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01. Juli 2016

Friede und Wohlstand? Oder dreißigjähriger Krieg?

Zwei Szenarien

Was wäre, wenn wir 20 Jahre vorausdächten und von dort einen Blick zurück auf die 
heutigen Entwicklungen werfen würden? Dann könnten wir eine mittelmeerische Nachbarschaftspolitik würdigen, die stabile Staaten und Wohlstand hervorbrachte.
Was wäre, wenn die Bürgerkriege andauerten und sich ausweiteten? Wenn es 
keinen Wechsel der europäischen Politik gäbe, die EU weder konsistent, noch strategisch handelte, keine Ressourcen zur Verfügung stellen wollte und sich lieber abschottete?

Was muss geschehen, um den Staatszerfall in der MENA-Region aufzuhalten, die ethnischen und religiösen Brüche zu heilen, Wohlstand herzustellen und für Sicherheit auf beiden Seiten des Mittelmeers zu sorgen? Vier Bedingungen sind notwendig.

Es müsste erstens eine echte Teilhabe der Bürger in den Staaten der Region an den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in ihren Gesellschaften geben. Auf all diesen Ebenen wäre Chancengleichheit hergestellt und es gäbe eine gerechte Verteilung sowohl der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leistungen wie der Lasten. Es gäbe passive und aktive Auswirkungen einer echten Inklusion: durch die Garantie von Menschen-, Zivil- und Bürgerrechten, einen institutionell festgelegten und auf Gleichheit beruhenden Zugang zu Gesundheitswesen, Bildung, Rechtswesen, Wohnraum, Information und Kommunikation, Mobilität, Sozialschutz, Rechenschaftspflicht der staatlichen Institutionen und Transparenz. Die Bürger würden durch gesellschaftliches Engagement und eine Teilhabe an politischen Prozessen und Entscheidungen aktiv profitieren.

Best Case: Vereint erfolgreich

Zweitens wäre eine zirkuläre Migration wichtig, die dann gegeben wäre, wenn Bürger eines Landes grundsätzlich die Möglichkeit hätten, für einen bestimmten Zeitraum in einem anderen Land zu leben. Grund für eine temporäre Migration wäre nicht nur die Suche nach besseren Arbeitsmöglichkeiten. Auch kulturelles Interesse könnte eine Rolle spielen. Von den jeweiligen Motivationen der Migranten abhängig hätte eine solche größere Mobilität über Grenzen hinweg eine ganze Reihe positiver Folgen: Das Verständnis zwischen verschiedenen Kulturen würde vertieft; es ließe sich mehr Finanz- und Humankapital für das Aufnahmeland generieren und der Transfer von Kenntnissen, Fähigkeiten und Sozialkapital in das Herkunftsland würde erleichtert.

Eine dritte Vorbedingung für die Entwicklung eines solchen Szenarios wäre ein weitgehender Verzicht auf eine Einmischung von außen, vor allem durch Akteure außerhalb der MENA-Region. Internationale Beziehungen fänden auf gleichberechtigter Ebene statt und führten zu intensiver Zusammenarbeit. Regierungen wären daran interessiert, gemeinsame Werte und Interessen herauszuarbeiten, man legte großen Wert auf Respekt füreinander. Die Außenpolitik von Akteuren, die nicht der MENA-Region angehören, zielte darauf, Wachstum innerhalb der Region zu fördern, Demokratie zu stärken und die Interessen der MENA-Partner ernsthaft zu berücksichtigen.

Und nicht zuletzt gehörte zu einem Best-Case-Szenario, viertens, eine gemeinsame EU-Außenpolitik, die ihren Namen verdient, weil sie auf einheitlichen, langfristigen und vorausschauenden Strategien und Mechanismen beruht. Die EU würde schnell aus Krisen und Fehlern lernen, konsequent handeln, wenn Menschenrechte nicht respektiert werden oder den wesentlichen Wertegrundlagen europäischer Außenpolitik zuwiderlaufen. Um langfristige Ziele zu sichern, müsste die EU auch schwierige Entscheidungen treffen, die kurzfristig ihren eigenen Interessen zuwiderliefen. Sie würde in hohem Maße kooperativ und vor allem auf Basis ihrer Soft Power und ihrer Wirtschaftsmacht vorgehen und dabei das weitere geopolitische Umfeld berücksichtigen.

Im Best-Case-Szenario hat die ­MENA-Region die nachhaltigen Entwicklungsziele erreicht; ihre Ökonomien sind auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig. Innerhalb der Region gibt es ein hohes Maß an wirtschaftlicher und politischer Kooperation. Den einzelnen Staatswesen ist es gelungen, politischen Pluralismus und gute Regierungsführung zu verankern, Menschen- und Minderheitenrechte werden respektiert, Bildung, Gesundheit und die Sozialsysteme wurden erheblich verbessert. Die zirkuläre Migration von Fach- und Hilfsarbeitern aus der MENA-Region in die EU zeigt die Vernetzung der Arbeitsmärkte und Gesellschaften nördlich und südlich des Mittelmeers. Diese soziale und wirtschaftliche Vernetzung fördert den Austausch von Ideen, treibt Innovationen und gegenseitiges kulturelles Verständnis voran und stärkt Toleranz und Diversität in den jeweiligen Gesellschaften. Bessere Perspektiven in den MENA-Staaten führen zu größerer Migration von Menschen aus der EU in die Region, zu denen Unternehmer, Start-up-Gründer, Ruheständler, Studierende, Wissenschaftler und Künstler gehören. Dadurch werden weitere ausländische Direktinvestitionen angelockt. EU und MENA werden zu einem gemeinsamen innovativen, sozioökonomischen und kulturellen Raum, was in der Gründung der „Association of MENA and European Countries (AMEC)“ zum Ausdruck kommt.

Vom Mogherini- zum Al-Bathisch-Plan

Am Anfang dieser Entwicklungen stand eine radikale Veränderung der europäischen Politik, die einer Reform und neuen Ansätzen in den europäischen Institutionen geschuldet war. Die EU wurde zum echten außenpolitischen Akteur, entwickelte eine gemeinschaftliche Vision von Politik, stattete sie mit dem erforderlichen diplomatischen Apparat und den notwendigen Mitteln aus und erarbeitete sich einen neuen, umfassenderen Instrumentenkasten seiner Diplomatie. Am wichtigsten aber war eine nach intensiven Diskussionen in der EU beschlossene radikale Überarbeitung einer bis dato paternalistischen, eurozentrischen und vor allem wirtschaftlich egoistischen Politik in der Region. Die Union hatte erkannt, dass sie die Staaten der MENA-Region als gleichberechtigte Partner behandeln, die politischen und wirtschaftlichen Grundbedingungen anerkennen und die Bedürfnisse und Interessen der Länder ernst nehmen musste. In enger Abstimmung beschloss sie auf dieser Grundlage eine kohärente, langfristige politische Strategie. An diesem strategischen Prozess waren auch Experten aus der MENA-Region beteiligt.

Zunächst kam die EU, insbesondere die alten Eliten, nur schwer mit dieser neuen Strategie zurecht. Bald gelangte man jedoch zu der Überzeugung, dass eine differenzierte und geopolitische Ausrichtung in der Region eine gute Entscheidung war. Der EU gelang es nicht nur, sich als „ehrlicher Vermittler“ im syrischen und libyschen Bürgerkrieg zu etablieren. Sie trug auch erheblich dazu bei, Frieden durch effiziente, zielgerichtete multilaterale Verhandlungen mithilfe des europäischen diplomatischen Dienstes zu sichern und durch finanzielle Mittel in Form von Hilfen oder Krediten den Wiederaufbau der Länder zu unterstützen.

In diesem Prozess widmete sich die EU besonders den Bereichen Staatenbildung, Demokratie und Menschenrechte, die sie mit erheblicher finanzieller und wirtschaftlicher Hilfe auf den Weg zu bringen versuchte. Der Mogherini-Plan wurde ins Leben gerufen, der einen privilegierten Zugang zu den europäischen Märkten durch ein präferentielles Handelsabkommen vorsah, sowie verbesserte Reisemöglichkeiten durch Mobilitätspartnerschaften und bedeutende finanzielle Hilfen für die Region – allerdings nur für Länder und Akteure, die eine derartige Kooperation benötigen bzw. wirklich an ihr interessiert waren. So schufen die EU und die MENA-Länder inklusive Israels ein gemeinsames politisches Forum, die „Association of MENA and European Countries (AMEC)“, um systematisch gemeinsame Interessen zu definieren, klare Ziele und Prioritäten zu beschreiben und damit die wechselseitige interregionale Zusammenarbeit in allen Bereichen zu stärken. Nachdem sich die Region wirtschaftlich, sozial und im Bereich Sicherheit stabilisiert hatte, verloren radikale Kräfte wie der so genannte Islamische Staat an ideologischer Wirkung und lösten sich schließlich auf. Die MENA-Region, die einst als „hoffnungslose Region“ galt, wurde immer attraktiver für europäische Unternehmen. Sowohl in der Region selbst als auch in der EU verlor das Thema religiöser Extremismus zusehends an Brisanz, von einer „Rückständigkeit der arabischen Welt“ war kaum mehr die Rede, rechtsextremistische Gruppierungen, die Angst vor dem Islam schürten, verloren an Unterstützung.

Als Fortsetzung des enormen Erfolgs des Mogherini-Plans initiierte das AMEC-Forum den Al-Bathisch-Plan. Die Namensgebung allein (nach dem Leiter des AMEC-Forums, der das Amt seit 2025 bekleidete) signalisierte, dass es der EU in Abkehr ihrer alten Politik um eine gleichgewichtige Partnerschaft mit ihren südlichen Nachbarn ging. Mit dem Al-Bathisch-Plan wurden Visa­erleichterungen eingeführt: Der Erwerb einer Arbeitserlaubnis in Form einer Blue Card und sogar einer EU-Staatsbürgerschaft wurde wesentlich einfacher. Als nächstes Ziel nahm sich Al-Bathisch die Einführung einer doppelten euro-mediterranen Staatsbürgerschaft vor. Unterstützt wurde er dabei von einer außergewöhnlichen Allianz junger Unternehmer beiderseits des Mittelmeers, digitaler Nomaden, Studenten, Künstlern und Rentnern aus Europa, die den Winter gerne im sonnigen Süden verbrachten. Dieser enorm intensivierte Austausch durch temporäre Migration und durch umfassende unternehmerische Tätigkeiten in der EU und der MENA-Region trug ganz wesentlich dazu bei, Vorurteile abzubauen: In der arabischen Welt war die Klage über die „Doppelmoral des Westens“ kaum mehr zu hören, in Europa legte sich die Furcht vor dem Islam. Zeitgeschichtler sprachen von einem profunden Perspektivwechsel nach zwei Jahrhunderten einer Entfremdung der europäischen und arabischen Welt. Es hatte sich ein tiefer Sinn für eine gemeinsame mittelmeerische Nachbarschaft gebildet.

Wie misst man Erfolg?

Es gäbe einige Indikatoren, nach denen sich bemessen ließe, ob und wie erfolgreich sich die südlichen und nördlichen Nachbarn am Mittelmeer wirklich einem AMEC-Szenario nähern. Sichtbar würde ein solcher Erfolg, wenn die MENA-Länder im Human Development Index um einige Ränge nach oben rutschten und wenn sie nachhaltige Entwicklungsziele erreichten. Die Höhe des regionalen BIP und das Ausmaß ausländischer Direktinvestitionen wären ebenso Messwerte. Gute Regierungsführung könnte in den Bewertungen von NGOs wie Transparency International gemessen werden, die die Transparenz von staatlichen Einrichtungen oder des öffentlichen Haushalts und das Ausmaß an Korruption beobachten. In diesen Bereich gehören auch die Ergebnisse des Human Rights Index, der die Zahl willkürlicher Festnahmen oder Fälle von Folter dokumentiert und den Grad der Meinungsfreiheit, den Schutz der Minderheitenrechte und den Bereich Glaubensfreiheit bewertet. Die Intensität der Beziehungen zwischen der EU und den MENA-Staaten ließe sich an der Zahl doppelter Staatsbürgerschaften, gemischter Ehen bzw. Partnerschaften, der Intensität von Schüler- und Studentenaustausch und der Anzahl von gemeinsamen EU-MENA-Unternehmen messen; Indikatoren sind auch das Ausmaß des intraregionalen Handels, der Abbau von Grenzen und Grenzkontrollen oder die Anzahl der erfolgreichen Start-ups in der MENA-Region.

Und der „Rest“ der Welt?

Frieden und wirtschaftlicher Wohlstand auf beiden Seiten des Mittelmeers sind die Pfeiler für den Erfolg einer solchen ganz neu ausgerichteten Politik. Den Staaten der ­MENA-Region gelang es, sich in den Weltmarkt zu integrieren, wettbewerbsfähig zu werden, einen attraktiven Arbeitsmarkt zu bieten und sogar Mitglieder der OECD zu werden. Mit dem Erfolg des europäischen Ansatzes neigten EU-Mitgliedstaaten weniger zu nationalen Alleingängen oder Koalitionsbildungen. Es entstand eine multipolare Ordnung, in der Regionen eine Hauptrolle spielen. Die neue Allianz von MENA-Region und EU rief wohl wachsende Spannungen mit Russland, China und den USA hervor. Russland arbeitet zusammen mit dem Iran, China und weiteren östlichen Nationen an einer Allianz, um dem wachsenden globalen Einfluss des AMEC-Forums etwas entgegensetzen zu können. Währenddessen finden die USA nach einer Phase des Rückzugs wieder zu einem größeren globalen Engagement und fordern eine stärkere transatlantische Kooperation sowie eine Wiederaufnahme der gescheiterten TTIP-Verhandlungen. Immer mehr europäische Investitionen fließen in die ­MENA-Region und machen damit dem Dollar als Weltwährung Konkurrenz.

Dr. Isabel Schäfer leitet das Mediterranean Institute an der Humboldt-Universität Berlin und ist assoziierte Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Entwicklungsinstitut.

Nikolas Scherer ist Doktorand an der Hertie School of Governance.

Die Szenarien wurden bei einer Workshopreihe zur Zukunftsforschung im Dahrendorf Forum entwickelt. Das Dahrendorf Forum ist eine gemeinsame Forschungsinitiative der Hertie School of Governance in Berlin, der London School of Economics and Political Science (LSE) und der Stiftung Mercator. Die englischen Originalfassungen und weitere Szenarien finden sich in der von Monika Sus und Franziska Pfeifer herausgegebenen Publikation: European Union in the World 2025. Scenarios for EU relations with its neighbours and strategic partners. Dahrendorf Analysis, Mai 2016.

Worst Case: Neuer dreißigjähriger Krieg

Eine Region versinkt in gewalttätigen Konflikten entlang ethnischer, konfessioneller und ideologischer Bruchlinien. Befeuert werden die Auseinandersetzungen von konkurrierenden externen Akteuren. Grenzen zwischen und innerhalb von Staaten verwischen zur Bedeutungslosigkeit. Milizen wechseln je nach Interesse die Lager. Millionen verzweifelter Menschen müssen ihre Heimat verlassen, die Zahl der Toten ist verheerend. Erst nach jahrzehntelangen Kämpfen zeichnet sich ein Ende der Bürger-, Stellvertreter- oder Mehrfrontenkriege ab. Das ist die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, der von 1618 bis 1648 auf dem Territorium des Heiligen Römischen Reiches ausgefochten wurde. Diese Vergangenheit dient als Ausgangspunkt für ein Szenario, das einen dreißigjährigen Regionalkrieg im Nahen Osten und Nordafrika skizziert. Ist fünf Jahre nach dem Beginn der Aufstände in der arabischen Welt eine Periode zerstörerischer Kriege, wirtschaftlicher Not und umfassender Völkerwanderungen angebrochen? Wie sähe ein dreißigjähriger Krieg des 21. Jahrhunderts in der MENA-Region aus? Das Szenario lässt sich anhand von fünf Schlüsselfaktoren konstruieren: ideologischen, religiösen und ethnischen Spannungen, Interventionen einander bekämpfender, außenstehender Mächte und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs.

Autokratische Regierungen bleiben auf Konfrontationskurs mit dem vielgestaltigen politischen Islam. Die liberale Demokratie ist nach wie vor ein Minderheitenprojekt. Korruption und schlechte Regierungsführung verstärken wirtschaftliche und soziale Missstände. Gewalttätige dschihadistische Rebellengruppen nutzen die Missstimmung der Bevölkerung aus. Autokraten schützen ihre Macht mit gewaltsamen Mitteln, verlieren aber die Kontrolle über eine Entwicklung, die sie selbst vorangetrieben hatten. Sunnitische und schiitische Gruppen gleichermaßen ziehen Jugendliche aus aller Welt an. Dschihadisten verteidigen die von ihnen dominierten Gebiete mithilfe ausländischer Kämpfer aus ­Afghanistan, Europa, dem Iran, Russland und anderen Teilen der Welt. Gleichzeitig vertiefen sich die ethnischen Konflikte zwischen Arabern, Kurden und anderen regionalen Gruppen.

Die internationale Staatengemeinschaft bleibt unfähig, konzertiert einzugreifen. Weil sich die einzelnen Mitgliedstaaten nicht auf eine gemeinsame Strategie und gemeinsame Ziele einigen können, spielt die EU auch weiterhin keine relevante Rolle in der Region. Einzelne europäische Länder erklären sich gemeinsam mit den USA bereit zu intervenieren. Da es aber an politischem Willen fehlt und Ressourcen nur in sehr begrenztem Umfang und unregelmäßigen Abständen eingesetzt werden, bleibt dieses Engagement wirkungslos. Die Türkei und Russland verfolgen ihre eigenen strategischen Interessen in der Region. In ihrer konfessionellen Rivalität und dem Streben nach regionaler Vorherrschaft greifen Saudi-Arabien und der Iran in verschiedene Konfliktherde ein und heizen sie weiter an. Die Bevölkerung der gesamten Region leidet unter dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Kämpfe um Ressourcen verstärken bereits existierende Konflikte. Eine Kriegswirtschaft entsteht, welche sich selbst nährt. Die Treiber – organisierte Kriminalität, Menschenhändler, Terrorgruppen und autoritäre Rumpfstaaten – haben kein Interesse an der Beendigung einer Konflikte.

Auslöser Arabischer Frühling, Ursprungsfunke Syrien

Der syrische Bürgerkrieg hat sich in einen regionalen Konflikt mit vielen verschiedenen staatlichen und nichtstaatlichen Kriegsparteien ausgeweitet. „Nebenwirkungen“ dieses Regionalkonflikts sind Terroranschläge des so genannten Islamischen Staates in Europa und den USA. Zu den Konfliktparteien gehören das Assad-Regime, verschiedene syrische Rebellengruppen (von der Freien Syrischen Armee über die Nusra-Front bis hin zum IS), kurdische Milizen wie die PKK, die Volksverteidigungsfront oder die Peschmerga, die schiitische Hisbollah, Truppen aus dem Irak, dem Iran, der Türkei, Russland und Saudi-Arabien, junge Dschihadisten aus aller Welt, die Huthi-Rebellen im Jemen, die Überbleibsel der jemenitischen Streitkräfte, unterstützende Truppen aus sunnitischen Ländern wie Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, westliche Luftwaffeneinheiten und eine begrenzte Anzahl an Bodentruppen aus den USA, Frankreich und Großbritannien. Und das ist nicht einmal eine vollständige Liste.

Lokale Bündnisse und Seilschaften sind nie von Dauer, auch wenn die großen geopolitischen Trennlinien erhalten bleiben. Doch selbst diese Linien, etwa zwischen dem Iran und Saudi-Arabien, der sunnitischen und schiitischen Glaubensrichtung oder der Unterstützung für beziehungsweise dem Kampf gegen den politischen Islam, sind nicht eindeutig. Einzelne Gruppen verteidigen „ihre“ Variante des politischen Islams vor allem gegen Gruppierungen, die angeblich einen „falschen“ Islam predigen. Die Mechanismen eines „ewigen Krieges“ führen dazu, dass autoritäre Regime überdauern. Das Kriegsgebiet ist unübersichtlich, die Kriegsschauplätze ändern sich ständig. Militärische Auseinandersetzungen werden deshalb symmetrisch, zwischen ähnlich aus­gerüsteten Gruppierungen, und asymmetrisch, zwischen Gruppierungen unterschiedlicher Stärken, ausgetragen. Das Szenario eines aus dem syrischen Bürgerkrieg entstandenen dreißigjährigen Krieges in der gesamten Region trägt seinen Ursprung in den unmittelbaren Jahren nach den Aufständen in der arabischen Welt. Die Aufbruchstimmung ist längst verflogen, die ursprünglichen Proteste in Syrien, im Jemen und in Libyen sind in Kriege eskaliert, in Ägypten hat eine Militärdiktatur wieder das Ruder an sich gerissen, die aber keine Mittel findet, der Ausbreitung terroristischer Gruppierungen auf der ­Sinai-Halbinsel Einhalt zu gebieten. Niemand in der Region scheint in der Lage, effektiv regieren oder allein mit militärischen Mitteln seine Macht stabilisieren zu können. Weder die EU noch einzelne europäische Staaten tragen zur regionalen Stabilität bei.

Konflikte in libanesischen Flüchtlingslagern springen über auf das ganze Land. Nachdem schiitische Viertel wiederholt zum Ziel von Attentaten wurden, erklärt sich die schiitische Hisbollah-Miliz ohne Einverständnis sunnitischer und christlicher Gruppierungen zum Sicherheitsgaranten für das ganze Land. Das sorgfältig austarierte Gleichgewicht zwischen religiösen Gruppierungen gerät aus den Fugen, erneut bricht ein Bürgerkrieg aus. Auch aus dem Libanon flüchten nun Hunderttausende in Richtung Europa. Die EU-Mitgliedstaaten reagieren mit einer De-facto-Abschaffung des Schengener Abkommens. Angesichts der Hilflosigkeit der europäischen Regierungen verbuchen rechtspopulistische Parteien, die Ängste vor muslimischen Fremden schüren, Wahlerfolge in ganz Europa. Der Druck des Rechtspopulismus blockiert die Entwicklung eines einheitlichen europäischen Asylverfahrens, was eine gerechte Leistungsverteilung unter allen Mitgliedstaaten verhindert.

Im Jemen brechen die verbleibenden staatlichen Strukturen komplett zusammen. Die von Saudi-Arabien angeführte arabische Militärkoalition setzt immer mehr Bodentruppen ein, um die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Deutschland und Frankreich lassen sich auf einen Bieterwettstreit ein, um möglichst viele Rüstungsgüter an Saudi-Arabien und dessen Verbündete zu verkaufen. Dieser Wettstreit wirkt sich auch auf die Koordinierung deutsch-französischer Politik innerhalb der EU aus. Der niedrige Ölpreis macht das arabische Engagement im Jemen schnell zu einer überaus teuren Angelegenheit. Die stetig wachsende Anzahl getöteter und verwundeter Soldaten ist in den Heimatländern politisch kaum mehr vermittelbar. Dennoch entscheiden sich die arabischen Golf-Staaten, den Konflikt im Jemen weiter mit Geld und Waffen anzufachen; der wirtschaftlich erstarkte Iran hält dagegen.

Kurdistan erklärt nach einem Referendum seine Unabhängigkeit. Da sich die verschiedenen kurdischen Gruppierungen aber nicht auf eine gemeinsame Regierung einigen können, kommt es zur Konfrontation zwischen irakischen und syrischen Kurden. Die Türkei weigert sich, den unabhängigen kurdischen Staat anzuerkennen und geht im Verbund mit der irakischen Armee gegen das neue Land vor, in dem ebenfalls ein Bürgerkrieg auszubrechen droht.

Nach verheerenden Selbstmordattentaten von IS-Anhängern in Moskau und Teheran verstärken Russland und der Iran ihre Angriffe auf den IS in der gesamten MENA-Region. Der Druck einer schiitisch-christlichen Koalition, die kurz davor steht, in Syrien zu gewinnen, bewirkt eine temporäre Allianz verschiedener dschihadistischer Gruppen.

Deutschland bemüht nach einer Anschlagsserie in Berlin die europäische Beistandsklausel des Artikels 42.7 des Vertrags von Lissabon. Die Staats- und Regierungschefs einigen sich bei Konsultationen auf ein System zum effektiveren Austausch von Informationen der Sicherheitsbehörden und stärken das Europol-Informationssystem (EIS). Eine groß angelegte europäische Kampagne soll die Radikalisierung von Menschen in Bildungseinrichtungen, Gefängnissen und im Internet eindämmen.

Nach dem Verlust Sirtes ist Libyen für den IS ein weniger attraktives Kampf- bzw. Rückzugsgebiet. Aber eine Koalition der Willigen, die zum Aufbau nationaler Sicherheits- und Staatsstrukturen im zerstörten Libyen hätte beitragen können, kommt nicht zustande. Mit der Erschöpfung der Zentralbankreserven und immer weniger Finanzmitteln aus Ölexporten zerbricht das Land vollständig in miteinander konkurrierende Stadtstaaten. Mangels Alternativen sind dschihadistische Trainingscamps ein genauso wichtiger Wirtschaftsfaktor wie der Schmuggel von Migranten Richtung Europa. Die Sahel-Zone mit ihrem ­Narko-Dschihadismus hat jetzt einen Zugang zum Mittelmeer; die dort agierenden Gruppen bauen ihre Strukturen immer stärker in den südlichen Regionen Algeriens und Ägyptens aus.

Die EU und einzelne europäische Staaten versuchen in Zusammenarbeit mit lokalen, autoritären Regimen Flüchtlingsströme und Terrorismus zu kontrollieren. Die Militarisierung der EU-Grenzen trägt dazu bei, den Schmuggel von Flüchtlingen immer profitabler zu machen; dabei bleiben die korrupten, ineffizienten Regime in der größeren Region Nordafrika eine der wesentlichen Treiber für Flucht und Migration. An einer Strategie zur Bekämpfung der Fluchtursachen und gezielter Hilfe für Transitländer fehlt es weiterhin. Systematische Wirtschaftshilfen oder Kooperationsabkommen mit regionalen Partnern kommen nicht zustande. Die EU-Staaten versuchen ihre jeweils eigene Außenpolitik durchzusetzen, anstatt sich auf eine europäisch austarierte Nachbarschaftspolitik zu einigen.

Mit der Rückkehr dschihadistischer Kämpfer in ihre Herkunftsländer wächst auch die Anzahl der Terrorattentate im arabischen Raum, in Europa und in den USA. Vor allem die hiervon betroffenen arabischen Golf-Staaten reagieren darauf mit gezielten Luftangriffen, denen sich auch westliche Staaten anschließen, und suchen die Unterstützung dschihadistischer, aber nicht takfirischer, sunnitischer Rebellengruppen. Saudi-Arabien und vor allem Jordanien kommen immer stärker unter Druck von IS-Sympathisanten.

Der uferlose Konflikt

Dieses Szenario basiert auf einer Fortschreibung bestehender Trends, zu denen langjährige gewaltsame Konflikte und der Zerfall ineffizienter Staatsstrukturen gehören. Verhandlungen und Friedensgespräche tragen nicht zu einer Konfliktlösung bei, weil die staatlichen Strukturen in der Region kaum noch greifen. Eine etablierte Kriegswirtschaft und subnationale politische Interessen verhindern konstruktive Einigungen.

Für die EU ergäben sich verschiedene Folgen aus diesem Szenario: Der Versuch, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu etablieren, scheitert. Allein die Entscheidungsfindung im Bereich der Sicherung der EU-Außengrenzen wird gestärkt, auch weil eine Europäisierung der öffentlichen Debatte paradoxerweise von nationalistischen Parteien und Bewegungen angetrieben wird. Zudem versuchen die EU-Mitgliedstaaten, sich unabhängig von der Energieversorgung aus der MENA-Region zu machen.

Die spürbaren Auswirkungen eines neuen dreißigjährigen Krieges wären die anhaltenden Flüchtlingsbewegungen nach Europa sowie Terroranschläge, die IS-Sympathisanten zugerechnet werden. Mangels tragfähiger sozialer Netze und weil Integrationsbemühungen gescheitert sind, fühlen sich immer mehr Menschen desillusioniert und ausgeschlossen. Sie suchen ihr Glück in staatsähnlichen Terrorkalifaten in Europas Nachbarschaft.

In Reaktion darauf werden die Debatten innerhalb Europas noch polarisierter, in allen europäischen Ländern gewinnen rechtsextreme Gruppierungen an Zulauf. Der Flüchtlingszuwachs verringert zwar den demografischen Druck auf die alternden europäischen Volkswirtschaften. Aber es ist der Schulterschluss der europäischen Rechten im Kampf gegen Immigration, der ein neues europäisches Identitätsgefühl hervorbringt, das sich aus der Selbstdefinition gegen das „Fremde“, vor allem gegen die arabische Welt und Muslime speist. In den Staaten Europas sind populistische Parteien keine Randerscheinung, sondern stehen vielerorts in Regierungsverantwortung.

Mit sinkendem Wirtschaftswachstum und steigender Angst vor „dem Anderen“ gerät die offene europäische Gesellschaft unter Druck. Sozialleistungen müssen zurückgefahren werden, es kommt immer häufiger zu ethnischen und sozialen Spannungen. Die Wiedereinführung innereuropäischer Grenzkontrollen beendet faktisch das Schengen-Regime – mit enorm negativen Auswirkungen auf den europäischen Binnenmarkt. Auf das Extremszenario eines dreißigjährigen Krieges in der MENA-Region reagiert die EU mit Abschottungsmaßnahmen. Die Mitgliedstaaten bauen die gemeinsamen Grenzsicherungskontrollen weiter aus, erarbeiten eine gemeinsame energiepolitische Strategie, um sich unabhängig vom Golf-Erdöl zu machen. Lediglich vereinzelte diplomatische und militärische Ad-hoc-Koalitionen greifen aktiv in die Konflikte vor Ort ein. Eine intensivere innenpolitische Zusammenarbeit etwa in der Asylpolitik scheitert an unterschiedlichen Interessenlagen. Die Gemeinsame ­Außen- und Sicherheitspolitik ist schon vorher zum Papiertiger geworden.

Wiebke Ewering ist Communications Associate des Dahrendorf Forums an der Hertie School of Governance und Redakteurin des DGAP Pressedienst MENA.

Benjamin Preisler arbeitet als politischer Analyst zwischen Berlin, Brüssel und Tunis.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2016, S. 12-21

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