Es gibt vieles, was eine günstige Auflösung des politischen Patts in der Ukraine derzeit unwahrscheinlich macht. Da ist zunächst die Tatsache, dass die Falken in der Regierung von Viktor Janukowitsch einen wesentlich härteren Kurs fahren als zehn Jahre zuvor unter Leonid Kutschma. Das wiederum hat damit zu tun, dass die tonangebende Gruppe unter ihnen aus der Donbas-Region stammt – einer Region, die stärker durch Gewalt, Kriminalität und autoritäre Strukturen geprägt ist als jede andere in der Ukraine.
Und so vertreten diese Falken in Politik und Wirtschaft einen autoritären Ansatz, der im Zweifel der Beseitigung der Rivalen den Vorzug vor Verhandlungen und Kompromissen gibt. Diese Neigung zu einfachen Lösungen wurde nicht unbedingt dadurch gebremst, dass diese Leute in den vergangenen Jahren sämtliche staatlichen Institutionen übernommen haben, insbesondere im Justizwesen.
Auf der anderen Seite sind auch im oppositionellen Lager die Radikalen weit stärker und lauter als zehn Jahre zuvor. Das rührt zum Teil von der Enttäuschung über die Kabbeleien unter der ineffizienten „orangenen“ Regierung, aber vor allem von der Politik der seit 2010 regierenden Partei der Regionen von Viktor Janukowitsch. Sie monopolisierte die Macht und die Ressourcen zu einem Grad, der jeden fairen politischen Wettbewerb praktisch unmöglich machte. Sie drängte die Opposition aus dem politischen Raum, marginalisierte sie in Medien und Parlament und trug so zu ihrer Radikalisierung bei.
Doch ihre Angriffe galten nicht nur den demokratischen Prozeduren und Institutionen, sondern auch der nationalen Identität. Das führte zu einer Russifizierung und Resowjetisierung von nationalen Symbolen, provozierte unausweichlich nationalistische Leidenschaften und trug damit zum Aufstieg der rechten Swoboda-Partei bei.
Zudem deutet einiges darauf hin, dass die Swoboda wichtige Unterstützung durch regierungsfreundliche Oligarchen und Medien erfahren hat. Denen schien die Partei das geeignete Instrument, um die Opposition zu zersplittern, die Macht der Gemäßigten zu unterminieren und um national wie international ein bisschen Nationalismusängste zu schüren. Da die Swoboda sich letztlich als wesentlich stärker und weniger radikal als erwartet erwiesen hat, investiert die Regierung mittlerweile offenbar in militantere Gruppen, die für die gewünschten Provokationen sorgen sollen.
Die Gewalt, mit der die Staatsmacht gleich zu Beginn der friedlichen Proteste vorging, trug entscheidend zur Radikalisierung der politischen Szene bei. Doch noch gefährlicher ist der Propagandakrieg. Die unabhängigen Medien berichten ausführlich über die Brutalität der Polizei, Angriffe auf Autos und Häuser der Aktivisten, über Entführung, Folter und Mord durch mysteriöse Einheiten, von denen man allgemein annimmt, dass es sich um von der Regierung finanzierte Todesschwadronen handelt.
Derweil leugnen die regierungsfreundlichen Medien und ihre russischen Verbündeten entweder die Fakten, die ihnen unangenehm sind, oder sie erfinden eigene Geschichten, um zu beweisen, dass die Demonstranten vom Westen bezahlte Neofaschisten sind, die nicht einmal davor zurückschrecken, ihre eigenen Landsleute zu entführen und zu töten, um die Regierung in Verruf zu bringen.
Versuche, zu einem politischen Kompromiss zu gelangen, werden immer wieder durch russischen Druck und ökonomische Erpressung zunichte gemacht. Auf der anderen Seite ist der Westen offensichtlich nicht in der Lage, eine ähnlich effiziente Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik zu verfolgen, mit deren Hilfe sich die Falken bändigen und die Gemäßigten auf beiden Seiten ermutigen ließen.
Droht die „Weißrusslandisierung“?
All das macht eine friedliche Lösung weniger wahrscheinlich als ein brutales Vorgehen gegen die Demonstranten und eine „Weißrusslandisierung“ oder „Transnistrialisierung“, die manche Experten befürchten. Dabei steht „Weißrusslandisierung“ für eine ausgeprägt autoritäre Herrschaft, die zu strikt repressiven Maßnahmen greifen würde. Denn die Regierung in Kiew kann in noch wesentlich geringerem Maße auf ihre Popularität vertrauen als die in Minsk, und sie muss mit einem weit größeren gesellschaftlichen Widerstand rechnen.
„Transnistrialisierung“ dagegen würde eine Teilung des Landes bedeuten, eine russische Übernahme der Krim und die Einrichtung eines Protektorats im Südosten. Die Idee einer Teilung ist in der ukrainischen Gesellschaft alles andere als populär. Aber der Kreml könnte dennoch zu dieser Option Zuflucht nehmen – als letzten Ausweg oder als zweitbeste Lösung. Wie auch immer das Resultat ausfällt, eine Sache scheint klar: Langfristig strebt die Ukraine Richtung Westen – ohne dass sich dieser Trend umkehren ließe. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen.
Zunächst einmal ist da die nationale Identität, die als Alternative zur russischen oder eher „Kleines Russland“-Identität – einer Art regionaler übernationaler Identität, die den Ukrainern offiziell zugewiesen wird – entstanden ist. Sie musste sich gegen ständigen russischen Druck entwickeln; ja, offiziell bestritt Moskau, dass sie überhaupt existierte. Die einzige Möglichkeit für die Ukrainer, ihre Identität und ihr Existenzrecht zu sichern, war es, ihren Platz unter anderen europäischen Staaten zu suchen.
Und da sich die Mehrheit der Russen noch immer schwer damit tut, die Ukraine als souveränen Staat zu akzeptieren, wird jede enge Beziehung zu einem solchen Russland von selbstbewussten Ukrainern als existenzielle Bedrohung angesehen.
Zweitens ist die angebliche Spaltung der Ukraine in proeuropäische und prorussische Kräfte zum großen Teil irreführend. Sie verdeckt die Tatsache, dass der sogenannte prorussische Teil der Gesellschaft eher ostslawisch und postsowjetisch als wirklich prorussisch ist. Die Loyalität der Menschen gegenüber dem heutigen Russland ist gering ausgeprägt, während das, was man vielleicht als kulturelle Loyalität bezeichnen könnte, etwas recht Rückständiges hat. Sie wird immer dann geweckt, wenn die zur Putinschen Propaganda gehörenden Vorurteile gegen den Westen als Reservat für Schwule und Pädophile, eine aggressive NATO und eine subversive EU geschürt werden.
Diese „Restloyalität“ ist keine echte Alternative zur proeuropäischen Identität. Die Ukrainer mit einer proeuropäischen Identität haben nicht nur den Maidan organisiert; sie kämpfen seit Jahrzehnten für die nationale Unabhängigkeit, und sie werden nicht damit aufhören, solange die Ukraine noch nicht vollständig entsowjetisiert und in Europa integriert ist.
Alle Bemühungen der Regierung, den „anderen“ Teil der Gesellschaft zu mobilisieren, sind hoffnungslos gescheitert. Es mag alternative Loyalitäten und Identitäten geben, aber keine, für die irgendjemand kämpfen würde. Und das ist ein fundamentaler Unterschied zwischen den „Untertanen“ und den „Bürgern“. Die ersteren würden zwar den Anweisungen der Autoritäten folgen, aber sie würden niemals eine Initiative wagen – und gewiss würden sie nicht ihre Zeit, Gesundheit und persönliche Sicherheit opfern, um für so eine krude Sache wie europäische (oder, in diesem Falle, eurasische) Integration zu kämpfen.
Vom Überleben zum Mitreden
Und drittens spiegelt sich das Streben der Ukraine Richtung Westen in einer deutlichen Verschiebung von Werten. Betrachten wir etwa die Daten des World Values Survey, dann stellen wir fest, dass sich in der Ukraine seit den neunziger Jahren eine signifikante Verschiebung der Prioritäten von Überleben zu Selbstverwirklichung ereignet hat. Eine wachsende Zahl junger Ukrainer sieht das Überleben als gesichert an und erhebt Forderungen nach „Partizipation im Entscheidungsprozess im wirtschaftlichen und politischen Leben“.
Für den ukrainischen Wirtschaftswissenschaftler Anatoly Halchynsky ist der Euromaidan eine klassische soziale Revolution: der Versuch, tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen zu vollenden, die 1991 angepackt, aber niemals richtig vollendet wurden. „Die Ziele der Proteste 1991, der orangenen Revolution von 2004 und des Euromaidan sind dieselben. Es geht nicht nur um die nationale Selbstbestimmung der Ukraine, sondern auch darum, einen Schlussstrich unter die sowjetische Epoche zu ziehen und uns von den Überresten der totalitären Ideologie zu befreien. Der Wunsch nach europäischer Integration ist nur Ausdruck dieser Veränderungen.“
Den Protagonisten des Maidan – Studenten, Akademiker, Unternehmer – gehe es eher um Werte als um wirtschaftliche Interessen. Damit ähnele der Aufstand in gewisser Weise den demokratischen Revolutionen von 1968, die eine radikal neue, nichtmaterialistische Agenda verfolgten, eine Verschiebung von materialistischen hin zu postmaterialistischen Werten.
Besonders auffällig an der Werteverschiebung in der Ukraine ist die Tatsache, dass die Einstellungen gegenüber einer ganzen Reihe von Themen bei verschiedenen Altersgruppen erheblich auseinandergehen. So offenbarte eine landesweite Umfrage im vergangenen Jahr eine starke Korrelation zwischen dem Alter der Befragten und ihrer Haltung zu Themen wie „Demokratie versus starke Hand“, „Redefreiheit versus Zensur“, „Planwirtschaft versus freie Marktwirtschaft“ oder „Haltung zum Untergang der Sowjetunion“.
Zum ersten Mal seit 20 Jahren dokumentierte die Studie, dass die Unterschiede in Wertefragen zwischen jungen Ukrainern (unter 30) und den ältesten (über 60) sogar größer sind als die Unterschiede zwischen Ost- und Westukrainern, Russen und Ukrainern oder Russophonen und Ukrainophonen.
Das bedeutet, dass schon die Demografie dafür sorgen wird, dass die Ukraine sich weiter in Richtung Westen orientiert, auch wenn es jetzt noch nicht gelingen sollte, das Land auf Europa-Kurs zu bringen. Die „ukrainische Frage“ wird nicht von der europäischen Agenda verschwinden, auch wenn einige wenige westeuropäische Politiker dies gerne hätten.
Die Ukraine mag ein „kranker Mann Europas“ sein, doch der Zusatz „Europa“ wird gegenüber dem „krank“ an Bedeutung gewinnen. Das Land ist heilbar, und es gibt einen beachtlichen Reformwillen in der Gesellschaft und unter der politischen und wirtschaftlichen Elite (einige Oligarchen inbegriffen). Wenn der Westen dabei aktiv und umfassend hilft, dann dürfte die Genesung schneller und leichter gelingen. Wenn der Westen aber zaudert, wie damals bei der orangenen Revolution, könnten wir einen erneuten Kreislauf des Abstiegs und Aufstands miterleben – bis die Ukrainer endlich ihren europäischen Traum als einen wesentlichen Teil ihrer nationalen Idee feiern können.
Mykola Riabchuk ist Senior Research Fellow am Ukrainian Center for Cultural Studies in Kiew.