Die neue russische Herausforderung
Das Verhalten Russlands in der gegenwärtigen Krise ist eine zweifache Herausforderung all dessen, worauf westliche Sicherheitspolitik (insbesondere die der Bundesrepublik Deutschland) in den vergangenen Jahrzehnten hingearbeitet hat: erstens die Herstellung einer europäischen Sicherheitsordnung, die den Gewaltverzicht institutionalisiert, die Rolle militärischer Gewalt in den zwischenstaatlichen Beziehungen marginalisiert (oder eliminiert) und in der die Zusammenarbeit zwischen Streitkräften unterschiedlicher Länder bei der Bewältigung gemeinsamer Probleme die Regel wird; und zweitens die Wahrung der territorialen Integrität und Sicherheit ihrer Mitgliedstaaten. Mittlerweile sind beide Ziele der deutschen Politik aufgrund der russischen Politik in Gefahr und es drängt sich der Eindruck auf, dass die Bundesregierung sich nicht nur schwer tut, die volle Dramatik der Situation zu begreifen, sondern auch Schritte vornimmt, die die Lage noch verschlimmern.
Was die europäische Sicherheitsordnung betrifft, so hat Russland alle entsprechenden Dokumente unterzeichnet; aber es gab stets eine deutliche Skepsis. Moskau wollte immer seine herausragende Bedeutung als Großmacht herausgestellt sehen, die sich durch die Gegnerschaft zu den USA definierte. Russland wollte gleicher sein als alle anderen Staaten Europas und seine Beziehungen zum früheren Imperialbestand der Sowjetunion unter besondere Bedingungen stellen. Dieser Trend ist unter Wladimir Putin dominierend geworden und hat zu einer Doktrin der eingeschränkten Souveränität von Staaten geführt, die einstmals Teil der Sowjetunion waren. Die russische Annexion der Krim und die durch russische Spezialtruppen und Freischärler sowie durch lokale Hasardeure angezettelte gewaltsame Separatistenbewegung im Donbass und in anderen Teilen der Ukraine sowie die begleitende „Diplomatie“ und Desinformationsstrategie aus Moskau markieren die Absage Russlands an alle bislang getroffenen Vereinbarungen zur europäischen Sicherheitsordnung.
Spätestens seit dem Frühjahr 2014 verletzt Russland gegenüber der Ukraine nicht nur massiv das Gewaltverbot der Vereinten Nationen, sondern auch die Kernbestimmungen der Pariser Schlussakte der KSZE vom November 1990, des Budapester Protokolls von 1994 und der NATO-Russland-Akte von 1997. Russland hat den KSE-Vertrag von 1990 aufgekündigt und – im Gegensatz zu den europäischen Staaten – seine Streitkräfte so aufgerüstet, dass es wieder über Invasionsfähigkeiten verfügt (wenngleich deutlich begrenzter als noch zu Zeiten des Ost-West-Konflikts). Die derzeitigen Rüstungsprogramme im Bereich Luftwaffe, Landstreitkräfte und Marine sowie bei den Nuklearwaffen lassen befürchten, dass sich dieser Trend weiter fortsetzt.
Die russische Regierung verschließt sich zudem einem seriösen politischen Dialog mit dem Westen, indem sie ihre Beteiligung an der militärischen Aggression gegen die Ukraine abstreitet, obwohl diese offenkundig ist und immer massiver wird. Dabei werden westliche Regierungen (insbesondere die deutsche) mit Lügen, Tricks und Täuschungen in einem Maße vorgeführt, wie dies unter zivilisierten Staaten eigentlich nicht mehr für denkbar gehalten wurde.
Die Führungsmächte der westlichen Allianz – und das sind in erster Linie die USA, Deutschland, Großbritannien und Frankreich – haben bislang mit Zurückhaltung, Dialogangeboten und vertrauensbildenden Maßnahmen reagiert. Hierzu gehören die Vermittlungsinitiativen des deutschen Außenministers im Ukraine-Konflikt, Gesprächskontakte der Bundeskanzlerin zum russischen Präsidenten sowie Zusicherungen des amerikanischen Präsidenten und anderer westlicher Politiker, dass sie eine militärische Lösung des Ukraine-Konflikts nicht anstreben. So zu handeln war und ist ein Gebot politischer Vernunft, denn bei jeder Krise gilt es primär politische und diplomatische Mittel anzusetzen, um Misstrauen und Missverständnisse abzubauen und nach einer Basis für Gemeinsamkeiten zu suchen. Auch die Sanktionsdiplomatie gehört hierzu.
Das Beharren auf einer „rein“ diplomatischen Lösung kann aber zum strategischen Fehler werden, wenn daraus eine Beschwichtigungspolitik wird. Und von einer Beschwichtigungspolitik sollte man sprechen, wenn die Angst vor „dem Krieg“ die Politik dazu veranlasst, Dinge zu akzeptieren, die die Kriegsgefahr nicht beseitigen, sondern größer werden lassen. Die Erfahrungen mit der Appeasement-Politik Großbritanniens und Frankreichs in den späten dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts haben gezeigt, wohin das im Extremfall führen kann.
Im Fall der Ukraine-Krise kann man davon ausgehen, dass eine Verständigungsdiplomatie (die ausdrücklich auf militärische Mittel verzichtet) so lange angemessen war, wie Russland nicht direkt mit Truppen interveniert, etwa mit mechanisierten Verbänden, die den Zweck haben, dauerhaft Territorium der Ukraine in Besitz zu nehmen. Seit der letzten Augustwoche 2014 ist das nicht mehr der Fall – auch wenn Russland das vehement bestreitet. Eine Verständigungsdiplomatie ist auch nur so lange zu befürworten, wie ausgeschlossen werden kann, dass Russland nicht versucht, an anderer Stelle durch militärische Maßnahmen seine Position zu verbessern. Leider ist dies seit Monaten mit Blick auf das Baltikum zu beobachten. Tatsächlich verfolgt Moskau schon seit mehr als einem Jahr eine gefährliche Drohpolitik gegenüber den Mitgliedstaaten der EU und der NATO im Ostseeraum.
Die Defizite des Gipfels
Der NATO-Gipfel in Wales hätte auf diese Lage reagieren müssen. Das ist nicht geschehen. Zwar verurteilen die Erklärung der NATO-Ukraine-Kommission sowie das Abschlusskommuniqué die russische Intervention aufs Schärfste, aber die Dokumente bleiben wenig substanziell, was die Konsequenzen betrifft. Militärische Hilfe für die Ukraine wird nicht thematisiert. Der amerikanische Präsident Barack Obama wiederholte stattdessen die Position seiner Regierung, wonach die Ukraine kein Mitgliedsland der NATO sei und daher keinen Anspruch auf militärische Unterstützung habe.
Wenn man bedenkt, dass die NATO in den neunziger Jahren zur Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung militärische Gewalt angewandt hat, um die Aggressionen Serbiens gegen Bosnien-Herzegowina und Kroatien sowie später auch gegen die Kosovo-Albaner zu beenden, dann wird erkennbar, welche Abfuhr Obama der Ukraine erteilt hat. Zur gleichen Zeit flogen amerikanische Kampfflugzeuge im Irak – auch kein NATO-Mitglied – Einsätze gegen den Islamischen Staat. Wenn sich die USA entschlossen hätten, vergleichbare Einsätze gegen die in überschaubarer Zahl auf ukrainischem Territorium operierenden (offiziell nichtrussischen) gepanzerten Verbände der „Separatisten“ vorzunehmen, hätten sich die Anfang September abzeichnende Niederlage der ukrainischen Kräfte in der Donbass-Region und der Vormarsch auf Mariupol vermeiden lassen. Die USA besitzen diese Fähigkeiten, sie hätten sie wahrscheinlich nicht einmal einsetzen brauchen, schon die Drohung hätte gereicht, um Putin zum Einlenken zu bewegen.
Stattdessen haben die NATO-Regierungen (allen voran Amerikaner und Deutsche) den dort anwesenden ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko mehr oder weniger gezwungen, einen Waffenstillstand mit den Separatisten anzustreben, der den Verlust des Donbass-Gebiets praktisch festschreibt. Seiner Bitte um Mitgliedschaft in der NATO wurde ebenso wenig entsprochen wie der Bitte um militärische Unterstützung oder um Waffen. So deutlich wird das in der politischen Sprache nicht gesagt, aber Wolfgang Ischinger, der ein feines Gespür für das hat, was in der Bundesregierung und bei der NATO gedacht wird, hat die Dinge in einem Interview für das Magazin Der Stern vom 4. September 2014 auf den Punkt gebracht. Die NATO, so Ischinger, „wird keinen Krieg um die Ukraine führen“. Daher müsse die Regierung in Kiew akzeptieren, „dass sie ihre Ziele in der Ostukraine militärisch nicht durchsetzen kann. Denn Russland wird eine militärische Niederlage im Donbass nicht hinnehmen, und Putin sitzt am längeren Hebel.“
Das bedeutet im Klartext: Poroschenko wurde geraten, den Status quo zu akzeptieren, alles andere würde die Dinge nur noch verschlimmern. So sieht es aus, wenn die westliche Welt nicht mehr bereit ist, für den Erhalt einer von ihren Regierungen für zentral erachteten internationalen Ordnung einzustehen, die auf Gewaltverzicht und der territorialen Integrität von Staaten beruht. Im Abschlusskommuniqué des NATO-Gipfels heißt es zwar: “the Alliance continues its full support for Ukraine’s sovereignty, independence and territorial integrity within its internationally recognised borders”, aber das sind nur Worte, denen keine Taten folgen.
Vage Hoffnungen auf Verhandlungsprozess
Der Waffenstillstand vom 5. September 2014 soll nach Vorstellung der Bundesregierung dazu führen, dass ein politischer Verhandlungsprozess entsteht. In dessen Verlauf soll eine Regelung für den Osten der Ukraine gefunden werden, bei der durch Föderalisierung die territoriale und politische Integrität der Ukraine gewahrt bleiben. Durch die Verschärfung der ökonomischen Sanktionen soll Russland dazu angehalten werden, diesen Prozess mitzutragen. Die Chance auf einen Erfolg dieser Strategie ist minimal. Viel wahrscheinlicher ist, dass der Waffenstillstand entweder durch die von Putin angetriebenen Separatisten in ihrem Streben nach Schaffung eines „Neurusslands“ Stück für Stück gebrochen wird, oder es entsteht im Donbass eine weitere von Russland ausgehaltene Gangster-Republik nach dem Vorbild von Transnistrien, Abchasien oder Südossetien. Beides wird die Ukraine weiter destabilisieren. Es kann auch sein, dass Poroschenko diesen Waffenstillstand politisch nicht überlebt, und dass radikalere Kräfte in der Ukraine zum Zuge kommen. Frieden wird dieser Waffenstillstand voraussichtlich nicht bringen.
Was der Ukraine heute widerfährt, weist manche Ähnlichkeit mit dem Münchner Abkommen vom 29. September 1938 auf – aber es gibt auch wesentliche Unterschiede zwischen heute und damals. Offenkundig ist: So wie das Verhalten der Westmächte im Jahr 1938 Hitler zu weiteren militärischen Abenteuern ermutigt hat, so tragen die westlichen Staaten (allen voran die USA und Deutschland) heute durch ihre zurückhaltenden Reaktionen auf die Aggression Russlands dazu bei, dass die Risikobereitschaft Putins steigt. Die Gefahr eines großen Krieges besteht im Vergleich zu 1938/39 nicht, da die russischen Streitkräfte dafür zu klein sind. Aber die Gefahr ist groß, dass Russland nicht nur in der Ukraine weiter militärisch interveniert, sondern dass es auch die militärische Konfrontation im Ostseeraum sucht, wo die NATO militärisch gesehen ihre größte Schwachstelle hat. Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen können derzeit nicht verteidigt werden, weil keine substanziellen Streitkräfte verbündeter Staaten auf ihrem Boden stehen.
Die entsprechenden Anzeichen für Kriegsvorbereitungen auf russischer Seite sind vorhanden: Vor einem Jahr erprobten die russischen Streitkräfte im Rahmen eines umfassenden Manövers die Besetzung Estlands, Lettlands und Litauens durch eine mehr als 50.000 Mann starke Invasionstruppe. Seit Herbst 2013 nehmen provokante Verletzungen des Luftraums in der Ostseeregion durch russische Flugzeuge zu (auch gegen Schweden und Finnland), russische Kriegsschiffe testen seit Monaten die Fähigkeiten des Küstenschutzes in den drei baltischen Staaten und in Estland wurde ein hoher Regierungsbeamter in der Grenzregion durch ein russisches Sondereinsatzkommando entführt. Auf den Werften in Kaliningrad und St. Petersburg werden zurzeit 40 Kampfschiffe, U-Boote und Versorgungsschiffe der russischen Marine gebaut. Der Ostseeraum, bislang ein Beispiel für friedliche regionale Kooperation, ist dabei, zu einem Kriegsschauplatz zu werden.
Je mehr EU und USA Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängen – die erst mittel- und langfristig Wirkungen zeigen werden – und je mehr Russland dagegen wenig ausrichten kann, umso größer wird das Risiko, dass Russland weitere militärische Provokationen im Ostseeraum unternimmt oder sogar eine Invasion gegen die baltischen Staaten einleitet. Letzteres wäre konsequent im Zuge der revisionistischen Politik Putins, der den Zusammenbruch der Sowjetunion als Jahrhundertkatastrophe bezeichnet hat. Ein solcher Krieg könnte aus russischer Sicht aber auch den Zweck verfolgen, das westliche Bündnis ins Mark zu treffen. Nach einer erfolgreichen Besetzung der drei baltischen Staaten hätte die NATO keine Möglichkeit der Rückeroberung. Das Bündnis wäre in seiner Glaubwürdigkeit so tief erschüttert, dass ein Zerfall nicht mehr ausgeschlossen werden könnte. Das aus russischer Sicht unwürdige Ende des Kalten Krieges würde somit umgeschrieben.
Die Gefahr eines Krieges im Ostseeraum ist in den vergangenen Monaten wiederholt thematisiert worden, insbesondere von den Regierungen in Vilnius, Riga und Tallinn. Das, was die NATO bislang unternommen hat, um dieser Lage abzuhelfen, ist minimal und angesichts der realen Bedrohung unverantwortlich. Eine der wesentlichen Ursachen dafür ist die Politik der Bundesregierung, die an der NATO-Russland-Akte festhält, in der sich die NATO 1997 politisch verpflichtet hatte, keine substanziellen Truppen in den neuen Mitgliedstaaten dauerhaft zu stationieren. Damit soll die Tür für Russland offen gehalten werden, sollte sich die Kreml-Führung eines Besseren besinnen. Aufgrund der Tatsache, dass Russland den Kernbestand der Akte – Gewaltverzicht, Verpflichtung auf die Wahrung der territorialen Integrität und der Unverletzlichkeit der Grenzen – verletzt hat, erscheint das Festhalten an ihr befremdend, ja realitätsfern. Angesichts der immer aggressiveren militärischen Provokationen Russlands im Baltikum wirkt diese Politik nicht friedenswahrend und deeskalierend, sondern sie gibt Moskau Anreize zur militärischen Eskalation und ist somit friedensgefährdend.
Das deutsche Insistieren auf die Einhaltung der Akte – man hätte sie auch erst einmal suspendieren können – ist zu einer enormen Belastung des Zusammenhalts der Allianz geworden. Auch auf dem Gipfel konnte die Bundeskanzlerin nicht von dieser fragwürdigen Position abgebracht werden. Somit bleiben die Ergebnisse des Gipfels bescheiden, was die Sicherheit der baltischen Staaten betrifft; sie setzen aber zumindest Signale in die richtige Richtung. So soll die NATO Response Force (NRF) durch ein zusätzliches Element, die Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), aufgewertet werden. Das bedeutet konkret, dass die NRF, die bislang weitgehend nur über maritime und luftgestützte Komponenten verfügte, stärkere Heereselemente erhält und dass etwa 3000 bis 4000 zusätzliche Kräfte dafür aufgewandt werden sollen, diese auch rasch an Plätze wie die baltischen Staaten zu bringen. Dabei sollen auch Gerätschaften und Infrastruktur in den baltischen Staaten vorab gelagert werden können. Umgesetzt werden soll die Planung bis Weihnachten 2014. Wer die Langsamkeit der NATO kennt, der weiß, dass das eine unrealistische Vorgabe ist.
Daneben gibt es noch weitere Signale, die allerdings erst einmal entwickelt werden müssen. Großbritannien wird sich um die Erstellung einer Joint Expeditionary Force (JEF) kümmern, die in der Lage sein soll, das volle Spektrum von Operationen, einschließlich „high intensity“, gemeinsam durchzuführen. Außerdem haben die Mitgliedstaaten noch einmal beteuert, dass das Ziel der Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent des Bruttosozialprodukts bestehen bleibt. Keiner geht davon aus, dass sich die Bundesregierung ernsthaft an diese Vorgabe hält.
Fehler deutscher Politik
Zusammenfassend muss man feststellen, dass dieser Gipfel bestenfalls Wege aufgezeigt hat, wie die führenden Staaten der Allianz mit der neuen Bedrohung aus Russland fertig werden. Die Bundesregierung bleibt eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einer effektiven Anpassung der NATO an die neuen Gegebenheiten. Die deutsche Außenpolitik hat in den vergangenen Monaten zwei strategische Fehler gemacht, die der kritischen Reflexion bedürfen:
· Noch immer unterschätzt die Bundesregierung den fundamentalen Wandel der russischen Außen- und Sicherheitspolitik. Man gewinnt den Eindruck, dass Bundeskanzlerin und Außenminister nicht begreifen wollen, dass Russland die angebotene Partnerschaft ausschlägt. Russland hat sich unter Putin zu einer grundlegenden Veränderung seiner Politik gegenüber dem Westen entschlossen. Diese Politik ist auf russischer Seite durch das Konzept einer prinzipiellen Gegnerschaft zwischen Russland und dem Westen und auf einer geradezu panischen Furcht vor so genannten „farbigen Revolutionen“ begründet, die angeblich alle nur das Werk westlicher Geheimdienste seien. Gerade Letzteres lässt erkennen, dass diese neue Gegnerschaft vor allem in der innenpolitischen Furcht vor demokratischem Machtwechsel beruht. Aber dahinter werden auch klassische Muster russischer Großmachtpolitik und Despotie erkennbar. Wenn man sich Putins Kritik an den „farbigen Revolutionen“ anschaut, dann wird man schlagartig an Zar Alexanders Begründungen zur Schaffung der „Heiligen Allianz“ vor 200 Jahren erinnert.
· Die Entwicklungen der vergangenen Monate haben deutlich werden lassen: Wenn man einen internationalen Konflikt entmilitarisieren, also eine militärische Dynamik vermeiden will, ist der direkte Weg meistens der falsche. Die derzeit am häufigsten zu vernehmende Maxime, die man in der Bundesregierung und im Bundestag hören kann, lautet: Mit militärischen Mitteln kann man keine Probleme lösen. Diese Binsenweisheit klingt verführerisch logisch, ist es aber nicht. Militärische Herausforderungen lassen sich nicht immer nur mit Diplomatie und gutem Willen lösen. Wenn man die Entschlossenheit zu militärischen Maßnahmen eines gegnerischen Akteurs unterschätzt, nutzt auch der beste Wille nichts. Im Gegenteil, man schafft dadurch Situationen, in denen durch Beschwichtigungspolitik der Einsatz militärischer Gewaltmittel wahrscheinlicher wird. Das Festhalten der Bundesregierung an der NATO-Russland-Akte und das dadurch bewirkte Ausbleiben der notwendigen Verteidigungsvorbereitungen im Baltikum sollen dem Ziel dienen, Russland von militärischer Eskalation abzuhalten. Doch diese Politik hat bislang nur das Gegenteil bewirkt: Sie hat Putin nicht von einer militärischen Eskalation in der Ukraine abgehalten. Und sie hat es ermöglicht, dass im Baltikum eine offene Flanke der NATO verstetigt wurde, die Moskau einen Anlass gibt, in seinem Kampf gegen Sanktionen mit militärischen Schritten zu drohen – oder die gar zu einer Invasion führen könnte.
Es wird Zeit, dass die Bundesregierung eine Außenpolitik gegenüber Russland verfolgt, die die Fehler einer Beschwichtigungspolitik vermeidet. Die Tür zur Verständigung kann man auch anders offen halten. Dazu bedarf es nicht des trotzigen Festhaltens an der NATO-Russland-Akte.