Titelthema

24. Apr. 2023

„Es braucht eine Politik, die auf Wissenstransfer und Kooperation setzt“

Wer stets nur kurzfristig Getreidesäcke liefert, statt Getreidesilos zu bauen, wird das Problem des Hungers in der Welt nicht dauerhaft lösen, so Bundesagrarminister Cem Özdemir im Gespräch mit der IP: „Unser Ziel muss die Ernährungssouveränität des Globalen Südens sein.“

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Bild: Porträit von Bundesminister Cem Özdemir
Cem Özdemir ist seit Ende 2021 Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft. Der Grünen-Politiker wurde 1994 erstmals in den Deutschen Bundestag gewählt, war Abgeordneter im Europäischen Parlament und von 2008 bis 2018 Bundesvorsitzender seiner Partei.
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IP: Das Thema Ernährungssicherheit steht auf der Agenda vieler großer Konferenzen, bei UN, G7, bei der Münchner Sicherheitskonferenz. ­Warum ist das so ein wichtiges Thema?

Cem Özdemir: Es gibt das Menschenrecht auf angemessene Nahrung. Die Weltgemeinschaft hat sich das Ziel gesetzt, den Hunger bis 2030 zu beenden. Das sind gerade mal noch acht Ernten. Ob wir das erreichen werden, ist durch die Corona-Pandemie, die sich verschärfende Klima- und Biodiversitätskrise, aber auch durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht gerade wahrscheinlicher geworden. Trotzdem müssen wir alles dafür tun. Man kann die Antwort auf diese Frage also vom Menschenrecht herleiten. Aber man kann sie auch ganz einfach mit Eigeninteresse begründen: Länder, in denen die Menschen genug zu essen haben, sind politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich stabiler. Das ist die Grundlage, damit die Menschen eine Zukunft in ihrem Land haben. Also liegt es in unserem Interesse, dass wir auf einem Planeten leben, wo alle Menschen abends satt ins Bett gehen.



Wir leben in einer Zeit multipler Krisen. Wie kann trotzdem die Versorgung mit ­Lebensmitteln ­gewährleistet werden?

Heute überlagern sich so viele verschiedene Krisen wie wohl nie zuvor. Einfache Wege gibt es nicht. Manche wollen in Deutschland und Europa den Klima-, Arten- und Umweltschutz streichen, um mehr Weizen produzieren und exportieren zu können. Das macht für mich keinen Sinn. Krisen löst man nicht, indem man andere verschärft! In der Konsequenz würden wir zudem bestehende Abhängigkeiten verschärfen, die Produktivität im Globalen Süden würde weiter sinken. In Brasilien und Kolumbien, wo ich im März mit Vizekanzler Robert Habeck war, wird die Verbindung der ­ökologischen, ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeit als selbstverständliches Muss wahr­genommen. Dort schüttelt man über solche Ideen den Kopf.



Mein Weg wäre folgender: Wir müssen dauerhaft Getreidesilos bauen, statt immer kurzfristig Getreidesäcke zu liefern. Es ist natürlich klar, dass man in akuter Not hilft. Aber diese Hilfe kann nur eine akute sein, denn sie löst die zugrundeliegenden Probleme nicht. Unser Ziel muss die Ernährungssouveränität des Globalen Südens sein. Dazu braucht es einerseits die nötige Infrastruktur vor Ort, damit Ernten auch sicher gelagert und transportiert werden können. Mancherorts gehen aufgrund fehlender Straßen, Lager und Kühlketten bis zu 50 Prozent der Erträge verloren. Andererseits, und das ist mir wichtig: Wir brauchen Wissenstransfer und Koopera­tion, damit die Menschen vor Ort erfolgreich mehr Nahrung produzieren können – und das heißt auf Nachhaltigkeit und Resilienz ausgerichtet. Das ist eine Politik der freundschaftlichen Partnerschaft, die darauf setzt, dass etwa kleinbäuerliche Strukturen im Globalen Süden gestärkt werden. Sie ernähren weit mehr als die Hälfte der Menschheit! Zu dieser Politik gehört, dass wir mehr über Maniok, Hirse und über klimaangepasste Pflanzen reden, die unter erschwerten Klimabedingungen eher klarkommen.



Ernährungssicherheit darf kein Spielball der freien Marktkräfte sein. Welche Rolle spielen große Agrarunternehmen?

Nur offene Märkte und ein freier, regelbasierter Handel sichern Ernährung für alle. Wie verletzlich dieses globale System ist, hat der schreckliche Krieg Putins gegen die Ukraine gezeigt. Die Folge war eine krasse Marktverunsicherung, die Weizenpreise sind in die Höhe geschossen. Was die Agrarunternehmen betrifft: Selbstverständlich sind sie wichtig und sie leisten auch einen Beitrag zur Forschung und zum Wissenstransfer. Aber es kann nicht richtig sein, dass sie ein Informationsmonopol haben. Denken Sie beispielsweise an die Frage des Umgangs mit Pestiziden. Ich habe angewiesen, dass Pestizide, deren Einsatz bei uns verboten ist, weil sie gesundheitsschädlich sind, nicht in die Länder des Globalen Südens exportiert werden. Es braucht unabhängige staatliche Institutionen, die Wissen vermitteln. Dabei versuchen wir zu helfen. Wir haben beispielsweise mit der Afrikanischen Union eine Zukunftspartnerschaft geschlossen. Diese Initiative, die ich im Januar mit der AU-Agrarkommissarin Josefa Sacko unterzeichnet habe, ist ein Meilenstein. Wir wollen mit unserem Wissen bei nachhaltigen Produktionssteigerungen, klimaresilienten Anbauverfahren oder lokal angepasstem Saatgut unterstützen. Ein Thema, das uns alle sehr interessieren muss, ist der Bereich der Nachernteverluste. Wenn wir es schaffen, diese zu verringern, leisten wir einen enormen Beitrag zur Ernährung der Menschheit.



Was gehört für Sie zu einer Politik auf Augenhöhe dazu?

Bezogen auf den Globalen Süden verstehe ich darunter eine Politik, die die Länder als gleichberechtigte Partner sieht und nicht nur als Absatzmärkte für unsere Produkte. Nebenbei bemerkt: Wir im sogenannten Norden können auch von Ländern des Globalen Südens lernen. In Brasilien haben mich etwa die Ernährungsräte sehr beeindruckt.



Ich plädiere für einen Neuansatz, der auf Hilfe zur Selbsthilfe setzt. Dabei geht es um verschiedene Maßnahmen, um Infrastruktur, Wissenstransfer, um die Stärkung der Rolle der Frau und von jungen Menschen in der Landwirtschaft. Aber es geht auch um Korruptionsbekämpfung und Good Governance. Beim Global Forum for Food and Agriculture, das mein Ministerium am Rande der Grünen Woche in Berlin organisiert, haben sich eben nicht nur rund 70 Agrarministerinnen und Agrarminister und internationale Organisationen getroffen, sondern wir hatten auch junge Bäuerinnen und Bauern am Tisch sitzen. Sie zu stärken – ganz besonders die Frauen –, ihnen Recht auf Land und Zugang zu Saatgut zu geben, das ist die Zukunft der Landwirtschaft. Ihnen eine Stimme zu geben, sehe ich auch als Aufgabe.



Weltweit werden jährlich fast 800 Milliarden Dollar für Agrarsubventionen ausgegeben. Aber die gehen eher in die industrielle Landwirtschaft.

Genau deshalb wollen wir in der EU einen Umbau, der die Themen Umwelt und Gemeinwohl stärker berücksichtigt: öffentliches Geld für öffentliche Leistungen. Wir versuchen, die Agrarpolitik, die ich geerbt habe, so umzubauen, dass sie so ökologisch und nachhaltig wie möglich ausgerichtet ist – und dass sich Gemeinwohl­leistungen für Landwirtinnen und Landwirte am Ende des Tages rechnen. Wir schauen uns natürlich auch an, welche Rolle Exporte spielen. Wir wissen, dass unsere Exportpolitik dazu beigetragen hat, dass Produkte aus unseren Ländern aufgrund der niedrigen Produktions- und Transportkosten zum Teil deutlich billiger sind als die Produkte, die afrikanische Bäuerinnen und Bauern herstellen. Das hat doppelt negative Konsequenzen: Wir machen heimische Märkte kaputt und das führt dazu, dass Menschen ihre Existenzgrundlage verlieren und ihrer Heimat den Rücken kehren müssen. Und wenn sie dann als Flüchtlinge zu uns kommen wollen, ist es uns auch nicht recht.



Weltweit wird viel Getreide angebaut, aber ein großer Teil landet nicht auf dem Teller, sondern im Tank oder Trog. Wie sieht da die Zukunft aus?

Wir sollten unsere Anbauflächen primär für die Ernährung von Menschen nutzen. In Deutschland wird weniger als ein Viertel des Getreides als Nahrung genutzt, über die Hälfte endet als Tierfutter und fast ein Zehntel wird zu Biokraftstoffen umgewandelt. Im Pkw-Bereich liegt die Zukunft in der Elektromobilität, nicht im Biosprit. Marktteilnehmer müssen sich natürlich darauf einstellen können, es macht also Sinn, das bis 2030 auslaufen zu lassen.



Der zweite Punkt ist der Umbau der Tierhaltung. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, insgesamt weniger Tiere besser zu halten. Dies dient nicht nur dem Tierschutz, weil diese dann mehr Platz haben, oder dem Verbraucherschutz, weil es eine staatliche Haltungskennzeichnung gibt, sondern auch dem Klimaschutz: Geringere Tierbestände würden einen Beitrag zur Flächengewinnung für die menschliche Ernährung leisten – in Deutschland, aber auch global. Und wir wären weniger angewiesen auf Sojaeinfuhren, beispiels­weise aus Brasilien, von Flächen, wo früher einmal Regenwald stand. Ein Umbau hat also nationale und globale Auswirkungen.



Viele Landwirte fürchten zu hohe Umweltstandards. Wie lässt sich der Zusammenhang „gesundes Klima – gesunde Landwirtschaft“ besser vermitteln?

Ihre größte Sorge ist: Gehen wir einen Sonderweg? Haben wir Standards, die andere so nicht haben und sind damit unsere Produkte weniger konkurrenzfähig? Ich denke, darin liegt auch eine Chance. Deshalb kämpfe ich ja zugleich für eine Herkunftskennzeichnung, damit Verbraucherinnen und Verbraucher beim Einkaufen erkennen, ob es sich etwa um Fleisch aus Deutschland oder einem anderen Land handelt.



Wie sieht es da in anderen Ländern aus?

Am besten wäre es natürlich, wenn wir ­einen europäischen Ordnungsrahmen hätten. Aber wenn es den noch nicht gibt, darf das keine Entschuldigung für uns sein, nicht in jenen Bereichen voranzugehen, in denen wir das national können – aber immer mit Maß und Mitte.



Hier möchte ich nochmal das Thema Pestizide ansprechen: Wir teilen das Ziel der EU-Kommission, den Pestizideinsatz bis 2030 zu halbieren, Stichwort Artenschutz. Die Umsetzung muss aber gewährleisten, dass es auch künftig noch Weinanbau in Deutschland gibt. Denken Sie an unsere tollen Streuobstwiesen. Dabei hilft zum Beispiel die Digitalisierung, das Precision Farming, um Pestizide und Dünger effektiver einzusetzen. Auch der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die gestiegenen Düngerpreise haben dazu beigetragen, dass man heute viel sparsamer damit umgeht, weil sonst die Kosten viel zu hoch wären. Gleichzeitig leisten wir so einen Beitrag zum Klima- und ­Umweltschutz.



Schauen wir auf die nachhaltigen Entwicklungsziele, insbesondere auf SDG 2 zur Beendigung des Hungers bis 2030. Läuft uns da die Zeit davon?

Das gehört sicherlich zu den drängendsten Aufgaben der Menschheit. Wenn wir das nicht schaffen, dann haben wir als Politiker, aber auch als Menschheit insgesamt versagt. Bereits vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hungerten bis zu 828 Millionen Menschen weltweit, das sind ungefähr 10 Prozent der ­Bevölkerung. Hinzu kommt, dass 2,3 Milliarden Menschen von Ernährungsunsicherheit betroffen sind. All das zwingt uns, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um das Recht auf angemessene Nahrung zu verwirklichen.



Wie kann das gelingen?

Wir haben dabei wieder neue Partner. Ich erinnere an die Lula-Regierung, die eine der erfolgreichsten auf diesem Weg war. Als ich kürzlich in Brasilien war, habe ich mir das Schulverpflegungsprogramm angeschaut. In einer Schule erzählte die Schulleiterin, dass es für 20 Prozent der Kinder das einzige Essen sei, das sie am Tag bekommen, obwohl diese Einrichtung in einem besseren Stadtteil liegt. In der Schule, in der sie zuvor arbeitete, waren es 90 Prozent ... Was Brasilien großartig macht – und davon können wir alle, auch in Deutschland lernen –, ist, dass man diese Angebote verbindet. So müssen die Kinder in der Schule und auch beim Kinderarzt erscheinen. Zudem wird gezielt die regionale Landwirtschaft gefördert. Das ist eine moderne Art der Armuts- und ­Hungerbekämpfung.



Wir haben in Brasilien eine enge Kooperation vereinbart. Auch hier geht es um Wissenstransfer. Brasilien will 50 Millionen Hektar degradierter Fläche, die früher mal Regenwald war und durch Viehhaltung weitestgehend kaputtgegangen ist, als Ackerland wieder nutzbar machen – vor allem für kleine Familienunternehmen. Das sind diejenigen, die dazu beitragen sollen, dass 30 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer nicht mehr hungern müssen. Wir werden dabei wo immer möglich partnerschaftlich zur Seite stehen.



Seit vielen Jahrzehnten schon wird versprochen, den Hunger in der Welt zu ­beenden. Doch geschehen ist bislang wenig. Woran liegt’s?

Sie haben recht. Wir haben viel versprochen und wenig davon gehalten. Ehrlicherweise muss man sagen, das liegt nicht nur am Norden, sondern es liegt eben auch daran, dass man die Partner braucht. Brasilien fiel de facto die letzten vier Jahre aus und ist einen entgegengesetzten Kurs gefahren. Jetzt haben wir dort wieder Partner. Deshalb haben Robert Habeck und ich bei unserem Besuch dort auch das schwierige Thema Mercosur angepackt und gesagt, dass wir die Frage der wirtschaftlichen Zusammenarbeit nicht China überlassen wollen. China geht es weder um Hungerbekämpfung, eine eigenständige Entwicklung der Länder noch um den Schutz des Regenwalds. Aber uns muss es darum gehen. Also sollten wir darüber reden, wie wir das Abkommen zwischen EU und Mercosur verbessern können. Auch im Sinne der deutschen Landwirtschaft.



Was können Sie als deutscher Landwirtschaftsminister zur globalen Ernährungssicherheit beitragen?

Ich kann und will partnerschaftliche Zusammenarbeit mit vielen Ländern fördern. Was woanders passiert, hat auch Auswirkungen auf uns und umgekehrt. Manchmal muss ich Dinge sagen, die – wie beim Mercosur-Abkommen oder bei der Solidarität mit der Ukraine – nicht alle gerne hören. Aber ich bin überzeugt: Wenn wir der Ukraine helfen, dann helfen wir in Wirklichkeit vor allem uns selbst. Deshalb sage ich ganz klar: Auch der deutsche Landwirtschaftsminister hat die Aufgabe, zur Stabilität der Welt, zur Stärkung liberaler Demokratien, zum Recht auf Nahrung und zum Kampf gegen die Klimakrise beizutragen. Ernährung sichert Frieden!



Das Interview führten Martin Bialecki, Uta Kuhlmann, Joachim Staron und Louisa Warth.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2023, S. 25-29

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