01. Juli 2013

Das Wachsen der Anderen: Strohfeuer statt Strukturreformen

Der Begriff ist neu, die Politik der Abenomics in Japan leider nicht

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Wenn Finanzstrategen von einer Revolution sprechen, sollten alle Alarmglocken läuten. Das haben die Dot.com-Blase gezeigt, bei der das Internet alle bisherigen Gesetze des Aktienmarkts revolutionierte, und die Subprime-Hypotheken, bei der die Wall Street Tricks erfand, mit denen man faule Darlehen zu „erstklassigen“ Investitionsvehikeln erklärte und dabei verschleierte, dass kaum eine Chance zur Rückzahlung bestand. Nun kommt ein finanzielles „Perpetuum mobile“ aus Japan: Abenomics.

Dem flüchtigen Beobachter präsentieren sich Abenomics als durchaus vernünftige japanische Variante lockerer Geldpolitik, wie sie besonders in den USA betrieben wird; als Versuch, die Industrie mit billigen Krediten zu Investitionen und die Verbraucher zum Kaufen zu veranlassen. Wenn die Stimmung sich nicht zuletzt dank steigenden Börsenkursen verbessere, so Etsuro Honda, einer der Väter des Programms, dann konsumierten die Leute wieder mehr. Da als Begleiterscheinung von Abenomics der Wechselkurs des Yen nachgelassen habe, verbesserten sich die Bilanzen der Exportfirmen. Sie würden investieren und höhere Löhne zahlen. Dadurch nähme der Staat mehr Steuern ein und man könne den dramatisch überschuldeten Staatshaushalt sanieren. Eigentlich sei alles Psychologie. Auch um der Psychologie willen redet Wirtschaftsminister Akira Amari seit Monaten die Börsenkurse stark; die Medien geben sich als Abenomics-Groupies. Kritiker kommen kaum mehr zu Wort. Die Propaganda wirkte, noch bevor Notenbank oder Regierung irgendetwas Neues unternommen hatten und sogar schon vor Abes Wahl zum Premier im Dezember 2012. So groß waren die Erwartungen vor allem bei ausländischen Investoren.

Seit April pumpt die Notenbank mit beispielloser Wucht zusätzliches Geld in die Wirtschaft; in zwei Jahren soll die Geldmenge verdoppelt werden. Honda rechtfertigt das damit, Japan habe nach dem Schock infolge der Pleite von Lehman Brothers seine Geldpolitik weniger radikal gelockert als andere Staaten. Abe selbst bezeichnet die quantitative Lockerung als „ersten Pfeil“ in seinem Köcher, den „zweiten Pfeil“ bilden Konjunkturprogramme, mit denen Abe vor allem die Bauindustrie beschäftigen will. Als „dritten Pfeil“ hat er Struktur­reformen angekündigt, die er bisher noch nicht näher umschrieben hat.
Für seinen ziemlich orthodoxen Keynesianismus erhält Abe, der sich bisher gerne als Neoliberaler gab, viel Applaus. So lobte Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman Abes „Mut“, der sich wohltuend von der „Ängstlichkeit“ der Europäer unterscheide. Je weiter weg von Japan und je oberflächlicher die Kenntnisse, umso lauter der Beifall. Der schwoll Ende Mai noch einmal an, als die Regierung erste Zahlen so präsentierte, dass man aus ihnen einen Erfolg von Abenomics ablesen konnte. Die Deflation sei von 0,5 Prozent auf 0,4 Prozent zurückgegangen. Die Begeisterung der Anleger an der Börse hatte sich da allerdings schon abgenutzt, zumindest vorübergehend. Die Kurse, die in fünf Monaten um 50 Prozent gestiegen waren, gaben in wenigen Tagen die Hälfte ihrer Gewinne wieder ab.

Einige Branchen wie die Autoindustrie meldeten in der Tat gute Quartalsergebnisse, ihre Exporte sind gestiegen. Das lässt sich allerdings eher mit einer leichten Erholung der Weltwirtschaft erklären als mit Abenomics. Im Alltag spüren die Japaner nichts von der Wirtschaftspolitik ihres Premiers, und wenn, dann Nachteiliges: Benzin und manche Einfuhren sind teurer geworden, die Löhne dagegen gleich geblieben.
Warum kann Abenomics nicht funktionieren? Der Begriff ist erst fünf Monate alt, aber als Wirtschafts- und Finanzpolitik betreibt Japan seit mehr als einem Jahrzehnt eine solche Politik – Abe hat diese Politik bloß akzentuiert. Alle seine Vorgänger haben massive Konjunkturpakete geschnürt; dafür hat der Staat sich immer tiefer, auf nun 240 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung und damit mehr als das Doppelte Griechenlands verschuldet. Die Notenbank hat die Staatsdefizite schon bisher finanziert, sie kaufte auch bisher schon Wertpapiere, sogar Aktien am Finanzmarkt.

Japan steckt in einer Liquiditätsfalle, die Wirtschaft reagiert nicht auf Geld­injektionen. Viele Unternehmen und manche Privatleute, vor allem ältere Menschen, hocken auf viel Bargeld und wissen nicht, wohin damit. Mehr konsumieren wollen sie nicht, an die Börse gehen sie nicht mehr. Die meisten Jüngeren hingegen haben nicht genügend Geld, um sich mehr Konsum zu leisten. Ein Drittel von ihnen findet nur Jobs als Zeitarbeiter; dabei verdienen sie Minimallöhne und haben keine Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten. Als Leistungsträger sind sie für die Zukunft der japanischen Wirtschaft verloren.
Auch die Frauen, obwohl besser ausgebildet als die Männer, spielen im Wirtschaftsprozess nur marginale Rollen: sie dürfen Tee kochen, lächeln und den Herren zuarbeiten. In den Teppichetagen hocken nur Männer, alle etwa gleich alt, alle besuchten die gleichen Universitäten und arbeiten seither in den gleichen Firmen; Widerspruch ist nicht üblich, man fürchtet um seine Privilegien. Solange sich diese Gesellschaft nicht radikal ändert, hat die Ökonomie keine Chance auf Wiederbelebung. Die „Japan AG“ braucht Pluralismus, sie muss sich öffnen, nach außen und gegenüber den Jungen und Frauen im eigenen Land. Der konservative Abe ist nicht der Mann, der eine solche Revolution durchsetzen kann – oder will.

Bereits heute geht ein Viertel des Staatsbudgets in den Schuldendienst. Sollten die Zinsen steigen, werden diese Schulden teurer. Vielleicht nicht so teuer, dass es zum Kollaps kommt, aber sicher so teuer, dass alle Hoffnungen auf den Erfolg von Abenomics schwinden. Und Japan in seine Stagnation zurückfällt.

Wachstumsrate: 1,2 %
BIP pro Kopf: 45.680 $
Inflationsrate: -0,1 %
Arbeitslosenquote: 4,4 %
Haushaltsbilanz (% BIP): -8,2

Christoph Neidhart ist Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Tokio.

Bibliografische Angaben

Neidhart, Christoph. “Das Wachsen der Anderen: Strohfeuer statt Strukturreformen.” July 2013.

Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 30-32

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