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15. Juni 2016

Eine Krise unter vielen

Für Paris haben Flüchtlinge und Migranten eine geringere Priorität als für Berlin – mit Folgen

Frankreich betrachtet die Flüchtlingskrise aus einem anderen Blickwinkel als sein Nachbar – als eher deutsches denn europäisches Problem – und argumentiert, man unternehme in anderen Bereichen schon genug. Das Beispiel zeigt: Die Krise durch „europäische Solidarität“ zu lösen wird nicht leicht.

Die Flüchtlingskrise bestimmt seit deinem Jahr die deutsche Politik und beansprucht die gesellschaftlichen und politischen Kräfte des Landes beansprucht. Auf Frankreich, Deutschlands engsten Partner, scheint sie dagegen geringe Auswirkungen zu haben. Allerdings unterscheidet sich die Situation beiderseits des Rheins: Laut Eurostat wurden in Frankreich 2015 nur 70 600 Asylanträge gestellt, verglichen mit 441 800 in Deutschland; die Zahl von Asylsuchenden stieg auch in Frankreich an, allerdings nur um 20 Prozent gegenüber 2014.

Diese faktische Asymmetrie ist verbunden mit einer Asymmetrie in der Wahrnehmung der Krise, die erhebliche Unterschiede in der Interpretation mit sich bringt. Dies spiegelt sich wider in der Sprache der öffentlichen Debatte: anstelle der "Flüchtlingskrise", wie sie in Deutschland diskutiert wird, sprechen die Franzosen eher über eine „Migrations-“ oder „Migrantenkrise“.[1]

Die Wortwahl ist vielsagend. Sie deutet nicht nur darauf hin, wie die Krise verstanden wird, sondern hat auch erheblichen Einfluss darauf, wie auf sie reagiert wird. Der Begriff „Migration“ bezeichnet freiwillige Einwanderung, die aufgrund von wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Gründen gewählt wurde. Der humanitäre Aspekt der Krise und die Dringlichkeit, die dem Begriff „Flüchtling“ innewohnt, ist damit zugunsten anderer Beweggründe, das Herkunftsland zu verlassen, in den Hintergrund gerückt.

Ebenso ist der Grundgedanke der Definition von Flüchtling der Genfer Konvention, dass das Ankunftsland verfolgten Personen Asyl gewähren muss, mit dem Begriff „Migrant“ ausgeklammert. In einem Land, in dem die radikale und extreme Rechte bei Wahlen gut abschneidet und ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung Zuwanderung prinzipiell ablehnt, rufen Neuankömmlinge in großer Zahl Angst und Misstrauen hervor. Unter diesen Umständen ist es wenig überraschend, dass eine breite Mehrheit der Franzosen in Umfragen die Aufnahme von mehr Migranten bzw. Flüchtlingen ablehnt: Durchschnittlich sind 58 Prozent dagegen, 78 Prozent sind es unter den Geringqualifizierten.[2]

Zerrissen zwischen Stolz und Scham

Bei dieser Zurückhaltung, mehr Flüchtlingen Asyl zu gewähren, schwingt dennoch eine Art schlechtes Gewissen mit, nicht mehr zu tun, was hauptsächlich in politischen Kreisen der Linken zu finden ist. Während einer Debatte im Senat im September 2015 hoben mehrere Senatoren Frankreichs lange Tradition als Zufluchtsort und Einwanderungsland hervor. Doch gaben sie gleichzeitig zu, „zwischen Stolz und Scham zerrissen zu sein“,[3] wie es der Sozialist Didier Guillaume formulierte.

Der Narrativ Frankreichs moralischer Größe, oft in empathischer Rhetorik formuliert, ist praktisch obligatorisch für die politische Führung des Landes.[4] Premierminister Manuel Valls verwies darauf in einer Rede an die Nationalversammlung am 16. September 2015, in der er den Wunsch äußerte, dass Frankreich „in den Augen der Welt ein Leuchtturm sein soll, der auch im Sturm nicht wankt und der Verblendung und dem einfachen Weg widerstehen kann“.[5]

Das hielt ihn nicht davon ab, sich zugleich auf Prinzipien wie „Klarheit“ und „Standfestigkeit“ zu berufen oder auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2016 zu verkünden, dass Frankreich nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen könne. So eine Haltung mag paradox erscheinen, doch es spiegelt das Spannungsfeld wider zwischen einer idealisierten Wahrnehmung Frankreichs als ein Land der Menschenrechte und dem Gefühl, nicht anders handeln zu können angesichts der aktuellen Verwundbarkeit des Landes.

Tatsächlich ist die vorherrschende Meinung, dass die Flüchtlings- bzw. Migrationskrise nur eine Krise unter vielen ist und bei weitem nicht die schwerste. Die Bevölkerung ist vielmehr mit zwei anderen Krisen beschäftigt, die erhebliche politische Ressourcen des Landes beanspruchen: die Wirtschafts- und Sozialkrise sowie die Krise der inneren Sicherheit durch den Terrorismus.

Eine Ende 2015 durchgeführte Umfrage unterstreicht diese Rangfolge der Besorgnisse. Arbeitslosigkeit, die gerade unter den jungen Leuten nach wie vor sehr hoch ist, ist das Hauptanliegen der Befragten (77 Prozent), dicht gefolgt vom Kampf gegen den Terrorismus (75 Prozent). Die anderen geäußerten Sorgen, wie Zukunftsangst, Erhalt des Sozialsystems, wirtschaftliches Wachstum und Kaufkraft, sind mit diesen beiden Themen verbunden.[6] Die Flüchtlings- bzw. Migrationskrise kam dagegen nicht vor; kein Wunder also, dass sie in der öffentlichen Debatte vornehmlich durch die Prismen Wirtschaft beziehungsweise Sicherheit betrachtet wird.

Wenn die Arbeitslosenquote über 10 Prozent liegt (und unter jungen Menschen bei 25 Prozent) und die Regierung Mühe hat, den Arbeitsmarkt zu reformieren, sieht ein erheblicher Anteil der französischen Bevölkerung Neuankömmlinge als Bedrohung – als Konkurrenten um knappe Arbeitsplätze und als Belastung für die öffentlichen Haushalte. Entscheidungsträger rechtfertigen Frankreichs Zurückhaltung in der Flüchtlingspolitik regelmäßig mit einem Verweis auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes.

„Gefahr für das soziale Gleichgewicht“

Der konservative Senator Roger Karoutchi, der sich als Sprachrohr der „einfachen Leute“ versteht, errichtete folgende Hierarchie der Sorgen: „Ich kenne niemanden, der nicht von den Bildern der Migranten berührt war. Aber ich kenne auch Leute, die sich um Arbeitslosigkeit sorgen, um den Mangel an Sozialwohnungen, um die geringe Finanzkraft.“ In alarmierendem Ton fügte er hinzu: „Wir müssen uns ... vor einer Gefährdung des sozialen Gleichgewichts in Acht nehmen.“[7]

Das Unbehagen der regierenden Sozialistischen Partei ist ebenfalls spürbar. Neben dem Wunsch danach, dass Frankreich seine humanitären Pflichten erfüllt, ist sie sich dennoch bewusst, dass sie einer Sache gegenübersteht, „mit der umzugehen schwierig ist ... im aktuellen Kontext der wirtschaftlichen und sozialen Krise“,[8] wie es der Abgeordnete Gilles Savary in der Nationalversammlung Ende März formulierte. Angesichts dieses Dilemmas fordern die Sozialisten eine Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten.

Frankreich vergleicht sich häufig mit Deutschland, dessen wirtschaftliche Stärke und demografischen Probleme als günstige Umstände für eine liberale Flüchtlingspolitik gelten. Dies entlässt Paris aus französischer Sicht aus der Verantwortung und befreit es von Schuldgefühlen. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt, Deutschlands Politik als eigennützig zu deklarieren – was die populistischen Parteien rechts und links im politischen Spektrum gern tun. Während der Mitbegründer der Linken Partei, Jean-Luc Mélechon, den „Opportunismus“[9] der Kanzlerin anprangerte, beschuldigte die Vorsitzende des Front National, Marine Le Pen, Deutschland, die Grenzen zu öffnen, um „Löhne zu drücken und ... weitere Sklaven durch Massenzuwanderung zu rekrutieren“.[10]

Terrorbekämpfung hat höchste Priorität

Die zweite Krise, die die Flüchtlingsfrage überlagert oder zumindest die Art der Interpretation beeinflusst, ist die der inneren Sicherheit durch den Terrorismus. Seit die Anschläge vom Januar und November 2015 Frankreich erschütterten, hat der Kampf gegen den Terrorismus höchste Priorität und beansprucht einen erheblichen Teil der finanziellen und politischen Ressourcen. Die Polizei, die Streitkräfte und die Geheimdienste sind mit zusätzlichen Mitteln und Personal ausgestattet worden; ein Gesetz, das den Kampf gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus verstärken soll, wurde Ende Mai 2016 verabschiedet.

Diese Politik hat auch eine europäische Dimension: Paris setzt sich seit mehreren Monaten für eine schnelle Umsetzung der EU-Direktive zu Fluggastdaten (Passenger Name Record, kurz PNR) ein, die das Aufspüren und Verfolgen der Reiserouten potenzieller Terroristen vereinfachen soll. Wenn Frankreich sich bei der Aufnahme von Flüchtlingen zurückhielt, zeigte es hier Führungsstärke: Nicht nur forderte Paris die EU-Partner „dringend“[11] auf, die PNR-Direktive umzusetzen, sondern würde am liebsten noch weiter gehen – zum Beispiel mit der Schaffung einer europäischen Taskforce unter Beteiligung von Europol und europäischen Polizeikräften zur Bekämpfung von Passfälschungen.

Diese Politik wirkt sich in nicht geringem Maße auch auf die Debatte über Migrations- bzw. Flüchtlingspolitik aus. Nach der Mehrheitswahrnehmung in Frankreich existiert eine klare Verbindung zwischen Terrorismus und Migrationsbewegungen – wenn auch nur dergestalt, dass ein großer Teil der Asylsuchenden aus Ländern wie Syrien kommt, die vom so genannten Islamischen Staat bedroht sind.

Einige Politiker, vor allem aus konservativen und radikal rechten Kreisen, gehen sogar so weit, dass sie Flüchtlinge als potenzielle Terroristen ansehen, wie der republikanische Abgeordnete Pierre Lellouche, der im März anmerkte: „Es wurde bewiesen, leider, ... dass eine gewisse Zahl von Dschihadisten sich unter die Flüchtlinge gemischt hat.“[12] Wenn die Regierung sich diesem Thema nicht explizit annimmt, werden Vorbehalte in der öffentlichen Debatte weiter Raum greifen. Das Gefühl von Verletzlichkeit angesichts der terroristischen Bedrohung, das nun fest in der französischen Gesellschaft verankert ist, fördert dies.

Darüber hinaus herrscht breiter politischer Konsens darüber, dass die Konflikte in der arabischen Welt Gründe für den Terrorismus sind – und für den Zustrom von Flüchtlingen. Auch wenn die Täter der Terrorattacken französische (und belgische) Staatsbürger waren, lenken viele Politiker die Aufmerksamkeit weg von Frankreich auf die Länder südlich des Mittelmeerraums. So auch Innenminister Bernard Cazeneuve, der während der Senatsdebatte über die Aufnahme von Flüchtlingen erklärte, dass die „Migrationskrise ... ihre Ursachen in den Unruhen der Welt hat, dem Zerfall Libyens ... und der Situation im Irak“.[13]

Ungeduld mit Deutschland

Infolge dieser Interpretation hat sich die Regierung für einen proaktiven Kurs mit verstärkter militärischer Intervention im Nahen Osten und Afrika entschieden. Gegenwärtig sind französische Truppen im Irak, in Syrien, Mali und der Zentralafrikanischen Republik stationiert – was keine wirkliche innenpolitische Kontroverse auslöste.

Die weithin geteilte Auffassung, dass Frankreich sich um die Ursachen des Problems kümmert, erklärt eine gewisse Ungeduld mit Deutschland, das als zu zurückhaltend beim Engagement in der Region wahrgenommen wird. Damit erklärt sich ebenfalls Paris’ Gereiztheit gegenüber Deutschlands Aufforderungen, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. In Paris ist man der Ansicht, dass das Land durch die Auslandseinsätze bereits seinen Teil der Last trägt – mit allen Risiken, die damit verbunden sind.

Mehrere Monate lang wurde die Flüchtlings- bzw. Migrationskrise in Frankreich als „deutsche Krise“ angesehen, die man als Außenstehender betrachtete; manchmal sogar als eine von Deutschland ausgelöste Krise – ausgelöst entweder durch Eigennutz oder Naivität. Inzwischen hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass es sich um eine europäische Krise handelt, die bereits oder zukünftig auch Frankreich betreffen könnte. Trotz des wachsenden Bewusstseins bleibt die Wahrnehmung der Krise aber gekennzeichnet von einem speziellen nationalen Paradigma, so wie in allen europäischen Ländern. Im Fall Frankreichs lautet es: Sozialer Zusammenhalt und innere Sicherheit sind bedroht, das Land muss sich daher mit aller Kraft schützen.

Diese Umstände verdeutlichen, dass die deutsch-französische Vereinbarung zu Umverteilung und der Einrichtung von „Hotspots“, so wenig ambitioniert sie auch erscheinen mag, womöglich alles war, was zu dieser Zeit erreichbar war. Im Moment sind die europäischen Länder, angefangen bei Frankreich und Deutschland, nicht mit derselben Krise konfrontiert – zumindest nicht von ihren individuellen Standpunkten aus gesehen. Aus diesem Grund dürfte es auch nicht einfach werden, die Krise durch „europäische Solidarität“ zu lösen.




[1] Siehe hierzu den Beitrag von Julie Hamann: Mama Merkel und der Kriegsherr. Wie Bilder den Blick auf Terror und Flüchtlingskrise prägen, in: Claire Demesmay, Christine Pütz und Hans Stark (Hrsg.), Frankreich und Deutschland – Bilder, Stereotype, Spiegelungen. Baden-Baden, 2016, S. 217-226.

[2] BVA Umfrage für Orange und i-Télé: L’Europe et la crise des migrants, 6.3.2016.

[3] Didier Guillaume, Senatssitzung, 16.9.2015.

[4] Dies ist, was die Regierung dazu bewegt hat, das Asylgesetz vor der Flüchtlings-/Migrationskrise zu reformieren. Im Juli 2015, nach mehreren Jahren der Debatte, verabschiedet, sieht das Gesetz die Bereitstellung von zusätzlichen Plätzen in Aufnahmeeinrichtungen vor, eine Reduzierung der Verfahrenszeiten und die Achtung der Grundrechte.

[5] Manuel Valls, Sitzung der Nationalversammlung, 16.9.2015.

[6] Umfrage Harris Interactive/RTL Bilan de l’année 2015 et perspectives pour 2016, 4.1.2016.

[7] Roger Karoutchi, Senatssitzung, 16.9.2015.

[8] Gilles Savary, Sitzung der Nationalversammlung, 31.3.2016.

[9] Jean-Luc Mélenchon, France 5, 6.9.2015.

[10] Marine Le Pen, Abschlussrede bei der Sommerschule des Front National, Marseille, 6.9.2015.

[11] Bernard Cazeneuve, Informelle Versammlung der Innenminister der EU, Amsterdam, 25.1.2016.

[12] Pierre Lellouche, Sitzung der Nationalversammlung, 31.3.2016.

[13] Bernard Cazeneuve, Sitzung der Nationalversammlung, 16.9.2015.

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