Europas neue Missionen
Aus gutem Grund reden alle von Europas Verteidigung. Doch die EU braucht auch eine Erneuerung ihrer internationalen militärischen und zivilen Einsätze.
Nächstes Jahr begeht das externe europäische Krisenmanagement ein besonderes Jubiläum: Dann sind 20 Jahre vergangen, seit die EU erstmals im Rahmen der damals noch Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) internationale Missionen, sowohl zivile wie militärische, nach Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und in die Demokratische Republik Kongo entsandte. Es war eine andere Zeit, als die Europäer sich kurz nach den Anschlägen des 11. September und dem Sturz des Taliban-Regimes 2001 in Afghanistan aufmachten, ihre eigene internationale Krisenpolitik zu definieren, Strukturen dafür aufzubauen und erste praktische Erfahrungen zu sammeln. Seitdem wurden in der (nach dem Vertrag von Lissabon umbenannten) Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der Europäischen Union 37 Krisenmanagement-Einsätze umgesetzt. Aktuell sind es 18, davon elf zivile Missionen und sieben militärische Operationen.
Diese Zahlen beeindrucken auf den ersten Blick. Doch europäische Einsätze haben sich im vergangenen Jahrzehnt stark gewandelt. Der Beginn der EU-Missionen war geprägt von der ehrgeizigen, 2003 vorgelegten Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS). Die EU wollte sich engagieren, einen Unterschied machen – und das vor allem mit dem Ziel der Unterstützung von Aktivitäten und Einsätzen der UN. In den ersten fünf Jahren setzte die EU fast die gesamte Bandbreite an militärischen und zivilen Einsätzen um, die man für die ESVP/GSVP angedacht hatte. Die Einsätze genossen nicht nur große politische Unterstützung der Mitgliedstaaten, sondern profitierten auch von deren Willen, eine bedeutende Zahl an Personal und Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Ob 3700 Soldatinnen und Soldaten im Tschad und in der Zentralafrikanischen Republik, 1800 in der Demokratischen Republik Kongo, 700 Polizeikräfte in Bosnien-Herzegowina, 3200 Mitarbeitende in der Rechtsstaatsmission im Kosovo oder je 200 in Aceh und Georgien – die Mitgliedstaaten der EU waren ambitioniert und setzten das Instrument global ein.
Doch mit der EU-Erweiterung und dem Vertrag von Lissabon 2009 hat sich das geändert. Vereinfacht gesagt hatten die neuen Mitgliedstaaten aus Osteuropa andere Interessen und Bedrohungswahrnehmungen. Dies wurde zu einer zentralen Schwäche für die weitere Umsetzung der GSVP-Missionen, sowohl bei der Einigung auf einen Einsatz als auch bei der Bereitstellung von Personal. Und: Auch die großen Mitgliedstaaten, die in den Anfängen der GSVP sehr engagiert waren, hatten nun keinen großen Appetit mehr auf personal- und kostenintensive Missionen. Mit Ausnahme der Marine-Operation Sophia (rund 1400 Militärangehörige), der Militäroperation in der Zentralafrikanischen Republik (rund 750) und der militärischen Ausbildungsmission in Mali (um die 600) lag die Personalstärke neuer EU-Missionen und EU-Operationen seit 2010 in der Regel zwischen 20 und 100.
Ausbildung und Beratung im Fokus
Fast alle Post-Lissabon-Missionen legen einen Fokus auf Aus- und Weiterbildung von Sicherheitsdiensten (Polizei und Militär) oder auf die Beratung von Ministerien und anderen Regierungseinrichtungen des Gastlands. Kurzfristige Stabilisierung spielt nur noch eine untergeordnete Rolle. Dort, wo wie im Falle des Krieges in der Zentralafrikanischen Republik, die EU eine Stabilisierungsmission entsenden wollte, scheiterte diese fast an der mangelnden Bereitschaft der Mitgliedstaaten, größere militärische Kontingente zu entsenden. Im Falle der letztendlich viel kleineren EUFOR CAR brauchte es statt einer Konferenz zur Generierung von Streitkräften sechs dieser Treffen – wobei die finale Größe nur durch einen substanziellen Beitrag des Nicht-EU-Mitglieds Georgien erreicht wurde. Die alternative Fokussierung auf Training und Weiterbildung lässt die GSVP mittlerweile wie eine Ansammlung verschiedener, eher langfristiger europäischer Projekte wirken statt schnellerer Einsätze fürs Konfliktmanagement. Anders als zu Beginn erfolgt die Entsendung von Missionen auch nicht mehr zuvorderst komplementär zu UN-Friedenseinsätzen, sondern als dezidierter, alleinstehender EU-Beitrag. Eine Priorisierung der Sichtbarkeit („waving the EU flag“) statt einer Bedarfsorientierung an Problemen vor Ort hat stark zugenommen.
Hinzu kommt eine Verschiebung des Narrativs und der politischen Zielsetzung, nochmals verstärkt durch die Globale Strategie der EU 2016. Deutlich geprägt von den Migrationsbewegungen 2014/2015, Terroranschlägen in Europa, dem Brexit sowie dem Verhalten Russlands seit der Krim-Annexion richtete die Globale Strategie die europäische Außen- und Sicherheitspolitik neu aus. Anders als in der stark norm- und werteorientierten ESS standen Interessen und Schutz der EU im Zentrum, unverkennbar in der ersten ihrer fünf Prioritäten: der Schutz der Union, ihrer Bürgerinnen und Bürger sowie ihres Hoheitsgebiets.
Durch die folgende teils einseitige Auslegung der Globalen Strategie von Mitgliedstaaten wie Österreich, Italien, Ungarn, Tschechien oder Polen nahmen die GSVP und ihre Einsätze statt globalem Krisenmanagement nun stärker die Sicherheit der EU-Mitgliedstaaten in den Blick. Nirgends wurde das sichtbarer als bei der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft 2018 unter dem Motto „Ein Europa, das schützt“.
Nachdem die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) ihre erste Mission Triton eingesetzt hatte, um illegale Migration über das Mittelmeer zu reduzieren, zog die GSVP 2015 mit der militärischen Operation EUNAVFOR Med („Operation Sophia“) nach. Diese sollte im Rahmen der GSVP vorrangig kriminelle Schleusernetzwerke im zentralen Mittelmeer bekämpfen. Darüber hinaus passte die EU die Mandate der zivilen GSVP-Missionen in Mali und Niger an, um Migrationskontrolle und Grenzsicherung stärker abzubilden. Ab Juni 2016 wurden beide Missionen Teil der Migration Partnership Frameworks (MPF) für Mali und Niger. Die MPF sollen die Migration Richtung Norden nach dem Willen der EU-Staaten ganzheitlich mit allen europäischen Akteuren und Instrumenten eindämmen. Mit dem Regionalbüro von EUCAP Niger in Agadez im Norden des Landes sollte Einfluss auf eine zentrale Migrationsroute Richtung Mittelmeer genommen werden.
Auf diese Weise wurden GSVP-Einsätze teilweise populistischen Regierungen in EU-Mitgliedstaaten politisch als Instrument für Grenzkontrolle und Migrationsmanagement verkauft. Doch wenngleich es grundsätzlich zu begrüßen ist, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten auf interne Bedrohungen reagieren, die von Populisten in Europa gezielt und destabilisierend ausgenutzt werden, ist die GSVP – ob zivile oder militärische Operationen – hierfür nicht das richtige Instrument. Im Dienst von externem Krisenmanagement ist die GSVP dagegen gut aufgestellt.
Corona und Russlands Angriffskrieg
Das mangelnde Interesse der Mitgliedstaaten an manchen GSVP-Einsätzen – ebenso wie deren geringere Bedeutung in den Augen einiger Gastländer im Vergleich zu größeren UN-Friedenseinsätzen vor Ort oder auch finanziell attraktiveren bilateralen Projekten – wurde auch zu Beginn der Pandemie 2020 deutlich, als im Falle der GSVP innerhalb von wenigen Wochen die Hälfte des Missionspersonals abgezogen wurde und die meiste programmatische Arbeit zum Erliegen kam.
Vier der damals 17 Missionen und Operationen der EU erwiesen sich während der Pandemie jedoch als widerstandsfähig. Dabei handelt es sich um die beiden militärischen Operationen EUNAVFOR Atalanta und EUFOR Althea in Bosnien sowie um die zivilen Missionen EULEX Kosovo und EUMM Georgia. Sie konnten den Großteil ihres Personals beibehalten und so ihre Kernfunktionen erfüllen. Was haben sie gemeinsam? Sie sind groß, und fast alle Mitgliedstaaten engagieren sich stark für sie. Sie liegen überwiegend geografisch nahe an Europa. Bei ihnen geht es weniger um Ausbildung und Kapazitätsaufbau als um Stabilisierung und Überwachung. Die Verkleinerung oder das Einfrieren ihrer Aktivitäten hätte schwerwiegende Folgen haben können. Im Fall der EUMM befürchtete die georgische Regierung eine russische Aggression, sollte die EUMM ihre Beobachtertätigkeit einstellen. Auch die EUFOR-Truppen spielen weiterhin eine wichtige Rolle in Bosnien-Herzegowina.
Auch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine kann Hinweise dafür liefern, wo und wie sich EU-Staaten mit der GSVP engagieren möchten. Einige haben bereits signalisiert, dass sie die EUAM in der Ukraine stark ausbauen möchten. Allerdings ist – anders als die militärischen EU-Operationen, die seit 2021 über die Europäische Friedensfazilität (European Peace Facility, EPF) als neues Finanzierungsinstrument außerhalb des EU-Haushalts finanziert werden – das Budget für zivile GSVP gedeckelt und durch den mehrjährigen Finanzrahmen der EU bereits bis 2027 fixiert. Um eine zivile Ukraine-Mission zu verstärken, muss die EU andere Einsätze verkleinern oder schließen. Diese schon seit Jahren untragbare Situation hat (unabhängig von Erfolgsfaktoren oder Evaluierungen) bereits zur Schließung anderer Missionen geführt.
Eine andere Frage, die sich durch die nun extreme geopolitische Rivalität für Friedenseinsätze stellt, kann darüber hinaus entscheidend sein für die nahe Zukunft der GSVP-Einsätze: Was passiert, wenn es keine Mandatierung des UN-Sicherheitsrats für Friedenseinsätze mehr gibt? Bisher haben Russland und China in diesem Jahr ihr Abstimmungsverhalten bei diversen Einsätzen, vor allem UN-Friedenseinsätzen, nur von Zustimmung auf Enthaltung gestellt. Vetos sind aber wahrscheinlich, unter anderem für die Mandatierung von EUFOR in Bosnien im Herbst. Falls dies in näherer Zukunft auch die Existenz von UN-Friedenseinsätzen bedroht, könnte EU-Einsätzen eine Schlüsselrolle zufallen, da diese, wie EUMM Georgien, auch ohne UN-Mandat implementiert werden können.
Kompass und Compact
Zwei Dokumente sollen die GSVP zukunftsfähig machen: der Compact für eine zivile GSVP von 2018 und der diesjährige Strategische Kompass. Im Falle des Compact erarbeiten die Mitgliedstaaten eine Neufassung, die vor allem auch das Ambitionsniveau für zivile Einsätze klären soll. Dieser „New Compact“ soll 2023 während der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft verabschiedet werden.
Der erste Compact hat zwar zu einer (temporären) größeren Aufmerksamkeit für die zivile GSVP geführt, aber nicht zu einer stärkeren Beteiligung der bisher an den Einsätzen weniger interessierten Mitgliedstaaten. Der Strategische Kompass, dessen inhaltliche Ausgestaltung bei der Veröffentlichung stark unter dem Eindruck des russischen Angriffs auf die Ukraine stand, zeigt eine deutliche Priorisierung des Themas Verteidigung. Auch wenn das verständlich ist, so hätte man sich mehr zur konkreten Zukunft der Krisenmanagement-Einsätze der EU gewünscht.
Bei beiden Prozessen fehlt jedoch ein erfolgskritisches Element: eine strukturierte und unabhängige Wirkungsanalyse der Einsätze. Die ist bei den Brüsseler Institutionen wohl vor allem aus Sorge vor negativen Ergebnissen bisher nicht gewünscht. Erste Analysen der militärischen Trainingseinsätze der EU durch das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI zeigen, dass diese Sorge nicht unbegründet ist. Eine Organisation wird sich aber nur weiterentwickeln, wenn sie auch negative Resultate konstruktiv verarbeitet.
Natürlich haben auch kleinere und mittlere GSVP-Einsätze nach dem Vertrag von Lissabon Wirkung erzielt und setzen mit ihrem Personal sinnvolle Aktivitäten um. Selbst in Agadez versucht die EU die Verschlechterung der Lebensumstände der Bevölkerung infolge der von der EU gewollten Unterbindung des bisherigen Grenzverkehrs durch andere Projekte der Mission und der Kommission abzufedern.
Allerdings stellt sich die Frage, ob man Beratungs- und Trainingsinitiativen (oder auch die Themen Migrationsmanagement und Grenzkontrolle) nicht besser in einem anderen Rahmen implementieren und das Instrument GSVP-Einsatz vor allem für ambitioniertes Krisenmanagement der EU nutzen sollte. Dazu gehören Einsätze, bei denen die EU den Unterschied macht, beispielsweise in Georgien oder Kosovo, wo UN und OSZE entweder blockiert oder nicht in der Lage sind, tätig zu werden; Einsätze, hinter denen alle stehen (und nicht nur die Hälfte der Mitgliedstaaten) und an denen sich dann auch alle beteiligen; Einsätze, in denen der Fokus nicht auf der Innenpolitik der EU liegt, sondern auf dem Bedarf vor Ort.
Dafür braucht es die bereits erwähnte unabhängige Wirkungsanalyse. Ein Ergebnis könnte sein, dass man Abstand nimmt von kleineren und mittelgroßen Missionen, die vor allem trainieren und beraten. Diese Mandate könnten ohne Weiteres von der Europäischen Kommission erfüllt werden, wie das Beispiel der Mission EUBAM Moldawien und Ukraine zeigt, mit der die Kommission seit 2005 das gleiche unternimmt, wie die GSVP unter anderem in Palästina oder Libyen.
Eine solche Reform würde den Weg frei machen für eine Reduzierung und damit Fokussierung auf vielleicht ein halbes Dutzend Einsätze, militärisch und zivil, bei denen alle Mitgliedstaaten engagiert sind. Diese befänden sich aktuell vor allem in der europäischen Nachbarschaft, in Bosnien, im Kosovo, in Georgien und in der Ukraine.
Wie weiter?
Es braucht ein zukunftsfähiges Krisenmanagement aller EU-Mitgliedstaaten. In der Zeitenwende für die Verteidigung der EU darf dies nicht vergessen werden. Der Prozess für die Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie könnte auch für die europäische Ebene Ideen schaffen, die man im ersten Halbjahr 2023 mit gleichgesinnten Partnern während der schwedischen Ratspräsidentschaft umsetzen könnte. Jetzt ist die Gelegenheit für große Entscheidungen und nachhaltige strukturelle Veränderungen statt des Klein-Kleins vergangener Jahre.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2022, S. 85-89
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