erschüttert hat, ist bekannt. Aber was daran ist wirklich neu, was ist gleich geblieben? Wie sehr bestimmt die Innenpolitik das Mit- oder Gegeneinander nach außen? Neun Thesen auf dem Prüfstand.

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Bild: Unterzeichnung der NATO-Russland Grundakte im Mai 1997
Versprochen, gebrochen: An die Verträge und Abkommen seines Vorgängers Boris Jelzin (hier nach der Unterzeichnung der 
NATO-Russland-Grundakte am 27. Mai 1997 in Paris) fühlt Wladimir Putin sich nicht weiter gebunden.
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„Die Geopolitik ist zurückgekehrt nach Europa“

Vermutlich stimmt das – und vermutlich war sie nie ganz verschwunden. Die Frage ist nur: Was heißt das? Der Begriff der Geopolitik ist geradezu atemberaubend schwammig. Gewiss, die internationale Politik hängt irgendwie auch mit der Geografie zusammen, nur: wie genau?



Gewöhnlich wird mit der These die orstellung verbunden, die Globalisierung habe ihren Höhepunkt überschritten, und die mit ihr verbundenen Verletzlichkeiten unserer Gesellschaften würden die Politik nunmehr dazu veranlassen, grenzüberschreitende Verflechtungen zurückzufahren. Die Geopolitik wäre demnach eine Gegenkraft zur Globalisierung; die Politik und damit der Staat erführen eine Renaissance, während die Handlungsspielräume der Wirtschaft beschnitten würden.

Allerdings: Wie passt das dazu, dass die Globalisierung nicht nur wesentliche Grundlagen für den weltweiten Wohlstand, sondern auch – siehe China – für die Macht des Nationalstaats geliefert hat? Zu vermuten steht, dass die Zukunft durch das Zusammenwirken von Geopolitik und Globalisierung, von Staat und Wirtschaft geprägt sein wird.

Und schließlich hebt diese These darauf ab, dass Macht- und Gewaltpolitik in den internationalen Beziehungen wieder eine zwar höchst bedauerliche, aber nichtsdestotrotz zentrale Rolle spielten. Auch das trifft zu, auch das ist nicht neu. Neu stellt sich dagegen die Frage, welchen Stellenwert militärische Macht künftig im Machtportfolio von Staaten und Mächten im Vergleich zu Wirtschaftsmacht, technologischer Innovationsmacht oder Soft Power haben wird – jenseits von Strategien der Abschreckung.

Die Ergebnisse der russischen Gewaltpolitik in Syrien, in Georgien und der Ukraine sind bislang zwiespältig: Während ihre Zerstörungspotenziale erheblich sind, ist erkennbar, dass Russland große Schwierigkeiten dabei hat, militärische Gewalt in politische Kontrolle und diese in nachhaltige gesellschaftliche Strukturen zu überführen. Die Asymmetrien zwischen militärischer Gewaltpolitik und ihren Kollateralschäden im Sinne wirtschaftlicher Kosten und des Verlusts an internationalem Ansehen bestehen fort, gerade wegen der globalen Verflechtungen.

Es spricht also weiterhin vieles dafür, dass mit Gewaltpolitik kein Staat zu machen ist. Ob diese Einsicht sich auch in Moskau oder bei anderen autoritären Machthabern durchsetzen kann, ist freilich eine andere Frage. Das heißt: Mit Gewaltpolitik wird auch weiterhin zu rechnen sein.



„Die europäische Sicherheitsordnung ist am Überfall Russlands auf die Ukraine zerbrochen“

Das ist in gleich zweierlei Hinsicht ungenau. Erstens ist die europäische Sicherheitsordnung zwar umkämpft und herausgefordert, aber nicht zerbrochen. Zweitens ist es ein Denkfehler, diese Ordnung als geschlossenen Block aufzufassen. Tatsächlich ist sie ein kompliziertes, vielschichtiges Gebilde aus geografischen und funktionalen Teilordnungen, die ineinandergreifen, sich teils überschneiden und wechselseitig stützen, aber auch behindern.

Die EU ist ein wesentlicher Teil der europäischen Sicherheitsordnung, und sie funktioniert. Auch die Sanktionen gegen Russland sind ein Element in dieser Ordnung, und auch ihre Anwendung funktioniert: Sie werden nach bestimmten Verfahren verabschiedet, umgesetzt und eingehalten und zeitigen Wirkungen, wenn auch sowohl intendierte wie nicht intendierte. Dass sie gelegentlich unterlaufen werden, spricht nicht gegen die Funktionsfähigkeit der Sanktionsordnung an sich.

Das Völkerrecht wurde im Krieg in der Ukraine massiv verletzt, aber kein Krieg wurde je so umfassend auf Kriegsverbrechen hin untersucht und dokumentiert wie dieser. Auch die Völkerrechtsordnung funktioniert in diesem Sinne weiterhin.

Richtig ist allerdings, dass die europäische Sicherheitsordnung spätestens seit 2014 in ihren Grundprinzipien gerade von Moskau infrage gestellt, bekämpft und herausgefordert wird mit dem Ziel, eine andere europäische Sicherheitsordnung zu errichten. Ob dies gelingen wird, ist Gegenstand des Krieges in der Ukraine und des diplomatischen Machtkampfs zwischen Russland, China und dem Westen.

Dass internationale Ordnungen sich gegen Widerstand behaupten können, beweist die gegenwärtige liberale Weltordnung, deren Ursprünge bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen: Sie wurde in zwei Weltkriegen und im Kalten Krieg fundamental herausgefordert, konnte sich aber immer wieder durchsetzen und neu begründen. 1919, 1945, 1990. Auch sie sieht sich heute grundlegend herausgefordert.



„Europas Sicherheitsordnung beruht auf nationalstaatlicher Souveränität; sie sollte mit unterschiedlichsten Regierungssystemen funktionieren“

Stimmt – zur Hälfte. Natürlich wäre es praktisch, wenn der Regimetypus eines Staates für die Funktionsfähigkeit der europäischen Sicherheitsordnung ohne Belang wäre. Und natürlich trifft es zu, dass internationale Zusammenarbeit zwischen ganz unterschiedlichen politischen Systemen nötig ist. Allerdings sind internationale politische Ordnungen nun mal unauflöslich mit den nationalstaatlichen verwoben, die sie tragen. Das gilt auch für die europäische Sicherheitsordnung: Ob, wie und wie gut sie funktionieren kann, hängt sehr weitgehend von den Beiträgen der Staaten zu dieser Ordnung und ihrem Verhalten innerhalb der Ordnung ab.

All das bestimmt sich aber nach Maßgabe der jeweiligen Innenpolitik und ihrer Grundlagen, also aus der inneren politischen Ordnung heraus. Der Mythos der politischen Neutralität der europäischen Sicherheitsordnung kaschiert ein Dilemma: das Dilemma, dass diese Ordnung auf die Kooperationsbereitschaft und einen gemeinsamen Wertefundus der beteiligten Staaten angewiesen ist und anders nicht funktionieren kann. Ein Regime, das diesen Konsens über die Grundregeln der politischen Ordnung nicht mitträgt, gefährdet damit per se – und nicht erst durch seine Politik – die internationale Ordnung, zu der es gehört.

Das bedeutet: Die Herrschaftsordnung, die Wladimir Putin in Russland seit seiner ersten Wahl zum Staatspräsidenten im Jahre 2000 geschaffen hat, ist schon seit Längerem unvereinbar mit der bestehenden europäischen Sicherheitsordnung. Das ­Putin-Regime beruht auf Grundlagen, die mit denjenigen der europäischen Ordnung – wie der zentralen Bedeutung individueller Freiheits- und Teilhaberechte oder der Einhegung von Macht durch Rechtsstaat und Gewaltenteilung – unvereinbar sind. Eine Akzeptanz dieser Regeln würde Putins Machtanspruch gefährden. Der Überfall auf die Ukraine ist eine direkte Konsequenz aus der inneren Verfasstheit Russlands. Der Krieg war von Anfang an akzeptiertes, ja bevorzugtes Mittel zum Zweck der Herrschaftssicherung.

Putins Politik richtete sich folgerichtig schon seit Jahren gegen die europäische Sicherheitsordnung – mit dem Ziel, sie von innen und außen zu untergraben und durch eine andere zu ersetzen. Solange sich die Herrschaftsverhältnisse in Moskau nicht verändern, wird die europäische Sicherheitsordnung umkämpft bleiben. Das heißt allerdings nicht, dass durch Veränderungen oder Reformen in Moskau zwangsläufig der Krieg in der Ukraine beendet und die europäische Sicherheitsordnung gerettet würde: Vielmehr käme es darauf an, wie die neue Herrschaftsordnung in Moskau aussähe und welche außenpolitische Strategie sie verfolgte.

Dieser unabweisliche Zusammenhang zwischen innerer und internationaler Ordnung stand dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden wohl vor Augen, als er sagte, Putin könne nicht an der Macht bleiben. Manche sahen darin einen Aufruf zum Regimewechsel. Indes beschrieb Biden lediglich die Unvereinbarkeit der inneren Ordnung Russlands mit der europäischen und der internationalen Ordnung, denen Moskau anzugehören vorgibt.

Der Präsident identifizierte ein grundlegendes außenpolitisches Dilemma: Vereinbarungen mit Putin und seinem Regime sind schwer vorstellbar. Putin arbeitet mit Gewalt, Täuschung und Lüge, und das macht es unmöglich, Vertrauen aufzubauen. All das wäre aber unabdingbar, um eine europäische Sicherheitsordnung zu entwickeln, in deren Rahmen sich der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine befrieden ließe, die Risiken des atomaren Wettrüstens entschärft würden und Europa seinen Beitrag zur Bewältigung der globalen Energie- und Klimakrise leisten könnte.



„Seit dem Überfall auf die Ukraine ist keine europäische Sicherheitsordnung mehr vorstellbar, sondern nur noch die Eindämmung Russlands“

Falsch. Ob es eine europäische Sicherheitsordnung überhaupt gibt, wie sie beschaffen ist und wie gut oder schlecht sie funktioniert, hängt ganz davon ab, wie die Regierungen der Mitgliedstaaten dazu stehen. Dabei spielen die jeweiligen innenpolitischen Voraussetzungen, also die nationalstaatlichen politischen Ordnungen, eine zentrale Rolle. Dass die Atom- und (ehemalige) Imperialmacht Russland mit ihrer aggressiven und imperialistischen Gewaltpolitik die europäische Sicherheitsordnung (und im Schulterschluss mit China auch die Weltordnung) herausfordert, ist natürlich besonders schwerwiegend. Aber Unvereinbarkeiten zwischen nationalen und europäischen Ordnungsgrundlagen gibt es auch bei anderen Staaten, etwa bei Ungarn, Polen oder der Türkei, aber auch bei Malta oder Zypern – und womöglich auch bei der föderalen und gelegentlich ziemlich provinziellen Bundesrepublik Deutschland.

All das mag sich für einige Zeit übertünchen lassen, und es mag bei manchen dieser Unvereinbarkeiten (etwa dem Einfluss russischer Oligarchen in Zypern oder der organisierten Kriminalität auf Malta) den Anschein haben, als seien sie für die Funktionsfähigkeit der europäischen Sicherheitsordnung ohne Belang. Das verkennt allerdings die elementare Bedeutung der ideellen Attraktivität, der Soft Power des europäischen Projekts, als machtpolitische Grundlagen der alten europäischen Sicherheitsordnung: Diese Grundlagen werden durch die angesprochenen Unvereinbarkeiten in ihrer Glaubwürdigkeit beschädigt und untergraben die Ordnung. Auflösen ließe sich das Dilemma der Unvereinbarkeit nur auf dem Weg, den die europäische Integration in anderen Zusammenhängen gewiesen hat: systematische Selbstverpflichtungen und Selbstbeschränkungen.



„Nach 1990 hat sich Deutschland eine Auszeit von der Weltpolitik genommen. Erst der Krieg in der Ukraine brachte das böse Erwachen“

Das stimmt historisch nicht so ganz. Heute wird selten reflektiert, dass die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit der Situation in Europa heute aufwiesen. Wenige hundert Kilometer jenseits der deutschen Grenzen, im ehemaligen westdeutschen Urlaubsland Jugoslawien, tobte der Krieg mit allen seinen Gräueln, kam es zu schlimmsten Menschenrechtsverletzungen, starben Zehntausende, flohen Hunderttausende. Die Frage, wie Deutschland darauf reagieren, wie es Friedensverhandlungen voranbringen könnte oder in den Krieg eingreifen sollte, löste eine heftige politische Grundsatzdebatte aus.

Am Ende standen klare Mehrheiten für eine Beteiligung der Bundeswehr an militärischen Interventionen der NATO, zunächst in Bosnien 1995 und dann im Kosovo 1999. Deutschland hatte – nach einem langen und schmerzlichen Lernprozess – seine militärische Sicherheitspolitik von Grund auf neu ausgerichtet und ausgestaltet. Diese beachtlichen Fortschritte wurden anschließend durch den verdrängten und verfehlten Bundeswehreinsatz in Afghanistan zunichte gemacht. Es wäre gut, sich die damaligen Ereignisse genauer anzuschauen und aus ihnen Schlussfolgerungen für die heutige Herausforderung durch den Krieg in der Ukraine zu ziehen.



„Die aktuelle Krise hat bewiesen, dass wir in Europa ohne Amerika nicht auskommen“

Leider wahr. Gewiss: Auch die Europäische Union hat unerwartet stark und deutlich auf die russische Aggression reagiert; bei den Wirtschaftssanktionen gegen Russland und der ökonomischen Unterstützung der Ukraine übernimmt sie die Hauptlast der westlichen Maßnahmen. Aber das Debakel der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine zeigt exemplarisch, dass Europa insgesamt der russischen Militärmacht nur wenig entgegenzusetzen hat – und militärische Machtmittel sind nun einmal unerlässlich, um sich gegen einen Aggressor zu verteidigen und ihn von weiteren Expansionsversuchen abzuschrecken. Dazu braucht es nicht nur Waffen, sondern auch eingespielte Strukturen und robuste Institutionen. Strukturen und Institutionen, die in Europa derzeit nur die NATO zu bieten hat. Die sicherheitspolitischen Institutionen und Instrumente der EU taugen nicht für das, was jetzt nach Europa zurückgekehrt ist: der große Krieg, mit einer Atommacht als Aggressor.

Ohne die tatkräftige Unterstützung der US-Regierung wären nicht nur die Ukraine, sondern auch die östlichen EU-Mitgliedstaaten den russischen Drohungen und Übergriffen ziemlich hilflos ausgeliefert. Dabei ist zu bedenken, dass die amerikanische Regierung leicht hätte anders aussehen können und dass in Amerika in diesem Jahr und in zwei Jahren erneut gewählt wird. Und: Selbst die amtierende Regierung unter dem eingeschworenen Atlantiker und Multilateralisten Joe Biden hat mit dem Rückzug aus Afghanistan und dem Streit um den AUKUS-Vertrag mit Australien und Großbritannien bereits schwerwiegende außenpolitische Pannen zu verantworten. Mit anderen Worten: Die Ukraine und wir Europäer insgesamt hatten in dieser Krise bislang sehr, sehr viel Glück mit unserem Partner Amerika. Darauf können wir uns in Zukunft nicht verlassen; es ist deshalb von überragender Bedeutung, den europäischen Pfeiler in der NATO auf- und auszubauen.



„Niemand hat mehr dazu beigetragen, die NATO zu stärken, als Präsident Putin mit seinem Überfall der Ukraine“

Bislang eine vertretbare These, aber der Lackmustest für diese Geschlossenheit steht noch aus. Die neue Einigkeit und Geschlossenheit waren rhetorisch eindrucksvoll, im Einzelnen aber unterschiedlich stark ausgeprägt. Dabei zeigten sich drei Probleme, die die Geschlossenheit des Westens beeinträchtigten: mangelnde Fähigkeiten, unterschiedliche Risikobereitschaft und innenpolitische Rücksichtnahmen.

Die Umsetzung der gemeinsamen Rhetorik in kraftvolle gemeinsame Maßnahmen funktionierte vor allem bei den militärischen Antworten auf die russische Aggression nur unzulänglich, weil man in vielen europäischen NATO-Staaten die Verteidigungsbemühungen lange vernachlässigt hatte.

Beeinträchtigt wird die Geschlossenheit des Westens auch durch die objektiven Schwierigkeiten der Risikoabwägung im Umgang mit der Atommacht Russland – zwischen voller Unterstützung für die Ukraine und Verteidigung der westlichen Ordnung einerseits und den Eskalationsrisiken der Auseinandersetzung mit Russland andererseits. Diese Abwägungen sind heikel, unterschiedliche Einschätzungen nationaler Entscheidungsträger deshalb durchaus ­naheliegend.

Vor allem aber wird sich die Geschlossenheit des Westens zu bewähren haben, wenn die innenpolitischen Kosten und Opfer deutlich werden, die die Auseinandersetzung mit Russland nicht nur der Ukraine, sondern auch ihren Unterstützern auferlegen wird. Schon jetzt ist erkennbar, dass die Bereitschaft, für die Verteidigung der Ukraine und der westlichen Ordnung Zumutungen zu akzeptieren, innenpolitisch recht unterschiedlich gelagert ist – bis hin zu den Versuchen etwa des Regimes von Viktor Orbán in Ungarn, die Krise schamlos für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.

Nicht nur in Ungarn steht die Politik des Westens unter dem Primat der Innenpolitik; gelingt es den Eliten nicht, diesen Fokus auf die Bedrohungen von außen zu verschieben, dann wird die Geschlossenheit des Westens nicht weit tragen.



„Die europäische Sicherheitsordnung hat Russlands legitime Sicherheitsinteressen unzureichend berücksichtigt“

Das ist nicht nur falsch; es ist auch ein Ausdruck von Denkfaulheit. Denn was sind Russlands Sicherheitsinteressen eigentlich, und was bedeutet „legitim“ in diesem Zusammenhang? Gewiss: Es gibt Sicherheitsinteressen sehr allgemeiner Art, die für jeden Staat gelten: die Sicherheit des Staates, seines Territoriums und seiner Bevölkerung, die Sicherheit seiner wirtschaftlichen Grundlagen und seiner Herrschaftsordnung und schließlich die Fähigkeit, selbstbestimmt über die eigene Zukunft zu entscheiden. All diese Sicherheitsinteressen sind sehr allgemein. Ihr Schutz ist ein wesentliches Anliegen der europäischen Sicherheitsordnung für alle ihre Mitglieder, in vielen Dokumenten verankert und institutionell ausgestaltet.

Sie können auch deshalb als legitim gelten, weil sie von breiter internationaler Zustimmung getragen werden und völkerrechtlich abgesichert sind. Keine dieser legitimen Sicherheitsinteressen war aber im Falle Russlands jemals von außen bedroht, seit Wladimir Putin im Jahr 2000 an die Macht kam, mit einer Ausnahme: Das Herrschaftssystem Putins erschien tatsächlich zeitweilig bedroht.

Diese Gefährdung kam nun allerdings nicht, oder doch nur sehr indirekt, von außen. Sie kam im Wesentlichen von innen, durch eine gesellschaftliche Erhebung nach dem Muster der Farbenrevolutionen in anderen osteuropäischen Staaten wie Georgien und der Ukraine. Sie wurzelte in den bekannten Defiziten des Systems Putin, die auch in russischen Städten zu friedlichen Massenprotesten führten.

Das Regime in Moskau machte für die Proteste natürlich die Destabilisierungsbemühungen des Westens verantwortlich. Tatsächlich aber ging es um die Einstellung wichtiger Teile der russischen Gesellschaft, die es vorzögen, in einem freieren, weniger korrupten und weniger willkürlichen Staat zu leben als im Russland Wladimir Putins. Die Bedrohung der Herrschaftsordnung geht also von der eigenen Bevölkerung aus.

Die Angst des Regimes vor einer russischen Farbenrevolution lässt sich jedoch schwerlich als „legitimes Sicherheitsinteresse Russlands“ bezeichnen. Merke: Sicherheitsinteressen sind stets aus einer spezifischen Perspektive heraus formuliert, und es lohnt sich nachzufragen: Um wessen Sicherheitsinteressen geht es hier eigentlich und wie sehen sie inhaltlich aus?



„Soll die europäische Sicherheitsordnung auch weiterhin in der Lage sein, uns zu schützen, so wird das nur in permanenter Verteidigungsbereitschaft gegenüber Russland und China gelingen können“

Richtig – und dabei sollte Europa, sollte der Westen sich klarmachen, dass der Krieg gegen die westliche Ordnung von Russland wie von China schon längst eröffnet worden ist und subversiv seit Jahren tobt. Wie zu Zeiten des Kalten Krieges braucht es dabei heute und in Zukunft eine doppelte Ausrichtung der Strategie des Westens und Europas.

Zum einen gilt es, die Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit Europas und des Westens insgesamt zu gewährleisten, um sich erfolgreich behaupten zu können und um Verhandlungsmacht zu gewinnen. Zum anderen braucht es aber – auf der Basis angemessener Verhandlungsmacht – Entspannungspolitik, also die Zusammenarbeit mit China und Russland, um gemeinsame Überlebensinteressen zu wahren und mit den enormen Herausforderungen und Bedrohungen umzugehen, die uns alle betreffen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2022, S. 31-36

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Prof. Dr. Hanns W. Maull ist Adjunct Professor am Bologna Center der Johns Hopkins University, Senior Distinguished Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sowie Senior Associate Fellow des Mercator Institute for China Studies (Merics).

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