01. Nov. 2014

Unsicheres Update

Kann der Westen gegenüber Russland auf Eindämmungspolitik zurückgreifen?

Seit der Krim-Annexion ist gegenüber Russland eine härtere Linie gefragt, zugleich will der Westen keinen Krieg: Das Dilemma erinnert an die späten vierziger Jahre, als US-Diplomaten die Politik des „containment“ erfanden. Ob sie für die Gegenwart taugt, ist fraglich; womöglich zerstört sie, was sie retten soll. Eine Wahl hat der Westen aber nicht.

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Seit der russischen Militärinterven­tion in der Ukraine wird in den Debatten über den Umgang mit Putins Russland ein Konzept aus dem Kalten Krieg wiederbelebt: die Eindämmungspolitik („containment“). So twitterte der amerikanische Russland-Experte Strobe Talbott kurz nach der Krim-Annexion: „Containment is back“. Und im April berichtete die New York Times, die Regierung Obama arbeite an einer neuen Russland-Politik, die „eine modernisierte Form der Eindämmungspolitik des Kalten Krieges“ sei.1 Politiker in ganz Europa – und nicht nur in Polen und im Baltikum – greifen wieder zu George F. Kennans „Langem Telegramm“ und sprechen davon, man müsse Russland eindämmen.

Klar ist, dass der Westen seit der Annexion der Krim eine sehr viel härtere politische Linie gegenüber Russland braucht. Gleichzeitig möchte aber niemand einen Krieg mit Russland. Daraus ergibt sich das gleiche Dilemma, vor dem amerikanische Politiker in den späten vierziger Jahren standen und das sie auf die Idee der Eindämmungspolitik brachte. Aber was „Eindämmung“ bedeutet, ist heute noch unklarer als es während des Kalten Krieges schon war. Der Begriff wird oft als Antithese zur Annäherung mit Russland verwendet. Aber ergibt er in Zeiten gegenseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeit überhaupt noch einen Sinn? Falls ja, was bedeutet er? Wichtiger noch: Kann Eindämmungspolitik gegenüber Russland funktionieren oder würde sie die internationale Ordnung zerstören, die sie aufrechterhalten soll?

Kennan schickte sein „Langes Telegramm“ 1946 aus Moskau an das US-Außenministerium, im Juli 1947 erschien es anonym („Mr. X“) unter der Überschrift „The Sources of So­viet Conduct“ in Foreign Affairs. Kennan wurde später Planungsstabschef und war maßgeblich an der Ausarbeitung des Marshall-Plans beteiligt. Er argumentierte, dass die Vereinigten Staaten „die Sowjetunion als einen Rivalen, nicht als einen Partner in der politischen Arena“ ansehen sollten, und forderte eine „langfristige und geduldige, aber nachdrückliche und wachsame Eindämmung der russischen Expansionstendenzen“ – durch den „geschickten und wachsamen Einsatz von Gegenkräften an einer Reihe sich ständig verschiebender geografischer und politischer Punkte, in Reaktion auf das Umschalten und Manövrieren der sowjetischen Politik“. Kennans Telegramm wurde zur Grundlage amerikanischer Politik im Kalten Krieg.

Was bedeutet „Eindämmung“?

Allerdings blieb „Eindämmung“ stets ein recht vager Begriff. Es gab Meinungsverschiedenheiten über die Ziele. Was schlicht als Konzept zur Eindämmung weiterer sowjetischer Expansion begann, vor allem in Europa, verwandelte sich später in einen aggressiveren Ansatz, mit dem der sowjetische Einfluss weltweit zurückgedrängt werden sollte („rollback“). Weiterhin bestanden Differenzen über die Mittel. Kennan erklärte in seinen 1967, vor dem Hintergrund der US-Eskalation im Vietnam-Krieg veröffentlichten Memoiren, der Begriff „containment“ sei missverstanden worden: Er hätte den sowjetischen Expansionismus eher durch politische als durch militärische Mittel verhindern wollen.

Hinzu kommt, dass man sich schon damals nicht einig war, wo das Hauptaugenmerk der Eindämmungspolitik liegen und welche Dimensionen sie annehmen sollte. In seiner Studie „Strategies of Containment“ macht Yale-Professor John Lewis Gaddis fünf Versionen von Eindämmungspolitik aus: Kennans ursprüngliche Strategie, die von der Regierung Truman 1947 bis 1949 umgesetzt wurde; die Ideen in Paul Nitzes 1950 verfasstem geheimen Strategiepapier NSC-68, das zu einem massiven Anstieg der Verteidigungsausgaben führte; Eisenhowers „New Look“-Politik in den späten fünfziger Jahren; Kennedys Politik der „flexible response“ sowie die Entspannungspolitik unter Nixon und Kissinger in den siebziger Jahren. Laut Gaddis pendelte die US-Politik zwischen „symmetrischer“ (die Reaktionen auf sowjetische Expansion an jedem Ort und mit allen Mitteln) und „asymmetrischer“ Eindämmung (Konfrontation der Sowjetunion zu Zeiten und an Orten der eigenen Wahl).

Der größte Unterschied zu den Zeiten des Kalten Krieges ist das Ausmaß ökonomischer Interdependenz zwischen Russland und dem Westen – und insbesondere zwischen Russland und Europa. Die wirtschaftlichen Abhängigkeiten sind eine Folge der Globalisierung, aber auch Ergebnis einer wohlüberlegten Strategie. Seit den neunziger Jahren weitete der Westen den Handel immer mehr aus und versuchte, Mächte wie Russland und China in das internationale System zu integrieren. Das fußte auf zwei Überlegungen: Erstens würden gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten langsam, aber sicher zur Demokratisierung der Handelspartner führen; und zweitens würden sie diese Mächte zu „verantwortungsvollen Stakeholdern“ machen, wie Robert Zoellick es 2005 in einer Rede zum amerikanisch-chinesischen Verhältnis formulierte. Als Beweis der Richtigkeit dieses An­satzes galten die Bei­tritte Chinas (2001) und Russlands (2012) zur Welthandelsorganisation.

Kein Wandel durch Handel

Die Vorstellung, dass Handel eine Systemänderung bewirken würde, war im ganzen Westen, einschließlich der USA, weit verbreitet – besonders vorherrschend aber war sie in Deutschland. Die Rhetorik des Friedens und Willy Brandts Entspannungspolitik der siebziger Jahre beschwörend, gaben sich gerade deutsche Politiker dieser „Ostpolitik-Illusion“ hin.2 Die Annahmen, auf denen diese Politik basiert, wurden durch die Krim-Annexion zunichte gemacht. Und bemerkenswerterweise befürworten derzeit selbst deutsche Außenpolitiker eine Eindämmung Russlands. Die Frage für westliche Politiker ist heute, wie mit „verantwortungslosen Stakeholdern“ umgegangen werden sollte.

In den vergangenen Monaten unternahm der Westen vorsichtige Schritte, die Integration Russlands in das internationale System wieder rückgängig zu machen. Nach der Annexion der Krim wurde Russland sofort aus der G-8 ausgeschlossen. Nachdem Russland mit der Destabilisierung der Ostukraine noch einen Schritt weiter ging, erhob der Westen nach und nach immer schärfere Wirtschaftssanktionen. Treibende Kraft waren zunächst die Vereinigten Staaten, die sehr viel weniger Handel mit Russland treiben als die Europäer und deshalb weniger zu verlieren hatten. Dennoch sind die Europäer, wenn auch widerstrebend, gefolgt und haben die eigenen Sanktionen verschärft. Nach dem Abschuss von MH-17 setzte die EU im August Sanktionen der „Stufe 3“ in Kraft, die auf Russlands Energie-, Banken- und Verteidigungssektoren zielen.

Die Frage ist, was als Nächstes geschieht. Es gilt als unwahrscheinlich, dass Sanktionen das Verhalten Russlands in nächster Zeit verändern werden,3 obwohl diese der russischen Wirtschaft schaden können. Immerhin wurden in russischem Staatsbesitz befindliche Banken größtenteils von den europäischen Kapitalmärkten abgeschnitten. Doch Putin ist laut Umfrageergebnissen so beliebt wie nie, und es gibt kaum Anzeichen dafür, dass sich die russische Politik ändern könnte. Vor allem ist es beinahe unvorstellbar, dass Russland die Annexion der Krim rückgängig machen könnte, die ja der Auslöser der Sanktionen war. Aber gerade weil die Sanktionen Putin nicht zu schaden scheinen und weil der Westen nicht einfach nachgeben kann, sieht es nach einem langwierigen Patt aus – deshalb auch die Rückbesinnung auf die Eindämmungspolitik des Kalten Krieges.

Ein Versuch zu definieren, wie Eindämmung in Zeiten ökonomischer Interdependenz aussehen könnte, war 2007 das „Power Audit of EU-Russia Relations“ von Mark Leonard und Nicu Popescu.4 Darin erklärten die Autoren, dass die EU beim Umgang mit Russland stark gespalten sei. Am einen Ende des Spektrums stünden Mitgliedstaaten wie Deutschland, die Russland als potenziellen Partner sähen, der durch einen Prozess der „schleichenden Integration“ in den Einflussbereich der EU gelangen könnte. Am anderen Ende rangierten Staaten wie Polen, die Russland als eine Bedrohung betrachteten und ein „soft containment“ befürworteten, um Moskaus expansionistische Tendenzen einzudämmen.

Laut Leonard und Popescu gehörte zur „weichen Eindämmung“, „Russland aus der G-8 auszuschließen, ­Georgien in die NATO aufzunehmen, antirussische Regierungen in der Region zu unterstützen, Raketenabwehrsysteme zu errichten, eine Energie-NATO zu entwickeln und russische Investitionen vom europäischen Energiesektor auszuschließen“. Sie unterschieden „weiche Eindämmung“ ganz klar von der militärischen Eindämmung während des Kalten Krieges; eher ging es um geoökonomische Eindämmung: Die EU sollte „ihre wirtschaftlichen Hebel gegenüber Russland offener anwenden, während sie mit dem Land nur in ausgewählten Bereichen zusammenarbeitet und negative Entwicklungen in Russland deutlich kritisiert“.

Allerdings erschien der Power Audit vor dem Georgien-Krieg von 2008, von der Krim-Annexion ganz zu schweigen. Tatsächlich gehen die Maßnahmen, die der Westen in den vergangenen Monaten ergriffen hat, weit über die Forderungen europäischer „Falken“ von 2007 hinaus. Sie umfassen nicht nur Elemente geo­ökonomischer Eindämmung wie Sanktionen und Schritte zur Reduzierung der Abhängigkeit von russischem Gas, sondern auch Elemente mili­tärischer Eindämmung wie die Entsendung von Truppen in die baltischen Staaten und Polen sowie Manöver an der russischen Grenze. Auf dem NATO-Gipfel in Wales im September einigten sich die Staats- und Regierungschefs auf eine ver­besserte Mobilisierung der Schnellen Eingreif­truppe und sie beschlossen, keine Kürzungen der Verteidigungsausgaben mehr vorzunehmen. Einige westliche Länder ziehen sogar in Erwägung, Waffen an die Ukraine zu liefern.

Demnach fußt die noch in den Anfängen steckende neue Eindämmungspolitik des Westens auf zwei Strängen, die parallel verlaufen: ein ökonomischer und ein militärischer. Jeder dieser beiden Stränge hat seine eigene Dynamik der Eskalation und Deeskalation. Bei beiden ist unklar, wie sie sich entwickeln werden oder ob westliche Politiker sie überhaupt kontrollieren können – nicht zuletzt, weil wir nicht wissen, wie Putin auf die Schritte des Westens reagieren wird. Darüber hinaus können sich beide Stränge auf komplexe Weise miteinander verknüpfen. Deshalb ist es so dringend, die Funktionsweise von Eindämmungspolitik in Zeiten ökonomischer Interdependenz zu verstehen.

Präzedenzfall Iran

Der beste Präzedenzfall für „economic containment“ ist der Iran. Während des vergangenen Jahrzehnts haben Europa und die USA immer härtere Sanktionen gegen das Land verhängt, die es nach und nach aus dem internationalen Finanzsystem ausgeschlossen und seine Wirtschaft gelähmt haben. Anders als traditionelle Handelssanktionen zielten diese „smart sanctions“ darauf ab, den Privatsektor und vor allem Banken auszuhebeln – sie gewissermaßen von den Lebensadern des Finanzsystems abzuschneiden.5 Insbesondere ging es darum, eine Entwicklung in Gang zu setzen, bei der Unternehmen wegen der hohen Kosten und der Komplexität des Vorhabens freiwillig davon abrückten, mit dem Iran Geschäfte zu machen. 2012 wurde iranischen Banken sogar der Zugang zu SWIFT verweigert, dem Zahlungssystem, mit dem internationale Geldtransfers abgewickelt werden und das seinen Sitz in Belgien hat.

Obwohl die russische Wirtschaft viel größer ist als die des Iran, ist sie ähnlich verwundbar für solche „intelligenten“ Sanktionen – nicht zuletzt, weil Russland wie der Iran stark abhängig von Energieexporten ist und diese in Dollar oder Euro verrechnet werden. Die Sanktionen, die von der EU und den USA verhängt wurden, haben bereits Handel und Investitionen zwischen Europa und Russland eingeschränkt und ein Klima der Unsicherheit geschürt. Aber es gibt noch weitere Maßnahmen, auf die der Westen zurückgreifen kann – zum Beispiel den russischen Zugang zu SWIFT einzuschränken.6 Noch ist unklar, ob die Europäer bereit sind, die Sanktionen unbegrenzt fortzusetzen, von weiteren Verschärfungen ganz abgesehen. Auch im Fall des Iran leisteten einige EU-Mitglieder lange Widerstand gegen harte Sanktionen.

Wenn die Europäer allerdings bereit sind, die Sanktionen aufrechtzuerhalten und vielleicht sogar noch weiter zu gehen, den Kosten zum Trotz, könnten sich die Dinge ähnlich wie im Fall des Iran entwickeln. Europäische Unternehmen könnten beginnen, sich von Russland abzuwenden (und umgekehrt), selbst wenn sie von den Sanktionen nicht direkt betroffen sind. Mit anderen Worten: Die Umkehrung der ökonomischen Interdependenz könnte eine ganz eigene Dynamik entfalten – vor allem, wenn Russland in der Lage ist, Alternativen zu den europäischen Kapital- und Energiemärkten zu finden.

Zudem besteht die Gefahr, dass die Sanktionen gegen Russland der Welthandelsorganisation schaden könnten (Putin behauptete, die EU-Sanktionen verstießen gegen WTO-Regeln). Manche haben die Sanktionen gegen Russland sogar als ein Symptom der „De-Globalisierung“ ausgemacht.7 Russland und China haben schon die Entwicklung einer Alternative zu SWIFT angekündigt und könnten ein Interesse daran haben, noch weitere Paralleleinrichtungen zu gründen.

Und um die Dinge noch mehr zu verkomplizieren, findet derzeit im Osten der Ukraine ein Krieg statt – wenn auch einer, der „hybride“ Kriegstechniken nutzt. Der militärische Strang der westlichen, noch ­unausgereiften Eindämmungspolitik basiert auf den ­Erfahrungen aus dem Kalten Krieg und vor allem auf dem Konzept der Abschreckung. Es ist aber nicht geklärt, ob dieser Ansatz im aktuellen Kontext der irregulären und unkonventionellen Kriegsführung anwendbar ist.

Es stellt sich allerdings die Frage – egal, welcher Fall eintritt: Ist es wirklich möglich, ökonomische Interdependenz in einer solchen Situation aufrechtzuerhalten? Oder wird der Konflikt selbst – und mit ihm die Möglichkeit weiterer Sanktionen – für weitere „Entflechtung“ sorgen? Der Westen hat wohl keine Alternative zu einer Eindämmungspolitik gegenüber Russland. Wohin diese Politik führen wird, ist aber äußerst ungewiss.

Hans Kundnani ist Research Director des European Council on Foreign Relations in London.

  • 1Peter Baker: In Cold War Echo, Obama Strategy Writes Off Putin, New York Times, 19.4.2014. 2
  • 2Hans Kundnani: The Ostpolitik Illusion, IP Journal, 17.10.2013; deutsche Fassung: Die Ostpolitik- Illusion. Beim Umgang mit autoritären Staaten macht es sich Berlin zu leicht, IP 1/2014, S. 74–79.
  • 3Siehe Clifford G. Gaddy und Barry W. Ickes: Can sanctions stop Putin? Brookings Institution, 3.6.2014.
  • 4Mark Leonard und Nicu Popescu: A Power Audit of EU-Russia Relations, ECFR, November 2007.
  • 5Dazu aus Insider-Sicht Juan Zarate: Treasury’s War. The Unleashing of a New Era of Financial Warfare, New York 2013.
  • 6Nach Medienberichten schlug die britische Regierung im August einen solchen Schritt vor, was diese aber dementierte. Siehe Robert Hutton und Ian Wishart: U.K. Wants EU to Block Russia From SWIFT Banking Network, Bloomberg, 29.8.2014.
  • 7Mark Leonard: Clashes with Russia point to globalization’s end, Reuters, 30.7.2014; Philip Stephens: The world is marching back from globalisation, Financial Times, 4.9.2014.

Bibliografische Angaben

Kundnani, Hans. “Unsicheres Update.” November 2014.

Internationale Politik 6, November/Dezember 2014, S. 72-77

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