Weltspiegel

27. Juni 2022

„Es zahlt sich nicht mehr aus, in Putins Russland zu investieren“

Der designierte DGAP-Direktor Guntram Wolff im Gespräch über politische Illusionen, wirtschaftliche Abhängigkeiten und die Rolle unabhängiger Denker.

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Bild: Porträt Guntram Wolff
Dr. Guntram Wolff ist Direktor des Bruegel-Instituts in Brüssel. Zum 1. August 2022 übernimmt Wolff das Amt des Direktors und CEO der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er lehrt, forscht und publiziert zu Themen der europäischen politischen Ökonomie und Governance, zu Klimawandel und Geoökonomie sowie zu Geld- und Fiskalpolitik.
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IP: Herr Wolff, in der Außen- und Sicherheitspolitik reden zurzeit alle von der Zeitenwende. Brauchen wir so etwas auch für Deutschlands Wirtschafts- und Finanzpolitik?

Guntram Wolff: Ich habe die Zeitenwende stets als Konzept verstanden, das sich auf eine Außenpolitik im weiteren Sinne bezieht. Und da spielen meiner Meinung nach auch Wirtschafts-, Technologie- und Klimapolitik eine Rolle. Wenn wir eine Erkenntnis aus der aktuellen Krise ziehen sollten, dann die, dass diese Dinge stark zusammenhängen und man sie nicht separat denken kann. Nur ein Beispiel: 2002 lehnte das Bundeskartellamt die Fusion von Deutschlands führendem Erdgasversorger Ruhrgas mit dem zweitgrößten Strom­anbieter in Deutschland E.ON aus Wettbewerbsgründen ab. Die Politik erlaubte den Zusammenschluss entgegen der Empfehlung der Monopolkommission und des Kartellamts. Diese Entscheidung, die überwiegend kartellrechtlich betrachtet wurde, hatte aber enorme außenwirtschaftliche und außenpolitische Folgen, wie wir inzwischen alle wissen. Denn die Abhängigkeit Deutschlands von Gazprom stieg dadurch massiv an. Wir müssen den Terminus „Zeitenwende“ also gesamtstaatlich und -gesellschaftlich fassen. Und wir müssen uns klarmachen, dass die Welt, in der alles nach Regeln und Ordnung funktioniert, schon vor dem Krieg in der Ukraine vorbei war.

Wie müsste denn ein neues Wirtschaftsmodell aussehen, das Antworten auf die drängendsten Fragen gibt, etwa zu Lieferketten oder Energieabhängigkeit?

Ich bin immer besorgt, wenn es heißt, die beste Option sei Autarkie. Deutschland und die EU sind in weltweiten Lieferketten vernetzt; das ist die Grundlage unseres Wohlstands. Allerdings müssen wir schon schauen, wo wir gefährliche Abhängig­keiten reduzieren können. Nehmen wir nur mal das Thema Energiewende. Natürlich wollen wir rauskommen aus der Abhängigkeit von russischen Ressourcen und rein in die grüne Klimapolitik. Aber auch bei erneuerbaren Energieträgern, etwa bei Solaranlagen und Windenergieanlagen, haben wir hochkomplexe Lieferketten und zum Teil Rohmaterialien, die konzentriert in einigen Ländern vorkommen: Solarpanele etwa beziehen wir aus China, 60 Prozent der Weltproduktion an Kobalt kommen aus dem Kongo. Es geht hier um ausgesprochen komplexe Produktionsprozesse, und eine Lektion sollten wir gelernt haben: Wir dürfen uns nicht in Abhängigkeit von ein oder zwei Ländern begeben – dann wären wir wirklich erpressbar.

Was wäre die Lösung? Raus aus den ­chinesischen Solaranlagen?

Nein. Dass wir die Solarpanels aus China importieren statt sie selbst zu produzieren, sorgt ja erst dafür, dass die Energiewende so kostengünstig und dadurch realisierbar ist. Es wäre falsch, nichts mehr aus China zu importieren. Wir müssen allerdings dafür sorgen, dass wir alternative Produktionsmöglichkeiten im In- und Ausland haben, falls es mal krachen sollte. Diversifizierung heißt das Zauberwort. Die Idee hinter dem Green Deal ist ja im Grunde eine Wette der EU darauf, dass wir die grünen Industriesektoren so entwickeln, dass wir Weltmarktführer werden und uns ein neues Geschäftsmodell schaffen. Für einige dieser Top-Technologien sind wir auch Hauptexporteure, aber ich warne davor, sich auf diesen Lorbeeren auszuruhen. Die anderen schlafen nicht, im Gegenteil: Die Amerikaner investieren massiv in die neuen Technologien, die Chinesen ebenfalls. China baut derzeit mehr Wind­energieanlagen pro Jahr als es die Europäische Union in den vergangenen fünf Jahren getan hat. Das ist ein gnadenloser weltweiter Wettbewerb. Wir werden enorme Investitionen tätigen müssen, um die Bedingungen für die Unternehmen zu verbessern und dafür zu sorgen, dass wir hier Weltmarktführer werden; denn ein Teil des industriellen Wandels wird in Richtung erneuerbare Technologien führen.

Stichwort Exporte: In dieser Disziplin ist Deutschland Weltmeister, was allerdings zum Teil auf heftige Kritik aus dem Ausland stößt. Sehen Sie einen Anlass, unser exportorientiertes Modell zu überdenken?

Ich fürchte, in der Diskussion werden immer zwei Dinge durcheinandergebracht. Das hat damit zu tun, dass der Terminus Exportweltmeister stets ein wenig unklar bleibt: Ist damit der Exportüberschuss gemeint? Oder die Tatsache, dass wir eine offene Volkswirtschaft sind? Was den Leistungsbilanzüberschuss angeht, also die Tatsache, dass wir wesentlich mehr exportieren als wir importieren: Das wird seit mindestens 15 Jahren kritisiert. Und ich glaube tatsächlich, dass wir in Deutschland auf der Nachfrageseite ein Problem haben. Wir müssen unsere Importe hochfahren und dadurch den Leistungsbilanz­überschuss reduzieren. Auf der anderen Seite haben wir eine für ein großes Land extrem offene Volkswirtschaft, das heißt, wir exportieren und importieren im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt ausgesprochen viel. Da sind wir vergleichbar mit kleinen Ländern, bei denen es normal ist, dass sie offener sind; in Luxemburg zum Beispiel wird relativ wenig im Land selbst produziert. Ansonsten gilt die Regel: Je größer ein Land, desto weniger offen ist es.

Sollte Deutschland seine Offenheit reduzieren?

Nein, denn diese Offenheit ist unsere Stärke. Wenn wir uns einen kleinen Mittelständler im Schwarzwald anschauen, der ein sehr spezialisiertes Produkt herstellt, dann wird dieses spezialisierte Produkt weltweit verkauft. Das ist die Grundlage des Wohlstands des Dorfes, in dem dieser Mittelständler zuhause ist. Insofern glaube ich auch nicht, dass die Globalisierung insgesamt rückgängig gemacht wird. Sie wird vielleicht weniger stark wachsen, wir werden vielleicht ein leichtes Abdämpfen des Globalisierungstrends haben, aber dass wir damit aufhören, international Dinge zu kaufen und zu verkaufen, das kann ich mir nicht vorstellen.

Und wie könnte man den vielkritisierten Leistungsbilanzüberschuss in den Griff bekommen?

Dieses Problem hat viel mit unserem Unternehmenssektor zu tun, der nicht ausreichend in der Heimat investiert – normalerweise ist das ja der Sektor in der Ökonomie, der Ersparnisse absorbiert und investiert. Wenn wir die Bedingungen dafür verbessern wollen, mehr im Inland zu investieren, müssen wir aber auch den Staat in den Blick nehmen. Denn der hat seine Investitionen über einen sehr langen Zeitraum zurückgefahren. Da viele staatliche Investitionen komplementär sind, die Unternehmen sie also brauchen, um einen Anreiz zu haben, hier zu investieren, beeinflussen sie auch private Investitionen. Da muss von allen mehr kommen, sei es beim Humankapital, bei den Ausbildungssystemen, bei der Digitalisierungsinfrastruktur und vor allem beim Klima.

Gerade bei der Klimawende wird die Frage des Investitionsaufwands diskutiert. In welcher Größenordnung wird sich das nach Ihrer Einschätzung bewegen?

Der Bedarf an zusätzlichen Investitionen für die Klimawende in der Europäischen Union liegt derzeit geschätzt bei 360 Milliarden Euro pro Jahr. Mit anderen Worten: Wir investieren derzeit im Transport- und Energiesystem der EU um die 700 Milliarden, und die Zahl müsste auf über 1000 Milliarden Euro pro Jahr steigen, damit das erklärte Ziel erreicht wird, die Emissionen bis 2030 um 55 Prozent im Vergleich zum Jahr 1990 zu reduzieren. Wir reden also von einer zusätzlichen Investitionssumme von fast 2 Prozent des gesamten EU-Bruttoinlandsprodukts – mindestens. Rund ein Viertel davon wird durch die ­öffentliche Hand getragen.

Können wir uns das leisten?

Die meisten EU-Staaten können diese Kosten stemmen, auch über Verschuldung. Was den Privatsektor angeht, so hängt viel davon ab, ob sich die Investitionen rentieren – und das wiederum hat mit dem Preis für fossile Brennstoffe zu tun. Wenn die Preise auf dem derzeitigen hohen Niveau bleiben, dann werden Unternehmen und Haushalte diese Investitionen in den kommenden Jahren tätigen. Volkswirtschaftlich können wir uns das auf jeden Fall leisten, denn Deutschland hat jede Menge Überschussersparnisse pro Jahr. Im Grunde sind das genau die Investitionen, die wir brauchen, um unsere Leistungsbilanz herunterzubringen. Und die Kosten für Batteriespeicherkapazität oder für Wind- und Solarenergie fallen seit Jahren enorm. Die Energiewende ist also nicht nur finanzierbar geworden, sie ist mittlerweile sogar profitabel.

Dass die Energiewende immer günstiger wird, verdanken wir Importen aus China. Nun hat allerdings der Glaube da­ran, dass sich Länder wie Russland oder China durch Vernetzung und Handel liberalisieren könnten, zuletzt einen herben Dämpfer bekommen. Was bedeutet das für unseren Umgang mit Peking?

„Wandel durch Handel“ ist zweifellos gescheitert. Ich glaube aber im Umkehrschluss auch nicht, dass wir einen Wandel dadurch erreichen können, dass wir den Handel ganz einstellen. Dafür ist selbst die Europäische Union als Ganzes mittlerweile nicht mehr wichtig genug. ­Chinas politisches System mag uns gefallen oder nicht – mir gefällt es nicht. Aber die Vorstellung, dass wir von außen ein Riesenland mit 1,4 Milliarden Menschen, mit langen Traditionen und etablierten Machtstrukturen beeinflussen können, halte ich für illusorisch. Übrigens möchte ich darauf hinweisen, dass selbst unser Verständnis von China rudimentär ist, wir müssen in China-Expertise investieren.

Wie sollen wir uns künftig gegenüber Russland verhalten, mit oder ohne Wladimir Putin?

Ein Russland mit Putin hätte auf keinen Fall mehr einen Platz in Europa, so bitter das für das Land auch wäre. Meine Hoffnung wäre natürlich, dass ein Russland nach Putin sich wandelt, demokratisiert und ein ganz anderes Land wird, aber ich glaube, wir sollten uns klar machen, dass die Traditionen nicht unbedingt in diese Richtung weisen. Russland ist seit Jahrhunderten ein imperiales Land. Zurzeit wird es von einem KGB-Offizier regiert, der früher dafür gesorgt hat, dass der DDR-­Unrechtsstaat aufrechterhalten wurde. Wenn wir auf die Ereignisse im Kalten Krieg schauen, auf Prag, auf Budapest, auf Warschau oder später nach Tschetschenien, Georgien und jetzt in die Ukraine, dann zeigt sich ein klares Muster. Wir haben uns da viel zu lange etwas vorgemacht.

Manche sprechen von einem Wirtschaftskrieg gegen Russland. Glauben Sie, dieser Krieg wird weitergehen, solange sich Russland aggressiv nach außen gebiert? Oder gibt es einen Punkt, zu dem man sich arrangieren könnte, wie es sich ja manche in Deutschland erhoffen?

Ich wäre da skeptisch. Nehmen Sie die Unternehmen, die sich schon aus Russland zurückgezogen haben: Das ist ein „Who is Who“ der internationalen westlichen Wirtschaftselite. Beim Öl und Gas ist es bekanntlich das klar erklärte Ziel, die Zusammenarbeit ganz zu beenden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es sich für ein Unternehmen aus einer rein geschäftlichen Perspektive auszahlt, in Putins Russland wieder aktiv zu werden. Dafür ist der zivilgesellschaftliche Druck mittlerweile zu groß – selbst in Deutschland, wo die Vertreter des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft und andere immer wieder dafür plädiert haben, irgendwie zu einer Zusammenarbeit mit Moskau zu finden.

Sie sprachen eingangs davon, dass Sie keine Tendenz zu einer Deglobalisierung sehen. Zumindest Russland aber würde dann doch quasi ausgesperrt, zumindest aus der Vernetzung mit den USA und Europa, richtig?

Derzeit besteht ja noch die Hoffnung, dass die Maßnahmen irgendwann zu einem Umdenken in Russland führen und vielleicht in ein anderes politisches System münden. Denn eine vollständige Abwendung vom Westen und eine stärkere Orientierung Richtung China kann eigentlich nicht im Interesse Moskaus sein. Russland würde dadurch ein kleiner Staat, der abhängig ist von einem sehr großen Markt im Süden. Das wäre eine ausgesprochen riskante Strategie.

Und wenn die Maßnahmen nicht fruchten und sich die Haltungen in Moskau und Peking verhärten?

Dann könnten wir ein Szenario erleben, das sich nicht als Deglobalisierung beschreiben ließe, aber doch als Globalisierung mit zwei großen Polen: Der eine ist China und der andere der Atlantik, also die USA und Europa. Die große strategische Frage wäre in einem solchen Szenario für mich: In welchem Maße gelingt es Deutschland und der EU, sich Märkte in Asien zu erschließen? Ich würde dafür plädieren, nicht alle chinesischen Vorgaben wie die Seidenstraßen-Initiative kritiklos zu akzeptieren, sondern sich auf den an­deren asiatischen Wachstumsmärkten aktiv um Handelsabkommen zu bemühen.

Kommen wir nochmal zu den Illusionen der deutschen Russland-Politik der vergangenen Jahre und die Rolle der Thinktanks. Daten zu Russland, Einschätzungen der Expertinnen und Experten: Das war ja alles da. Es gab offenbar kein Analyse-, sondern eher ein Umsetzungsdefizit, und zwar ein gravierendes. Was macht Sie optimistisch, dass die Bereitschaft der Politik steigt, sich nicht nur beraten zu lassen, sondern die Empfehlungen auch umzusetzen?

Ich teile Ihren Eindruck, dass es ausgezeichnete Analysen gab, in denen spätestens seit 2014 deutlich darauf hingewiesen wurde, in welche Richtung sich die russische Politik unter Putin entwickelte. Aber es waren doch sehr spezialisierte Artikel, die vielleicht nicht in ausreichendem Maße in die breite Öffentlichkeit getragen wurden – was auch damit zu tun haben mag, dass sich die Medien gern darauf beschränken, dem aktuellen Trend zu folgen; es ist schwer, da Gehör zu finden. Meine Erfahrung ist aber grundsätzlich, dass Politik durchaus sehr stark auf externe Zwänge und Meinungen reagiert. Es bleibt daher wichtig, Wissen bereitzustellen und Alarm zu schlagen, wenn man Fehlentwicklungen beobachtet. Und da geht es nicht nur um ein paar Spitzenpolitiker, die ihre Entscheidungen treffen, sondern um die ganze Gesellschaft. Wir leben in einer enorm informations- und analysehungrigen Welt. Die Menschen wollen wissen, was passiert, und sie holen sich ihre Informationen viel zu oft von mehr oder weniger zweifelhaften Quellen. Wenn es aber eine Quelle gibt, die glaubwürdig und unabhängig ist, bei der man darauf vertrauen darf, dass alle Fakten, alle Zahlen gecheckt werden, bevor sie rausgehen: Dann wird diese Information enorm nachgefragt.

Welche besondere Rolle kann die DGAP in diesem Prozess spielen?

Ich glaube, es gibt in Deutschland keine andere Institution, die verschiedene Themen in dieser Breite behandeln und verknüpfen kann. Nehmen wir das Beispiel Klima: Natürlich gibt es ausgezeichnete Klimaforschungsinstitute in Deutschland, aber die Verknüpfung von Klima- und Außenpolitik findet nicht so häufig statt. Oder die Wirtschaftspolitik: Natürlich gibt es eine Menge herausragender wirtschaftspolitischer Institute in Deutschland, aber wo werden eigentlich Wirtschafts-, Klima-, Außen- oder Technologiepolitik zusammengedacht? Da sehe ich eine große Chance für einen Thinktank wie die DGAP.



Die Fragen stellten Martin Bialecki, Henning Hoff, Anna-Sophie Humer-Hager und Joachim Staron.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2022, S. 60-65

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