Die Meldung war Balsam für die geschundene italienische Seele: „Europa klagt Berlin an – ‚Der Exportüberschuss würgt das Wachstum in den anderen Ländern ab‘“, titelte Italiens größte Tageszeitung Corriere della Sera Mitte November. Würden die Deutschen mehr konsumieren, so die Schlussfolgerung aus Brüssel, dann könne davon der Export anderer Länder, in erster Linie der Krisenländer, profitieren.
Zum Beispiel Italien, wo die Regierung gerade erst die Vorboten einer wirtschaftlichen Trendwende ausgemacht hat. Ministerpräsident Enrico Letta sieht erste Wachstumsanzeichen, und Finanzminister Fabrizio Saccomanni erwartet für das Jahr 2014 ein Wirtschaftswachstum von 1,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Berechtigte Hoffnungen? Die nationale Statistikbehörde Istat ist da vorsichtiger: Sie spricht von knapp 0,7 Prozent und beziffert die Rezession für 2013 auf ein Minus von 1,8 Prozent.
Noch strenger ist die EU-Kommission, die den Haushaltsentwurf für 2014 bemängelt und die von der italienischen Regierung verbreiteten Wachstumsprognosen für allzu optimistisch hält. Brüssel solle sich nicht allzusehr in der Rolle eines „Notars mit dem Taschenrechner“ oder gar eines „Ayatollahs der Konsolidierung“ gefallen, hält Enrico Letta dagegen. Sonst laufe man Gefahr, die zarte Pflanze des Aufschwungs in Italien im Keim zu ersticken.
Flucht aus der Globalisierung
Kein Zweifel: Die italienischen Medien sind alles andere als gut auf Berlin und Brüssel zu sprechen. Das heißt aber nicht, dass sie keine selbstkritischen Stimmen zuließen. Denn immer mehr Beobachter kommen zu dem Schluss, dass die Krise, in der Italien steckt, im Wesentlichen selbstverschuldet ist. So erschien im Frühjahr 2013 das Buch „Morire di austerità“ (Am Sparen zugrunde gehen) aus der Feder des Wirtschaftswissenschaftlers Lorenzo Bini Smaghi, bis 2011 Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank. Bini Smaghi warnt in seinem vieldiskutierten Buch vor allzu strengen Sparauflagen, die jegliche Bemühungen, die Wirtschaft anzukurbeln, zunichte machen.
Doch schon im Vorwort heißt es: „Italien gehört zu den Ländern, die sich in den vergangenen 20 Jahren nur sehr langsam dem internationalen Handel geöffnet haben.“ Wirtschaft, Politik und Gewerkschaften hätten sich mehr schlecht als recht mit der Globalisierung auseinandergesetzt, fährt Bini Smaghi fort. Als dann die Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2008 ausgebrochen sei, hätten die Medien verkündet, Italiens Wirtschaft sei in der Krise glimpflicher davongekommen als andere und habe sich zudem schneller erholt. Nur: Leider hätten alle Marktindikatoren den gegenteiligen Befund geliefert.
Die Wirtschaftsprofessoren Francesco Giavazzi und Alberto Alesina stimmen mit Bini Smaghis Analyse überein und weisen auf einen weiteren Makel der italienischen Wirtschaft hin: „Die italienischen Großunternehmer sind in der Regel zu eng mit der Politik verflochten“, schreiben sie im Corriere della Sera. Das führt dazu, dass abgewirtschaftete Unternehmen am Leben gehalten werden, oft zu Lasten des weit innovativeren und wettbewerbsfähigeren Mittelstands. Ein Blick auf die Exportzahlen bestätigt das: Im ersten Halbjahr 2013 wurden Güter im Gesamtwert von 195 Milliarden Euro exportiert, was einem Plus von 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht.
Auf Pump gelebt
Eigentlich war man bei der Einführung des Euro davon ausgegangen, dass sich die Ökonomien über eine Orientierung an den Maastricht-Kriterien schrittweise einander angleichen würden. Erleichtert werden sollte das durch die Geldströme vom Norden in den Süden der Euro-Zone. „Leider kam es anders“, bilanziert Antonio Villafranca, Senior Research Fellow des Europa-Programms am Mailänder Istituto per gli studi di politica internazionale (Ispi). Wohl floss das Geld Richtung Süden, allerdings wurde es nicht für produktive Investitionen genutzt. „Und so ist die Schere der Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Euro-Staaten immer weiter auseinandergegangen“, erklärt Villafranca.
„Italien hat regelrecht auf Pump gelebt. Man ging ins Restaurant und überließ die Rechnung einfach den Kindern“, bringt der Historiker Guido Crainz die Ursachen der Krise auf den Punkt. Lag die Staatsverschuldung Anfang der achtziger Jahre noch bei 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, so war sie zehn Jahre später doppelt so hoch. „Man spricht immer von den wirtschaftlichen Folgen“, sagt Crainz, „aber da ist viel mehr im Spiel. Die enorme Staatsverschuldung ist auch ethisch untragbar.“ Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ist Crainz zufolge auf zwei „Lügen“ zurückzuführen. „Die erste Lüge: Die politische Klasse sei korrupt, aber die Gesellschaft gesund. Die zweite Lüge: Man bräuchte nur die Politiker auszutauschen, und schon wäre alles gut. Das stimmt aber leider nicht.“
Mit seiner schonungslosen Gesellschaftsanalyse steht Crainz nicht allein. Auch für den Historiker Ernesto Galli della Loggia ist es nicht nur die Politikerkaste, auch die Bevölkerung trägt ihren Teil an Verantwortung für die jetzige Misere. Bildungswesen, Justiz, Bürokratie, „all dies hat etwas Archaisches in Italien“, schreibt Galli della Loggia. Angefangen bei den öffentlichen Ämtern und Behörden, die eher denen dienen, die darin arbeiten, statt dem Bürger. „Doch die so genannte Zivilgesellschaft gibt sich mit einer Scheinmodernität zufrieden“, fährt Galli della Loggia fort. „161 Mobiltelefone je 100 Einwohner; Bürger, die nicht einmal unter Todesdrohung ein Buch in die Hand nehmen würden … Auch hierin liegen die Wurzeln der Krise.“
Janusköpfiges Wesen
Immerhin verteidigt Italien bis heute seinen Status als zweitwichtigstes Industrieland Europas. Dabei erscheint das Land manchem Beobachter – und auch manchem potenziellen Investor – als janusköpfiges Wesen: hochmodern und effizient auf der einen Seite (zuweilen sogar in der Bürokratie), fast feudalistisch-agrarisch auf der anderen. Schreckt die politische Instabilität potenzielle Investoren ab, so tut die Labyrinth-ähnliche Judikative ein Übriges. „In Amerika ist alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist. In Italien ersticken wir an Regulierungen“, bemerkt Franco Bernabè, ehemaliger Vorsitzender von Telecom Italia und einer der wichtigsten Unternehmer des Landes. Wer investiert aber in ein Land, in dem man sich vom Gesetz eher bedroht als geschützt weiß?
Schuldenreduzierung, Bürokratieabbau, Justizreform, Flexibilisierung des Arbeitsmarkts: Es ist eine ganze Reihe von Aufgaben, die Italiens Ministerpräsident Enrico Letta, der im Frühjahr 2013 die Technokratenregierung von Mario Monti ablöste, zu stemmen hat. Sein Vorgänger Monti hatte das Land „vor dem finanziellen Abgrund gerettet“, wie Giuseppe Vita, Vorsitzender des Verwaltungsrats der italienischen Bank Unicredit, feststellt. Doch von seinen angekündigten Reformen glückte eigentlich nur die Rentenreform, die das Einstiegsalter auf 67 Jahre erhöhte. Und auch Letta war bisher alles andere als in der Lage, dem Land politische Stabilität zu gewähren. Verantwortlich dafür war in erster Linie der Chef der Koalitionspartei Volk der Freiheit (PdL), Silvio Berlusconi, der aber nach seinem Ausschluss aus dem Senat keine Gefahr mehr ist.
Ein gewisses Maß an Groll gegenüber Brüssel und, noch stärker, gegenüber Berlin bleibt. Über den „Prozess gegen ein gedächtnisloses Deutschland“, schreibt Barbara Spinelli, die Tochter eines der Gründungsväter der Europäischen Union, in der Tageszeitung La Repubblica. Geschichtsvergessen sei Deutschland, weil es sich nicht mehr daran erinnere, dass es nach 1945 ohne „die Klugheit des Verlierers und die des Gewinners“ niemals zur Gründung der EU gekommen wäre. Der Verlierer Deutschland verzichtete ein für alle Mal auf seine hegemonialen Ansprüche, und die Gewinner nahmen ihn im Gegenzug wieder im Staatenbund auf und unterstützten ihn beim wirtschaftlichen Wiederaufbau. Diese Großzügigkeit, so Spinelli, würde man nun von Berlin erwarten. Doch auch Italien müsse das Seine dazu beitragen, um „den Deutschen zu helfen, uns Italienern zu helfen“, ergänzt Bankenmanager Giuseppe Vita. Zum Beispiel, indem es daran arbeite, seine Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.
Wie dies geschehen könnte, erklärt der Politikwissenschaftler Antonio Villafranca und blickt dabei vor allem auf die italienische EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2014: „Anstatt wieder einmal auf Änderungen bei den Verträgen zu pochen, tun wir alles, die Vereinbarungen zu erfüllen. Wir versichern der EU, dass wir die Drei-Prozent-Defizitgrenze einhalten und die Staatsschulden Jahr für Jahr um ein Zwanzigstel reduzieren werden. Wir richten aber auch an die anderen Mitglieder der Euro-Zone die Frage, wie wir neben diesen unabdingbaren Hausaufgaben die bitter nötigen Wachstumsimpulse setzen können.“ Natürlich habe Angela Merkel recht, wenn sie den Abbau der Staatsschulden als genuine Aufgabe der jeweiligen Länder darstelle. Doch der Euro sei mehr als eine gemeinsame Währung -– er sei „ein gemeinsames Schicksal, das man besser zusammen gestalten sollte“.
Andrea Affaticati arbeitet als freie Journalistin u.a. für Il Foglio in Mailand.