Weltspiegel

27. Juni 2022

Eine Dekade für den Meeresschutz

Klimawandel, Überfischung, Plastikmüll: Wir gefährden die Ozeane. Dabei sind sie entscheidend für das Überleben der Menschheit. Höchste Zeit für einen Kurswechsel.

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Bild: Fische auf einem Kutter
Ein Drittel aller Fischbestände weltweit sind überfischt, 60 Prozent maximal genutzt. Überfischung gefährdet die Ernährungsgrundlage vieler Menschen und die biologische Vielfalt der Ökosysteme.
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Die Vereinten Nationen haben den Zeitraum 2021 bis 2030 zur Dekade der Meeresforschung für nachhaltige Entwicklung erklärt: Auf höchster internationaler Ebene sollen neue Lösungen zum Schutz der Ozeane und ihrer Nutzung umgesetzt werden. Rund 70 Prozent unseres „Blauen Planeten“ sind von Wasser bedeckt. Jeder zweite Atemzug, den wir nehmen, stammt aus dem Meer. Die Ozeane sind für die Menschheit ein wichtiger Verbündeter, sei es im Kampf gegen die Klimakrise, beim Erhalt der globalen Biodiversität und auch als zentraler wirtschaftlicher und kultureller Faktor. Doch bislang fehlt es an politischem Willen, dieses „Lebenserhaltungssystem“ ernsthaft und ausreichend zu schützen.


Politisch betrachtet ist das Meer sowohl nationales Gebiet als auch Allgemeingut. Die Bereiche des Küstenmeeres und der „Ausschließlichen Wirtschaftszone“ eines Landes können bis zu 200 Seemeilen ins Meer hineinreichen. Etwa zwei Drittel der Meeresoberfläche sind keinem Staat und keiner anderen politischen Einheit zugeordnet. Die internationalen Gebiete jenseits der 200-Seemeilen-Grenze gehören zur Hohen See und sind nach dem UN-Seerechtsübereinkommen als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ definiert.


Sowohl in nationalen als auch in internationalen Gewässern wecken das Meer und seine Ressourcen Begehrlichkeiten. Das beginnt beim Transport von Waren auf dem Seeweg, betrifft die Jagd nach Fisch, der als Allgemeingut durch die Weltmeere zieht und keine Staatengrenzen respektiert und endet bei der Suche nach wertvollen Rohstoffen in der Tiefsee. Weil sich das Meer nicht als eine politische oder wirtschaftliche Einheit betrachten lässt, gestaltet sich die Durchsetzung von politisch verhandelten Maßnahmen häufig schwierig. Obwohl zahlreiche Maßnahmenpakete für effektiven Meeresschutz entwickelt wurden, haben die wenigsten davon bislang Wirkung im Wasser entfaltet. Interessenkonflikte, fehlende Finanzierung und politischer Handel bis hin zur Handlungsunfähigkeit in internationalen Gremien setzen die Gesundheit der Ozeane und die Leistungen ihrer Ökosysteme zum Wohle von uns Menschen aufs Spiel.


Als weltweit größter Kohlenstoffspeicher haben die Ozeane in den vergangenen 200 Jahren ein Drittel des durch menschliche Aktivitäten erzeugten CO2 und 90 Prozent der zusätzlichen Wärme absorbiert, die durch die menschengemachte steigende Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre gehalten wurde. Die Wärmeaufnahme durch den Ozean stellt auf diese Weise einen Puffer bei Klimaveränderungen dar und verlangsamt die Erhitzung der Atmosphäre.


Zudem trägt das Meer zur globalen Ernährungssicherheit bei, Fisch spielt dabei eine immens wichtige Rolle. Für über 3,1 Milliarden Menschen liefert er wenigstens 20 Prozent des tierischen Eiweißes, ist aber vor allem eine wichtige Quelle von Fettsäuren und Spurenelementen. Fisch liefert heute 17 Prozent des gesamten weltweit konsumierten Proteins. Und auch sozioökonomisch ist er wichtig: Rund 500 Millionen Menschen verdienen mit und in der Fischerei ihren Lebensunterhalt.


Zusätzlich nutzen wir die Ozeane immer intensiver für den Waren- und Gütertransport. Der Seeverkehr hat sich zwischen 1992 und 2013 verdreifacht und steigt weiter. Öl und Gas werden aus den Weltmeeren gefördert, andere Rohstoffe wie Sand und Kies abgebaut. Um den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen zu ermöglichen, scheint ein massiver Ausbau der ­Offshore-Windparks unerlässlich. Und nicht zuletzt suchen Millionen von Menschen die Küstenregionen auf, um hier ihren Urlaub zu verbringen – der Tourismus ist ein riesiger Wirtschaftszweig.


Ozean in der Krise

Doch der Raubbau bringt das System, an dem die Wertschöpfung und Ernährungssicherheit der Weltgemeinschaft hängt, an den Rand des Kollapses. Die Meere werden wärmer, saurer und sauerstoffärmer. Der Verlust der Artenvielfalt schreitet im Meer deutlich schneller voran als an Land. Infolge all dessen nehmen Ökosystemleistungen, Fischbestände und die Produktivität in den Meeren fortlaufend und in dramatischer Weise ab. Die aktuellen Sachstandsberichte des Weltklimarats IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) sagen es ganz deutlich: Die Klimaerhitzung ist längst da und ihre Auswirkungen auf Menschen und Ökosysteme sind deutlich spürbar. UN-Generalsekretär António Guterres fand zur Veröffentlichung des IPCC-Berichts im Februar 2022 deutliche Worte: „Fast die Hälfte der Menschheit lebt bereits jetzt in der Gefahrenzone. Viele Ökosysteme sind bereits jetzt an dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt.“


Die Effekte der Klimaerhitzung auf Land-, Süßwasser- und Meeresökosysteme sind größer als bisher angenommen: Tropische Korallenriffe und Seetangwälder sterben ab und viele Arten verlagern ihren Lebensraum in kühlere, polnahe Gebiete. Die Kohlendioxidemissionen als zentrale Treiber der Erwärmung waren zwischen 2010 und 2019 noch höher als in jedem anderen Jahrzehnt seit Aufzeichnungsbeginn. Dabei sollten sie längst sinken.


Von den Folgen der Klimakrise sind zwar alle Ökosysteme und Regionen betroffen, besonders stark jedoch Menschen und Regionen im globalen Süden – dort, wo der Beitrag zur globalen Klimakrise besonders klein ist. Viele Fischarten ziehen aufgrund der hohen Wassertemperaturen von den Küsten weit hinaus aufs Meer oder in die Tiefe und sind damit für die hier so wichtige Kleinfischerei unerreichbar. Weniger Fisch bedeutet weniger Nahrung und Einkommen für die Menschen, die vom ­Fischfang leben. Dazu gehören vor allem die Kleinfischer, deren Arbeit die Hälfte der weltweiten ­Fischproduktion ausmacht.


Die Überfischung gilt neben der Klimaerwärmung als größter Stress für die Gesundheit der Meere. Weltweit wird mehr Fisch gefangen als natürlich nachwächst. Nach Angaben der Welternährungsorganisation sind über ein Drittel aller Fischbestände überfischt, rund 60 Prozent werden maximal genutzt. Das bedeutet: Mehr Fischerei ist hier nicht möglich – ein Problem für die wachsende Weltbevölkerung. Überfischung gefährdet nicht nur die Ernährungsgrundlage vieler Menschen, sondern auch massiv die biologische Vielfalt und Widerstandskraft der Ökosysteme. Fehlendes Management und die laxe Überwachung der Meere lassen zusätzlichen Druck durch illegale, ungemeldete und unregulierte Fischerei zu. Der weltweite Fang aus illegaler Fischerei beträgt Schätzungen zufolge bis zu 26 Millionen Tonnen Fisch pro Jahr, das sind rund 30 Prozent des jährlichen legalen Fischfangs.


Darüber hinaus bedrohen Verschmutzung durch Plastikmüll, Öl, Chemikalien oder Nährstoffen aus der Landwirtschaft sowie die fortschreitende Zerstörung von Lebensräumen durch nicht nachhaltige Nutzung in Korallenriffen, Flachmeeren, offenen Ozeanen und an den Küsten die Bestände von Meerestieren und die Funktionsfähigkeit der marinen Ökosysteme.


Alles hängt mit allem zusammen. Das gilt in besonderem Maße für die Weltmeere. Wir brauchen Lösungsansätze auf breiter Front, um den genannten Krisen zu begegnen: ambitionierten politischen Willen, der den Naturschutz auch finanziell befähigt, eine Transformation der produzierenden Industrie hin zu mehr Nachhaltigkeit und maßvollerem Konsum. Mit dem Entwicklungsziel 14 der Agenda 2030 hat sich die Weltgemeinschaft vorgenommen, die Ozeane nachhaltig zu nutzen und zu erhalten. Zehn Unterziele benennen die drängendsten Probleme wie Meeresverschmutzung, Überfischung und Lebensraumzerstörung.


Folgende sechs Hebel sind besonders wichtig, um verbindliche Schutzvorkehrungen durchzusetzen:

  • Das Klimaabkommen von Paris legt die Begrenzung der Klimaerhitzung auf deutlich unter 2°C gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter fest. Dieses Ziel ist elementar für die Gesundheit der Meere.
  • Die Konvention zum Erhalt der biologischen Vielfalt (CBD) soll die für uns Menschen lebenswichtigen Ökosysteme bewahren und das Aussterben bedrohter Arten verhindern. Im ­chinesischen Kunming soll noch 2022 ein Abkommen verhandelt werden, das die Konvention endlich umsetzen soll, denn bislang verfehlen die Verhandlungen das Ziel, den Naturverlust bis 2030 umzukehren.
  • Seit zwei Jahrzehnten ringen die Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation (WTO) um ein Abkommen zur Abschaffung schädlicher Fischereisubventionen. Massive wirtschaftliche Interessen erschweren die Verhandlungen. Fischereisubventionen sind ein wesentlicher Treiber für die Überfischung, weltweit stellen Regierungen jedes Jahr geschätzte 22 Milliarden Dollar dafür bereit. Die größten Budgets kommen dabei aus China, Japan, der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten. Mit rund 7,2 Milliarden Dollar fließt ein Drittel der Subventionen direkt an industrielle, hochseetaugliche Fangflotten, die häufig in den internationalen Meeresgebieten der Hohen See unterwegs sind, wo Fischerei besonders schwierig zu regulieren und zu kontrollieren ist. Oder die treibstoffsubventionierten Fangexpeditionen führen vor die Küsten von Ländern, denen die Mittel für die Fischereiüberwachung fehlen und wo, wie im Falle von Westafrika, insbesondere Kleinfischer unter den schrumpfenden Fischbeständen leiden. Auf Kosten von Zugangs-, Verteilungs- und Marktgerechtigkeit werden vielfach Fangrechte an Industrieländer verkauft, auch die EU ist daran beteiligt.  
    Der Abkommensentwurf sieht Sonderregelungen und Übergangsfristen vor, die es auch Entwicklungsländern ermöglichen sollen, zukunftsfähige Fischerei­strukturen aufzubauen. Etwa 90 Prozent der Fischer weltweit stammen aus Entwicklungsländern. Dass allerdings China als das Land mit der weltweit größten Fischereiflotte und mit Abstand größter Subventionsgeber in der WTO als Entwicklungsland behandelt wird, stößt auf Widerstand.
  • Ebenfalls seit Jahrzehnten wird über das UN-Abkommen zum Schutz der Hohen See verhandelt. Hier stehen den Nutzungsinteressen aus Fischerei, Rohstoffabbau und Schifffahrt kaum Schutzstatuten gegenüber. Eines der Hauptziele ist die Einrichtung von Schutzgebieten, ohne die die Bestrebungen, bis 2030 ein Drittel der Meeresfläche unter Schutz zu stellen, scheitern werden. Mehr als 50 Länder haben sich verpflichtet, den Vertrag noch in diesem Jahr abzuschließen.
  • Der Tiefseebergbau ist ein weiteres wichtiges Thema. Im UN-Seerechtsübereinkommen sind der Tiefseeboden und seine Ressourcen als gemeinsames Erbe der Menschheit definiert. Die Regulierung obliegt der Internationalen Meeresbodenbehörde. Die Tiefsee ist auf der weltweiten Suche nach neuen Rohstoffquellen ins Visier von Staaten und Unternehmen geraten. Dabei sind die Folgen und Gefahren einer etwaigen industriellen Rohstoffgewinnung nur unvollständig abschätzbar. Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Unternehmen und einzelne Staaten fordern deshalb ein Moratorium für Tiefsee­bergbau.
  • Die Reihe der hier als notwendig beschriebenen Abkommen soll mit einem Vorzeigebeispiel enden: Auf der Umweltversammlung der Vereinten Nationen (UNEA) in Nairobi beschlossen die Mitgliedstaaten im März 2022 einstimmig, die globale Plastik­krise zu lösen. Bis 2024 wird nun ein weltweit verbindlicher Vertrag ausgearbeitet, der die Plastikverschmutzung beenden soll.

 

Europäische Versäumnisse

In einem Sonderbericht kritisiert der Europäische Rechnungshof im Jahr 2020 die EU für ihre Versäumnisse im Meeresschutz. Selbstgesteckte Ziele wie der „gute Umweltzustand“ in den EU-Meeren oder das Ende der Überfischung blieben uneingelöst. Europas Meere gehören nach wie vor zu den am stärksten überfischten Regionen der Welt. Währenddessen importiert Europa knapp ein Fünftel des weltweit gehandelten Fisches. Der Zustand der Fischbestände in Europas Gewässern muss sich also deutlich verbessern, damit die Import­abhängigkeit des europäischen Marktes verringert werden kann.


Noch immer sind Fangmengen zu hoch, besonders im Mittelmeer, Schutzgebiete stellen keine Tabuzonen für die Fischerei dar, und mit Grundschleppnetzen wird der Meeresboden zerstört. Der Großteil der europäischen Meeresschutzgebiete sind nicht viel mehr als „Paper Parks“, deren Schutzwirkung nur auf dem Papier besteht.


Neben wirksamen Verboten schädlicher Nutzungen in den Schutzgebieten bräuchte es Fangquoten, die den wissenschaftlichen Empfehlungen entsprechen, zielgerichtete Fischereikontrollen, um das latent große Problem der unerwünschten Beifänge und Rückwürfe einzudämmen, sowie ein Verbot zerstörerischer Fischerei­praktiken. Bislang scheitert die Europäische Union aber schon daran, ihre eigenen Fischereigesetze zu kontrollieren.
Das Plastikabkommen zeigt: Hat das Meer politische Priorität, sind Meilensteine erreichbar. So schufen die Initiativen einzelner Länder mit großen Meeresflächen wie die USA, Mexiko oder Neuseeland bedeutsame Schutzgebiete. Auf internationalem Parkett konnte 2016 nach über fünfjährigen Verhandlungen mit 24 Staaten und der EU das antarktische Rossmeer als das derzeit größte Meeresschutzgebiet der Welt ausgewiesen werden. Hoffnung macht auch die Ankündigung von Ecuador, Kolumbien, Costa Rica und Panama, bestehende Schutzgebiete zu verbinden und auszuweiten.


Es geht ums Überleben

Insgesamt findet der Schutz der Meere immer mehr Aufmerksamkeit. Doch öffentliche Versprechen sind leicht gemacht. Geht es um ihre Einlösung und Finanzierung, beginnen die harten Verhandlungen. Der Druck wächst stetig; wenn keine Kehrtwende in der internationalen Meeresschutzpolitik gelingt, wird sich der Zustand verschärfen und zu steigendem Meeresspiegel, Korallensterben, zunehmenden Naturkatastrophen und zum Zusammenbruch mariner Nahrungsnetze führen. Wir brauchen jetzt den Kurswechsel für wirksamen Meeresschutz, vor allem durch effektive Meeresschutzgebiete, begrenzte und nachhaltige Fischerei und eine erfolgreiche Begrenzung der Klima­erhitzung auf unter 1,5 Grad. Das gelingt nur mit starkem politischem Willen, der Reformierung der Wirtschaft und einer engagierten Zivilgesellschaft.


Die UN-Dekade strebt an, im Jahr 2030 sieben Ziele zu erreichen, wie der Ozean aussehen soll: sauber, gesund und widerstandsfähig, produktiv, berechenbar, sicher, zugänglich und inspirierend. Für unser eigenes Überleben sind diese Ziele alternativlos.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2022, S. 95-99

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Heike Vesper ist Meeresbiologin und Direktorin des World Wide Fund For Nature (WWF) Deutschland am Internationalen WWF-Zentrum für Meeresschutz.

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