Die bisherigen Großen Koalitionen in der Geschichte der Bundesrepublik wurden erst im Rückblick mit Projekten verbunden: die Regierung Kiesinger/Brandt mit der Überwindung des ersten konjunkturellen Einbruchs in dem noch jungen westdeutschen Teilstaat im Geiste staatlicher Machbarkeit wirtschaftlicher Entwicklungen, die Regierung Merkel/Müntefering/Steinmeier mit dem Management der internationalen Finanzkrise. Mit dem dritten Regierungsbündnis von Union und SPD verbanden sich indes durchaus schon zu Beginn gewisse Hoffnungen auf ein großes Projekt: Schon vor der Bundestagswahl war für viele Proeuropäer die – erwartete – Neuauflage der Großen Koalition in Berlin die zeitgemäße Regierung, um die Krise Europas für einen großen Sprung nach vorn zu nutzen und die Institutionenreform in der EU anzupacken.
So sehr die Sozialdemokraten in den vier Jahren der Opposition darunter litten, der schwarz-gelben Regierung einerseits Geschichtsvergessenheit, mangelnde Solidarität mit den notleidenden EU-Südländern und fehlenden Mut zum großen Wurf vorzuwerfen, aber andererseits den Kurs des Kabinetts Merkel II aus staatspolitischer Verantwortung stets mittragen zu müssen, so sehr schien die Bildung einer neuerlichen schwarz-roten Regierung die Voraussetzung dafür zu schaffen, das innenpolitische Kleinklein in der deutschen Europapolitik endlich zu überwinden.
War es nicht eine Tatsache, dass die FDP zu gespalten und zu schwach war, mehr als bloßes Krisenmanagement in Brüssel zu betreiben? War es nicht so, dass Finanzminister Wolfgang Schäuble viel weiter gehen und die Krise nutzen wollte, um eine Debatte über die Finalität Europas auf die Tagesordnung zu setzen? Und musste Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen nicht immer wieder mit ihrer Mahnung, Schritt für Schritt zu verfahren, einfangen, auch weil sie sich um die Stabilität ihrer Regierung sorgte? Schließlich wurde der Eintritt der Sozialdemokraten in die Bundesregierung als Chance gesehen, das belastete deutsch-französische Verhältnis zu verbessern und den vielbeschworenen Motor Europas zu reparieren.
Mitte 2012 wurde Frank-Walter Steinmeier gefragt, ob das Land nicht Zeiten entgegengehe, in denen große Herausforderungen nach Großen Koalitionen riefen. Der seinerzeitige Oppositionsführer wollte nicht so recht widersprechen: „Sagen wir mal so: Wir laufen auf Zeiten zu, in denen wieder Mut zur Politik gefragt ist.“ Da verwundert es nicht, dass der neue, alte Außenminister, kaum im Amt, sich ans Werk machte, verlorenes Terrain der Außenminister in Brüssel wiederzugewinnen, die Beziehungen zu Paris zu revitalisieren und auf seinen Reisen in die europäischen Hauptstädte austestet, inwieweit der Wille vorhanden ist, jenseits des Krisenmanagements über die Verfassung Europas nachzudenken. Umgekehrt konnte es aber auch nicht verwundern, dass die Hoffnung mancher Südeuropäer, der Eintritt der Sozialdemokraten in die Bundesregierung werde einen Kurswechsel bringen und den überschuldeten Staaten ein wenig Reformdruck nehmen, sich als Illusion erwies. Nahtlos setzt Steinmeier die Politik Berlins gegenüber den Krisenstaaten fort. Die Rolle der Außenminister sieht er nicht im Euro-Krisenmanagement, sondern in der Arbeit an den längerfristigen Strukturen in der EU.
Europa war das erste Thema, das sich Union und SPD in den Koalitionsverhandlungen vornahmen. Damit folgten beide ihrer Überzeugung, es würde sich um das unkomplizierteste Kapitel handeln, schließlich hatten die Sozialdemokraten die Forderung nach Euro-Bonds schon im Laufe der Euro-Krise fallengelassen, weil sie auch an der eigenen Parteibasis gespürt hatten, dass sie damit die Deutschen überforderten. Geblieben war ihnen das Plädoyer für einen Altschuldentilgungsfonds, wonach aufgelaufene Schulden oberhalb von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in einen gemeinsamen Tilgungsfonds mit gemeinschaftlicher Haftung ausgelagert werden. Euro-Bonds light, nur viel komplizierter, sozusagen. Entsprechend wenig war im Wahlkampf darüber geredet worden, entsprechend schnell konnte in den Koalitionsverhandlungen darüber hinweggegangen werden – selbst wenn mancher in der Runde den Fonds gedanklich nur in die Wiedervorlagemappe legte, für den Fall einer abermaligen Eskalation der Krise.
Das Projekt Vertiefung angehen
Was aber wurde in der langen Phase der Regierungsbildung aus der Erwartung, nach Überwindung der akuten Gefahren für die Euro-Zone nunmehr die tieferen Ursachen der Krise anzupacken und das Projekt Vertiefung angehen zu können? Diese mittel- und langfristige Debatte war nach der Diskussion über die Reformvorschläge von Ratspräsident Herman Van Rompuy, an denen Kommissionspräsident José Manuel Barroso, EZB-Präsident Mario Draghi und der damalige Euro-Gruppenchef Jean-Claude Juncker beteiligt waren, Ende 2012 – wegen des Dissenses in Europa und sodann in Folge der nahenden Bundestagswahl – faktisch auf Eis gelegt worden. Geblieben waren erste Schritte: die Arbeit an einer Bankenunion, die Parameter zur Hebung der Wettbewerbsfähigkeit et cetera.
In den Grundsätzen einer langfristigen Perspektive für Europa liegen die Regierungspartner in Berlin nicht weit auseinander. Der Koalitionsvertrag hält fest, dass Deutschland eine „integrationsfördernde Rolle in Europa wahrnehmen“ müsse. Auch das Modell eines Kerneuropas findet verklausuliert Erwähnung: Dort, wo einige Staaten in der Integration voranschreiten, sollte es das Ziel sein, heißt es in der Vereinbarung, diese Politikbereiche unter Einschluss aller EU-Mitglieder so rasch wie möglich unter das Dach der europäischen Verträge zu führen.
Das bedeutet: Die fortschreitende Koordinierung („Wirtschaftsregierung“) soll die Gemeinschaftsinstitutionen der Gesamt-EU „im Rahmen ihrer institutionellen Rolle“ beteiligen. Letztlich bestätigt der Koalitionsvertrag Merkels Vorgehensweise: Wenig spricht für einen Konvent für eine gänzlich neue Verfassung in Europa, kurzfristig aber viel für bilaterale vertragliche Vereinbarungen der EU-Staaten mit der Kommission („Vertragspartnerschaften“), um die Verbindlichkeit in der wirtschaftspolitischen Koordinierung zu erhöhen, und mittelfristig einiges für Vertragsänderungen und -ergänzungen, welche die Verfassung Europas Schritt für Schritt in die gewünschte Form bringen könnten. Ohne die Änderung der Verträge, sagte Merkel in der ersten Regierungserklärung ihrer dritten Amtszeit, lasse sich „ein wirklich funktionsfähiges Europa nicht entwickeln“.
Schäubles Visionen
Begibt man sich gedanklich noch einmal zurück in den Sommer 2012, muss dies kleinmutig erscheinen. Seinerzeit schien Schäuble in einem Spiegel-Gespräch auf das Gaspedal zu treten: Danach gefragt, ob die Integration Europas in den kommenden fünf Jahren so weit vorankomme, dass die Deutschen aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes über eine neue (deutsche) Verfassung abstimmen müssten, erwiderte er: „Vor ein paar Monaten hätte ich noch gesagt: In fünf Jahren? Nie im Leben! Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.“
Der Finanzminister plädierte seinerzeit nicht nur dafür, in wichtigen Politikbereichen mehr Kompetenzen nach Brüssel zu verlagern, ohne dass jeder Nationalstaat die Entscheidungen blockieren könne. Er ging weit über echte Kompetenzabtritte etwa in der nationalen Haushaltspolitik hinaus. Er sprach sich für einen europäischen Finanzminister mit Vetorecht gegen nationale Haushalte aus. Weiter wollte er – mit Blick auf die demokratischen Legitimationsdefizite –, dass sich die EU-Kommission in eine echte Regierung verwandelt, sei es mittels einer Wahl durch das EU-Parlament oder durch die Direktwahl eines Präsidenten, wobei er selbst für Letzteres plädierte. Das Europaparlament sollte zudem das Recht zur Gesetzesinitiative erhalten und der Europäische Rat bzw. Ministerrat eine zweite Kammer werden. An der SPD würden Vorschläge dieser Art nicht scheitern.
Drei Gründe sprechen aber gegen einen großen Wurf im Post-Lissabon-Prozess: Einer neuen Verfassungsdebatte stehen längst nicht mehr nur die Euro-Skeptiker in London und Prag im Weg. Einige Euro-Staaten, darunter Frankreich, fürchten nationale Referenden, deren Scheitern nicht nur den Integrationsprozess stoppen würde, sondern auch innenpolitische Erschütterungen mit sich brächten. Die ersten Reaktionen, die Steinmeier auf seinen Reisen in der EU auf die Frage nach einer Institutionenreform erhielt, waren nicht ermutigend. Zwar wollen etwa die Franzosen das bilaterale Verhältnis zu den Deutschen nach Jahren der Entfremdungen, die es – „Merkozy“ hin oder her – schon vor François Hollande gab, wieder stärken. Doch an die europäische Verfassung will man sich in Paris offenbar nicht wagen. Ohne Frankreich aber braucht Deutschland den Versuch gar nicht erst zu unternehmen. Was würde ein neuer Anlauf Berlins nutzen, wenn am Ende nur Belgien und Luxemburg jubelten? Der Weg aus der Einstimmigkeit in Europa führt nun einmal über die Einstimmigkeit. Die Alternative sind intergouvernementale Wege, die – wenn sie sich bewähren – nachträglich Gemeinschaftsrecht werden könnten.
Spricht man mit Beteiligten in Berlin, dann erhält man die Antwort: Der Wille zu Vertragsänderungen in der Bundesregierung sei vorhanden, aber die Lage in Europa habe sich verändert. In gewisser Weise sind die Integrationisten Opfer des Erfolgs des Krisenmanagements geworden. 2011 habe es eine Gelegenheit gegeben. In den europäischen Hauptstädten sei die Angst ausgeprägt gewesen, Europa könne vor die Wand fahren und der Euro-Raum auseinanderfallen. Diese Angst hätte womöglich als Chance genutzt werden können. Schäubles Wortmeldungen von 2011 und Anfang 2012 muss man in diesem Zusammenhang sehen. Im weiteren Verlauf des Jahres ging mit der Stabilisierung der Euro-Zone aber ein Stimmungswandel in Europa einher: Wir sind aus dem Gröbsten raus. Europa war relativ erfolgreich. Warum jetzt also das ganz große Fass aufmachen? Viele sehnen sich nun danach, aus dem Krisenmodus zurückzuschalten in den Alltag.
Schlechtes Timing
Einmal abgesehen von der Skepsis in vielen EU-Staaten – auch in Deutschland gibt es nur wenig Zeit, die Debatte neu anzustoßen. Im Mai wird ein neues Europaparlament gewählt, in dem die euroskeptischen und dezidiert antieuropäischen Gruppierungen mit großer Wahrscheinlichkeit stärker vertreten sein werden. Danach werden einige Monate ins Land gehen, in denen in den Hauptstädten das Personalpaket für die EU-Führungsposten geschnürt wird. Es folgen weitere Monate, in denen eine Einigung darüber mit Straßburg erzielt werden muss. 2014, so schätzt man in Berlin, wird keine Zeit für Längerfristiges und Grundsätzliches sein. Spätestens 2016 wird aber der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel damit beginnen, die Bundestagswahl im darauffolgenden Jahr in den Blick zu nehmen. So groß der europapolitische Konsens in Deutschland auch ist – Wahlkämpfe und auch Vorwahlkämpfe haben nun einmal die Folge, dass Kleinstdifferenzen aufgeblasen werden. Das Jahr 2015 bietet also schlicht zu wenig Zeit, um ernsthaft die Debatte über eine künftige Verfassung Europas zu führen.
Freilich dürfte die Finalität Europas im Wahlkampf bis Mai eine Rolle spielen. Jedoch wird diese Debatte eher defensiver Natur sein. Einen Vorläufer gab es schon im Bundestagswahlkampf, als zwischenzeitlich über „weniger Europa“ gesprochen wurde. Auslöser war ein Wahlkampfinterview Merkels, in dem die Kanzlerin davon sprach, dass mehr Europa auch heißen könnte, die nationale Politik in Europa stärker zu koordinieren, was in London dankbar aufgegriffen wurde. Gerne wurde dabei übersehen, dass Merkel nur über die Methode, nicht über das Ziel sprach, also über die Notwendigkeit – aufgrund etwa des Widerstands der Briten – etwa über intergouvernementale Verträge voranzuschreiten und nicht über die Gemeinschaftsmethode. Je stärker sich die Europagegner im Wahlkampf zu Wort melden werden, umso größer dürfte die Neigung der etablierten Kräfte sein, das Thema Vertiefung zu umgehen. Es fällt auf, dass nun auch die proeuropäischen Parteien in Deutschland vor einem Superstaat, vor Zentralismus und einem Bürokratiemonster warnen.
Vieles spricht dafür, dass in Europa der Weg des „muddling through“ fortsetzt wird. Gemessen daran, wie weit die EU mit dieser Methode gekommen ist, muss das keine schlechte Nachricht sein. Planbar ist der vor Europa liegende Weg ohnehin nicht: Kehrt die Krise noch einmal zurück, weil in Griechenland nach der Europawahl die Regierung auseinanderfällt oder weil Hollande sein Reformprogramm nicht durchsetzen kann? Wird der Euro doch noch einmal in Frage gestellt? Wird Großbritannien 2017 ernst machen und tatsächlich die EU verlassen? Oder wird Kerneuropa voranschreiten und am Ende eine Magnetwirkung entfalten?
Europapolitik wird durch Ereignisse bestimmt, nicht durch Agenden. Bei aller Angst, welche die Proeuropäer mit Blick auf die Wahlen im Mai beschleicht: Diesmal besteht in den Hauptstädten der EU die Bereitschaft, die europäischen Institutionen mit starken Persönlichkeiten zu besetzen, die Ratspräsidentschaft ebenso wie die Kommission und den Posten des Außenbeauftragten. Die nationalen Regierungen würden es mit mehr Selbstbewussten in Brüssel zu tun bekommen. Und auch in den europäischen Öffentlichkeiten bliebe dies nicht ohne Wirkung: Die Identifikation mit Europa als politischem System könnte so wachsen. Das wäre nicht die schlechteste Voraussetzung dafür, dass es eines Tages doch noch die große Verfassungsdebatte gibt.
Dr. Majid Sattar ist politischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Berlin.