IP

01. Juni 2009

„Europa, das sind wir alle!“

Der gewinnertext des IP-Essaywettbewerbs

„Frag nicht, was Europa für dich tun, frag, was du für Europa tun kannst“ lautete in Abwandlung des berühmten Diktums von US-Präsident John F. Kennedy das Thema des Essaywettbewerbs, an dem Studenten aus ganz Europa teilnahmen. Allen Unterschieden zum Trotz zeichneten sich die Texte durch eine Gemeinsamkeit aus: die Begeisterung für das Zusammenwachsen Europas und die Möglichkeit jedes Einzelnen zu partizipieren.

Auch wenn es auf den ersten Blick reizvoll erscheint, Kennedys berühmten Ausspruch auf Europa anzuwenden, sollten wir nicht automatisch einen Gegensatz zwischen „Europa“ und „uns“ annehmen. Es wird allerhöchste Zeit, dass wir begreifen: Europa, das sind wir alle! Indem wir etwas für Europa tun, tun wir etwas für uns. Europa ist keine abstrakte Einheit, die fernab in Brüssel von gesichtslosen Bürokraten und Verwaltungsbeamten regiert wird, die nichts anderes im Sinn haben, als obskure Verordnungen zu verabschieden. Im Gegenteil, in den meisten Fällen ist Europa eine Chance – zu reisen, zu arbeiten, zu studieren, aber auch in einer friedlichen, gerechten und demokratischen Gesellschaftsordnung zu leben und sie aktiv zu gestalten. Wie bei jeder Chance liegt es aber an uns, sie zu ergreifen. Darum ist Partizipation, und zwar mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, unsere wichtigste Bürgerpflicht. Nur so erleben wir, was Europa wirklich ausmacht und was Europa tut; nur so entdecken wir, was wir an Europa schätzen und was nicht – und können gemeinsam daran arbeiten, letzteres zu verändern.

Warum ist Mitbestimmung wichtig? Wenn du dein Heimatland noch nie verlassen hast, dann verbindest du Europa wahrscheinlich mit dem Prozess, den Wissenschaftler für gewöhnlich als „Erosion nationaler Souveränität“ und Boulevardzeitungen als „Invasion“ bezeichnen. Doch wenn du zu einem Bruchteil des Preises, den du ohne European Open Skies Initiative zahlen müsstest, ein Flugzeug besteigst, wenn du ohne umständliche Grenzprozedur in jeden beliebigen Schengen-Staat einreisen kannst, und wenn du von dort aus deine Verwandten anrufen kannst, um ihnen zu sagen, dass du sicher angekommen bist, ohne für den Anruf dein halbes Reisebudget zu opfern – dann begreifst du allmählich, dass Europa nicht „Invasion“, sondern Freiheit bedeutet.

Plötzlich kommt dir der Ausdruck „europäische Integration“ wieder in den Sinn, aber ohne die negative Konnotation, die der Begriff damals hatte, als du die Schulbuchdefinition pauken musstest. Es ist einer dieser seltenen Aha!-Momente, in dem du merkst, dass du etwas Wichtiges verstanden hast. Du hast es zwar schon oft gehört und gelesen, doch erst jetzt erwacht es zum Leben und ergibt endlich Sinn.

Sicher, Europa zu „erleben“ scheint zunächst eine schier entmutigende Aufgabe. Schließlich ist es gerade die Vielfalt, die Europa einzigartig macht. Der erste Zusammenprall mit einer fremden Kultur ist eine Herausforderung – und oft genug ein Quell der Enttäuschung. In solchen Momenten fragst du dich vielleicht, warum sich Italiener überhaupt die Mühe machen, Ampeln aufzustellen und die Straßen mit Zebrastreifen zu bemalen, wenn sie ohnehin davon ausgehen, dass niemand sie beachtet. Doch der Adrenalinspiegel, der beim Überqueren einer italienischen Straße in die Höhe schießt, wird schnell von einer Tasse wunderbar cremigen Cappuccinos gesenkt, den du langsam in der Sonne trinkst, während du die spektakuläre Aussicht auf die umliegende Piazza und das Schloss auf dem nahe gelegenen Hügel genießt. Und auch wenn dir deine erste Begegnung mit einem deutschen Beamten nicht wegen ihrer überbordenden Herzlichkeit im Gedächtnis bleibt, erlebst du bei einem Besuch in einer deutschen Kneipe, was echte deutsche Gastfreundschaft bedeuten kann. Ganz genau darum geht es: Indem wir Europa „erleben“, lernen wir die kulturellen Unterschiede kennen und respektieren, während wir zugleich noch viel mehr positive Aspekte entdecken, derer wir uns zuvor nicht bewusst waren.

Was uns zusammenbringt, sind allerdings nicht nur die Wertschätzung unserer Vielfalt, sondern auch unsere gemeinsamen Probleme. In allen 27 EU-Mitgliedsstaaten sind Menschen von sozialer Ausgrenzung bedroht. Ihnen steht kein ausreichender Zugang zu den wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Möglichkeiten offen, die wir normalerweise als selbstverständlich ansehen. Das verschärft die Spannungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen, beispielsweise Einwanderern oder ethnischen Minderheiten, und entlädt sich in Ausbrüchen von Frustration und Gewalt, die den Graben zwischen „uns“ und „den anderen“ bloß vertiefen und ein Klima der Angst, Unsicherheit und Feindseligkeit schaffen. Solch ein Klima ist der perfekte Nährboden für das Wiederaufflackern jener Ideologien, deren Vorstellung von nationaler, kultureller oder biologischer Überlegenheit mit ihren verheerenden Konsequenzen unsere nicht allzu weit zurückliegende Vergangenheit prägen. Diese dunklen Kapitel der europäischen Geschichte wurden abgeschlossen, als Robert Schumann am 9. Mai 1950 verkündete, dass das „Zusammenkommen der Nationen Europas“ niemals in Vergessenheit geraten und uns immer an jene Welt erinnern sollte, in der wir nicht leben wollten.

Wir teilen die Verantwortung, Ausgrenzungstendenzen zu bekämpfen und nach gemeinsamen Lösungen zu suchen, indem wir in einer europäischen Öffentlichkeit zusammenkommen und Erfahrungen austauschen; indem wir miteinander sprechen, aber einander auch zuhören. Das gelingt uns nur, wenn wir vorurteilsfrei und gewillt sind, die Argumente der Gegenseite zu akzeptieren, und zwar auf Grundlage ihres Inhalts, nicht der Nationalität oder des sozialen Hintergrunds der Person. Je mehr Stimmen sich in die Debatte einbringen, desto größer wird der Ideenpool, aus dem wir schöpfen können, und desto mehr verbessert sich die Qualität der politischen Entscheidungen, die wir treffen. Und desto mehr erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass diese Entscheidungen von all denen mitgetragen werden, die von ihnen betroffen sind. Gerade für Opfer sozialer Ausgrenzung ist Mitsprache wichtig, denn sie leiden oft an dem Gefühl, dass ihre Bedürfnisse von außen beurteilt werden und dass sie wenig Möglichkeit haben, sich zu äußern und gehört zu werden. Dagegen werden politische Entscheidungen, die auf der Grundlage einer breiten Debatte getroffen und umgesetzt werden, nicht als Zwang einer mächtigen Mehrheit empfunden, die für die Bedürfnisse von Minderheiten blind ist.

Wir sollten aber auch aufpassen, dass die Debatte nicht in das andere Extrem abrutscht und ständig um den unrealistischen Anspruch kreist, völlig neuartige Lösungen zu finden. Denn oft existiert in einzelnen Mitgliedsstaaten bereits ein guter Lösungsansatz für ein Problem, der für die anderen als Best-Practice-Beispiel  dienen könnte. Ebenso sollten wir aus gescheiterten Lösungsversuchen lernen. Mit anderen Worten: Eine offene Debatte, in der potenzielle Lösungen auf Basis ihrer Wirksamkeit und auf Grundlage ihrer Auswirkung auf die Betroffenen beurteilt werden, ist eine wesentliche Zutat für ein demokratisches Europa.

Um die Vorteile von Mitbestimmung und Teilhabe genießen zu können, muss allerdings eine wichtige Aufgabe erfüllt sein: nämlich unsere Bereitschaft, einander als europäische Bürger zu behandeln, die sich den gleichen Werten – Menschenrechte, Toleranz, Solidarität und Gleichheit – verbunden fühlen. Der Kitt, der uns zusammenhält und der das Fundament für die Rolle Europas in der Welt bildet, sind diese Werte – und nicht unsere unterschiedliche nationale oder sprachliche Herkunft. Die vergangenen 50 Jahre Europas sind eine Erfolgsgeschichte des Zusammenlebens in Frieden und Wohlstand. Europa gibt nicht nur der Vielfalt einen Raum, sondern feiert sie und profitiert von ihr. Gerade in der derzeitigen Weltwirtschaftskrise ist es besonders wichtig, sich zu grundlegenden Werten zu bekennen; welche Maßnahmen wir auch immer ergreifen, sie sollten im Einklang mit unseren Werten stehen.

Mehr Mitbestimmung und eine wirklich inklusive europäische Öffentlichkeit – das mag wie eine akademische Utopie oder Spinnerei klingen, je nachdem wie geneigt wir sind, Zukunftsvisionen zu entwickeln und uns dafür einzusetzen, dass sie Wirklichkeit werden. Ich glaube jedenfalls, dass wir nicht vergessen sollten, dass wir selbst es sind, die Europa ausmachen. Alles, was wir tun oder unterlassen, wirkt sich direkt auf das Europa aus, in dem wir leben.

Darum sind die Wahlen zum Europaparlament eine ausgezeichnete Gelegenheit, unsere Stimmen zu erheben. Während eine europäische Öffentlichkeit bisher lediglich eine Vision ist, stehen uns die Wahlen unmittelbar bevor. Anstatt ein paar Stunden zu Hause zu verbringen, Zeitung zu lesen und uns still und leise über eine europäische Verordnung zur Bananenkrümmung zu ärgern, ist es an der Zeit, über unsere Abgeordneten im EU-Parlament  und die Politik, die wir von ihnen erwarten, nachzudenken. Und bevor es nun wieder heißt, ich sei allzu optimistisch: Das Europäische Parlament hat weitaus mehr gesetzgebende Macht, als wir oft denken. Die Wahlen sind unsere Chance zu entscheiden, auf welche Weise es diese Macht nutzen sollte, um Europa zu dem zu machen, was wir uns wünschen.

Und um auf Kennedys Ausspruch zurückzukommen, was wir für Europa und uns selbst tun können – die Antwort ist einfach: mitbestimmen.

MARIYA SHISHEVA (26) stammt aus Bulgarien und studiert an der University of Trento, Italien.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2009, S. 90 - 93.

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