Unterm Radar

29. Apr. 2024

Emissionshandel der EU: ein Flaggschiff der Klimapolitik

Der EU-Emissionshandel ist für die Dekarbonisierung der Wirtschaft von zentraler Bedeutung. Denn auf dem Weg zur „Netto-Null“ braucht es die richtigen Anreize, um den Wandel zu vollziehen – und die Folgen für die Bevölkerungen abzufedern.

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Bild: Flugzeug der Airline Lufthansa
Der Flugverkehr in Europa ist seit 2012 Teil des Europäischen Emissionshandelssystems. Bis Ende 2022 wurde der Ausstoß aller regulierten Sektoren, darunter auch Industrie und Elektrizität, im Vergleich zu 2005 um rund 45 Prozent gesenkt.
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Zum Gegenstand wirtschaftlicher Entscheidungen machen, was sonst keinen Markt hat: Das ist die Idee hinter dem Europäischen Emissionshandelssystem (EU-EHS). 2005 trat es in Kraft, heute ist es das Flaggschiff der EU-Klimapolitik – und nach dem chinesischen EHS der weltweit zweitgrößte Emissionsmarkt. Es entfaltet seine Wirkung in allen Mitgliedstaaten von EU und EFTA, deckt rund 10 000 Emissionsquellen mit 38 Prozent der jährlich emittierten Treibhausgase ab und beeinflusst die Konsumentscheidungen von rund 463 Millionen Menschen. 

Das EU-EHS ist ein Markt für Emissionsrechte (European Union Allowance, EUA), die jeweils zum Ausstoß einer Tonne CO2-Äquivalent berechtigen und so zu einem Produktionsfaktor von emittierenden Unternehmen werden. Die entstehende Nachfrage trifft auf eine Obergrenze, die sogenannte Cap – das von der EU definierte, im Einklang mit den Klimazielen sinkende An­gebot an EUAs. Bei Auktionen und auf Sekundärmärkten kommt es zur Preisbildung und damit zum zentralen Kriterium für Investitions-, Produktions- oder auch Standortentscheidungen regulierter Unternehmen. Nach einem Höchststand von 104 Euro im Februar 2023 schwankte der Preis zuletzt zwischen 55 und 70 Euro. Bis Ende 2022 wurde der Ausstoß der regulierten Sektoren (Industrie, Elektrizität, Flugverkehr) im Vergleich zu 2005 um rund 45 Prozent gesenkt, wobei der größte Anteil auf die Strom­erzeugung entfiel.

Die Dekarbonisierung der Wirtschaft braucht einen hinreichenden Handlungsanreiz. Ist der Preis für EUAs in der Wahrnehmung von Unternehmen heute und in Zukunft günstiger, als Vermeidungsbemühungen oder Veränderungen des Geschäftsmodells kosten würden, bleibt der Anreiz zum Wandel aus. Ein Beispiel für die Wirkung des CO2-Preises ist der Einfluss auf die relativen Preise von Kohle und Gas, der, je nach zugrundeliegenden Rohstoffpreisen, zu einer Verdrängung von Kohlekraftwerken aus dem Strommarkt führt und Investitionen in andere Kraftwerksarten lenkt. 

Im Zuge der „Fit-for-55“-Reformen (die EU will bis 2030 die ­­Netto-CO2-Emissionen um mindestens 55 Prozent senken) begann 2023 das jüngste Kapitel für das Emissionshandelssystem, das auf die Seeschifffahrt und perspektivisch auf die Müllverbrennung ausgeweitet wird. Zudem wird ab 2027 ein zweites System (EU-EHS-2) den Wärme- und Verkehrssektor bepreisen. Bis 2030 werden somit rund 75 Prozent der in Europa anfallenden Emissionen durch die beiden Handelssysteme ein Preisschild erhalten.


Entgegen der Marktlogik

Infolge des krisenbedingten Nachfragerückgangs ab 2008 und anderer, die Knappheit reduzierender Faktoren stagnierte der Preis für Emissionsrechte lange zwischen fünf und zehn Euro. Um dem zu begegnen, wurde 2019 die Marktstabilitätsreserve (MSR) eingeführt. Sie ist ein Mechanismus, der anhand der Menge ungenutzter und von Firmen gehaltener EUAs das Angebot bei Auktionen reduziert, die Menge aufnimmt und somit die Liquidität des Marktes senkt – je höher der Vorrat der Unternehmen, desto größer die Intervention. Die Aufnahmekapazität der MSR wurde 2023 begrenzt, sodass bereits 2,5 Milliarden überschüssige EUAs dem Angebot dauerhaft entzogen und gelöscht wurden. Somit verknappt die MSR das ­Angebot des Systems zusätzlich zur sinkenden Cap. 

Die MSR ist jedoch problematisch, weil sie andere klimapolitische Instrumente torpediert. Da sie sich nicht am Preis, sondern am EUA-Vorrat der Unternehmen orientiert, reagiert sie auf Nachfrageänderungen, die durch angepasste Erwartungen entstehen, entgegen der Logik jedes normalen Gütermarkts. Wird also in Zukunft eine weitere ­Verschärfung der Klimaziele erwartet, halten Unternehmen heute schon mehr EUAs vor und der Preis steigt. Und die MSR nimmt in diesem Fall mehr EUAs vom Markt und verschärft dadurch den Preisdruck.

Andersherum gilt dies auch für Maßnahmen, die die zukünftige Nachfrage und damit die heutige Lagerhaltung senken, wie ein nationaler Kohleausstieg oder umfangreiche Subventionen für emissionsärmere Produktionsmethoden. Dann verknappt die MSR das Angebot nicht, sondern verursacht unter Umständen sogar eine Ausweitung, da sie weniger EUAs aufnimmt und stilllegt. Die MSR hindert das EU-EHS daran, Kohärenz und Transparenz für die Wirkung überlappender klimapolitischer Maßnahmen herzustellen oder diese zu steuern und sorgt mithin für Ineffizienz und höhere Kosten der Emissionsvermeidung.


Die soziale Dimension

Das EU-EHS ist auch fiskalpolitisch ein interessantes Instrument. Die Einnahmen aus Auktionen beliefen sich 2022 auf rund 39 Milliarden Euro, wovon 76,5 Prozent direkt an die Mitgliedstaaten flossen und der Rest in zweckgebundene EU-Fonds. Unter dem Eindruck von Gelbwesten- und Bauernprotesten sowie infolge stark gestiegener Energiepreise ist offensichtlich, dass die Energiewende und damit auch ein CO2-Preis eine erhebliche ­soziale Dimension haben. Die Auswirkungen des Emissionshandels auf Geschäftsmodelle, ­Energie- und Güterpreise betreffen insbesondere sozial schwächere Haushalte sowie Arbeitsplätze in emissionsintensiven Branchen. Die in Deutschland diskutierte Rückvergütung der Einnahmen aus dem Emissionshandel könnte weniger wohlhabende Haushalte entlasten. Alternative Maßnahmen können Subventionen für emissionsärmere Güter, Investitionen in Infrastruktur und Mobilität, Steuerentlastungen oder Zuschüsse zu Sozialversicherungen sein. In Deutschland fließen die Erlöse bisher in den Klima- und Transformationsfonds. Auch die EU hat 2023 reagiert: Ein Teil der Einnahmen aus dem EU-EHS-2 wird dem neuen EU-Klima-­Sozialfonds zufließen, der bis 2032 rund 87 Milliarden Euro bereitstellen soll. 

Früher oder später ist jedoch mit einem Rückgang der Einnahmen zu rechnen. Wenn man bedenkt, dass Deutschland und Polen vergangenes Jahr 7,7 bzw. 5,4 Milliarden Euro aus dem EU-EHS erhielten, wird deutlich, dass politische Instrumente mit finanzieller Abhängigkeit von diesen Einnahmen so eingerichtet werden sollten, dass sie entweder anders finanziert oder bei erfolgreicher Dekarbonisierung auf niedrigere Summen zurückgeführt werden können. 

Je weiter die Dekarbonisierung der Wirtschaft voranschreitet, desto teurer wird es, noch verbleibende Emissionen zu vermeiden. Der fundamentale Trade-off zwischen der sozialen Tragfähigkeit der Transformation und der Erreichung der Klimaziele ist für die EU und ihre Mitgliedstaaten eine große Herausforderung, da ein kaum zu lösender Zielkonflikt besteht. Aktuell ist das System auf die Auswirkungen, die mit dem neuen EU-Zwischenziel der Vermeidung von 90 Prozent Emissionen bis 2040 verbunden sind, nicht vorbereitet.


Ein Blick nach vorn

Die Flexibilität und Effektivität des EU-EHS sind Garanten für effiziente Emissionsvermeidung; doch das System benötigt weitere Reformen. Es braucht einen Mechanismus zur Anpassung des Angebots, der die Wirkung von überlappenden Maßnahmen steuerbar macht; denn bei der Reform 2023 wurde das Grundproblem der MSR nicht angegangen. 

Zudem sollten Wege zur Ausweitung des EU-EHS auf weitere Sektoren gefunden werden, eine schrittweise Verschmelzung der derzeit zwei Systeme angelegt und die Integration negativer Emissionen durch technische wie biologische CO2-Abscheidung ermöglicht werden. Insbesondere bei der Verwendung von Einnahmen aus dem Emissionshandel für soziale Entlastungsmaßnahmen müssen langfristige und nachhaltige Lösungen gefunden werden. Zwar können Mechanismen zur Dämpfung von Preisanstiegen zur sozialen Verträglichkeit beitragen, doch eine sozialpolitische Flankierung der CO2-Bepreisung ist unerlässlich.

Weitet man den Blick auf die internationale Perspektive, so liegt Hoffnung in einem gelingenden europäischen Emissions­handelssystem: einerseits als Vorbild für andere Wirtschaftsräume, eigene nationale EHS einzuführen – wie 2021 China. Andererseits zur Mobilisierung von Finanzmitteln, die zur Bewältigung der Transformation eingesetzt werden können – auch in der Wirtschaftszusammen­arbeit und Entwicklungspolitik. 

Ein EHS ist zudem ein anschlussfähiges Instrument. Sofern die notwendige Kohäsion geschaffen wird, kann, wie bereits mit der Schweiz 2020 geschehen, das EU-EHS z.B. mit dem britischen Markt verbunden werden. Ein globaler Verbund von EHS gemäß Art. 6 des Pariser Übereinkommens könnte erhebliche Lenkungswirkung entfalten. Gemeinsam mit dem neuen CO2-Zollinstrument der EU „CBAM“ kann das EU-EHS der Grundstein für einen „Klimaklub“ mit harmonisierten Emissionspreisen und einem gemein­samen Deckel auf den Ausstoß von Treibhausgasen werden.

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Flaggschiff der Klimapolitik“ erschienen.   

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2024, S. 12-14

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Dr. Maximilian Willner ist Umweltökonom und forscht zum Emissionshandel und anderen Instrumenten der Klimapolitik an der Universität Hamburg.

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