Ein neuer Sicherheitsbegriff
Eine verantwortungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik muss Gesundheitsbedrohungen endlich ernst nehmen und vorbeugen.
Als die Münchner Sicherheitskonferenz im Februar wie jedes Jahr die drängendsten Fragen internationaler Politik diskutierte, hatte sich das neue SARS-CoV-2-Virus gerade erst seinen Weg nach Europa gebahnt. Vor dem Hintergrund der damals im fernen Wuhan grassierenden Epidemie fanden sich im Programm der MSC viele Gesprächsformate zum Stand der globalen Gesundheit. Doch das Interesse an den Town-Hall-Gesprächen und Runden Tischen, bei denen unter anderem der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Diskussion mit Vertretern der chinesischen Regierung mit Nachdruck auf die Brisanz der Situation hinwiesen, war begrenzt. Stattdessen drehte sich das Konferenzgeschehen wie auch die Debatte in den sozialen Medien schon am nächsten Tag wieder um „klassische“ Themen des außenpolitischen Betriebs.
Es war in höchstem Maße beunruhigend, wie beharrlich die versammelte sicherheitspolitische Elite ihre Augen vor einer sich klar abzeichnenden globalen Krise für Wohlstand und Sicherheit verschloss – und dabei den Zeitpunkt zur frühzeitigen Eindämmung des Virus verpasste. Die Corona-Krise macht inzwischen auch dem Letzten klar: Gesundheit, Sicherheit und Wohlstand sind über Grenzen hinweg untrennbar miteinander verbunden. Wer Gesundheit als „weiches Thema“ oder rein nationale Angelegenheit begreift, dem wird es nicht gelingen, sich besser auf künftige Pandemien vorzubereiten. Eine verantwortungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik muss ihren Sicherheitsbegriff dringend um Gesundheitsrisiken erweitern. Und sie muss Gesundheit und Forschung endlich auch als eigene Handlungsfelder erkennen und ihre vernetzende Rolle in diesen Bereichen wahrnehmen.
Beispiel Ebola-Bekämpfung
Die jüngsten Ebola-Ausbrüche haben gezeigt, was erreicht werden kann, wenn die Weltgemeinschaft die Bedrohungssituation ernst nimmt und die politische wie auch wissenschaftliche Reaktion koordiniert. Ab 2015 wurden Epidemien zum Chefthema bei den G7 und G20, vor allem, wenn Deutschland den Vorsitz innehatte. Erstmals fanden Gesundheitsministertreffen in diesen Formaten statt, eine Pandemie wurde simuliert und mit der Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI) eine internationale Forschungsinitiative aufgebaut, um die Impfstoffentwicklung gegen potenziell epidemische Erreger voranzubringen.
Dank koordinierter Anstrengungen der Wissenschaft ist es inzwischen gelungen, zwei Impfstoffe und zwei Medikamente gegen Ebola zu entwickeln. Nicht einmal drei Jahre später kamen diese 2018 im Kongo zum Einsatz und trugen maßgeblich dazu bei, die Krise in einem der schwächsten Gesundheitssysteme der Welt unter Kontrolle zu bringen.
Die Lehre aus Ebola und jetzt aus dem aktuellen Corona-Ausbruch ist, dass gegen COVID-19 wie auch gegen andere Krankheiten mit epidemischem Potenzial wie MERS, Lassa und Zika in den nächsten Jahren Impfstoffe und Medikamente entwickelt werden müssen, wo es heute noch keine gibt. Sie werden dringend gebraucht. Und es muss dafür gesorgt werden, dass neue Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten alle diejenigen erreichen, die sie benötigen.
Für eine integrierte Außenpolitik
Gesundheit und Forschung als Handlungsfelder einer engagierten, verantwortungsbewussten Außen- und Sicherheitspolitik zu begreifen, ist nicht gleichbedeutend mit einer „Versicherheitlichung“ dieser Themen. Es geht darum, bestehende multilaterale Formate gezielt dafür zu nutzen, Pandemien zu bewältigen beziehungsweise möglichst zu verhindern.
In der COVID-19-Impfstoffentwicklung gibt es bereits vielversprechende Ansätze. Viele von ihnen werden von CEPI gefördert, darunter das Tübinger Biotech-Unternehmen CureVac, das im März wegen Übernahmegerüchten Schlagzeilen machte. Im gleichen Monat kündigte Bundesforschungsministerin Anja Karliczek an, die Entwicklung des dringend benötigten Corona-Impfstoffs mit fast 150 Millionen Euro zu fördern – nicht im nationalen Alleingang, sondern als Investition in die Überzeugung, dass es multilateralen Handelns bedarf, um Lösungen voranzubringen.
Derartige Investitionen sollten dringend von einer integrierten Außenpolitik flankiert und unterstützt werden, die sich vor Gesundheitsgefahren nicht wegduckt, sondern ihnen entschlossen entgegentritt und sich dafür einsetzt, dass die Verfügbarkeit neuer Produkte nicht von Geografie oder Zahlungsfähigkeit abhängt. Gerade in Zeiten eines überall erstarkenden Nationalismus ist es keine Selbstverständlichkeit, dass lebensrettende Innovationen als globales öffentliches Gut verfüg- und nutzbar sind.
Die EU und die G20 sind bereits mit gutem Beispiel vorangegangen. Auf ihrem COVID-19-Sondergipfel haben sich die Staats- und Regierungschefs der G20 zur dringenden Notwendigkeit bekannt, die aktuelle Krise gemeinsam und koordiniert anzugehen, und ihre Unterstützung für die WHO und weitere Akteure in der globalen Gesundheit bekräftigt. Zur gleichen Zeit kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an, eine (virtuelle) Geberkonferenz auszurichten, um die Entwicklung und Herstellung eines Corona-Impfstoffs zu finanzieren.
Allein für die medizinische Forschung sind gewaltige Summen notwendig. Deren Komplexität, aber auch der enorme Zeitdruck angesichts steigender Fallzahlen bedeuten, dass es sich kein Land leisten kann, nur eigene nationale Forschung voranzubringen. Jede vielversprechende Lösung muss verfolgt werden, woher sie auch kommt. Und es muss von vornherein klar sein, dass sowohl die Kosten als auch die spätere Nutzung zu teilen sind. Sobald Medikamente und Impfstoffe zur Verfügung stehen, muss der Zugang in einem multilateralen Format geregelt werden. Alles andere würde zu weiteren internationalen Spannungen führen.
Immer mehr COVID-19-Fälle werden inzwischen aus Ländern gemeldet, deren Krankenhäuser deutlich schlechter ausgestattet sind und in denen die Möglichkeiten für Quarantäne und Prävention nicht mit denen in China, Südkorea oder Europa zu vergleichen sind. Bis Mitte April meldete die WHO mehr als 17 000 bestätigte Corona-Infektionen in praktisch allen 55 afrikanischen Staaten. Die Zahl lokaler Übertragungen steigt, und Gesundheitsexperten sind sich sicher, dass die bisher vergleichsweise niedrigen Zahlen vor allem auf lückenhafte Berichterstattung und niedrige Testraten zurückgehen.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis COVID-19 auch in Afrika eine Krise auslöst. Dort, wo aufgrund der Lebensumstände jede Form des „Physical Distancing“ schlichtweg unmöglich ist, wo Zugang zu intensivmedizinischer Betreuung auch ohne eine weltweit wütende Pandemie rar ist, wird die Zahl der Todesfälle am höchsten sein. Viele dieser Länder werden bereits mit den bekannten Infektionskrankheiten kaum fertig, geschweige denn mit einem neuen und hochansteckenden Virus. In Ostafrika kämpfen die Menschen bereits gegen eine Heuschreckenplage, in Libyen und im Kongo toben Bürgerkriege.
Destabilisierung droht
Für die deutsche Außenpolitik ist dabei vor allem relevant: Europas von Krisen geplagter südlicher Nachbarschaft droht durch das Corona-Virus eine weitere Destabilisierung. Es muss darum höchste Priorität haben, ärmere Länder zügig mit allem Notwendigen zu unterstützen: mit Schutzausrüstung, Tests, Medikamenten, medizinischer Beratung. Und natürlich mit Impfstoffen, sobald sie entwickelt sind. Nicht zuletzt aber gilt es, endlich die größte Herausforderung anzugehen: die systematische und nachhaltige Stärkung des Gesundheitswesens in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Denn Pandemieprävention ist nur möglich, wenn es gelingt, überall auf der Welt funktionierende Gesundheitssysteme und aufeinander abgestimmte Produktions- und Lieferketten aufzubauen. Das ist eine enorme Herausforderung, der wir uns aber stellen müssen. Und zwar gemeinsam.
Auch hier wirken mittlerweile multilaterale Mechanismen: Die Weltbank, regionale Entwicklungsbanken und der Internationale Währungsfonds gewähren Unterstützung dabei, Gesundheitssysteme zu stärken sowie einen möglichen Impfstoff zu entwickeln und herzustellen. Es ist entscheidend, dass die internationale Gemeinschaft sich hinter diese multilateralen Bemühungen stellt und gemeinsam dafür Sorge trägt, dass kein Land und kein Mensch zurückgelassen wird. Andernfalls laufen alle Gefahr, bei der nächsten Epidemie wieder bei Null anzufangen. Verantwortungsbewusste Politik zeichnet sich gerade in Krisen durch zügiges, interministeriell und international abgestimmtes Handeln aus. Dies gilt sowohl für die nationale Reaktion auf eine Notsituation als auch für außenpolitisches Handeln, beispielweise innerhalb der Vereinten Nationen, der G7 und G20 oder im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die im Juli beginnt. All diese Foren sollten dazu genutzt werden, vereint politische Antworten auf COVID-19 zu koordinieren und zu finanzieren.
Zwei der wichtigsten Akteure im Bereich globaler Gesundheit in Deutschland – die Bundesministerien für Gesundheit sowie Bildung und Forschung – haben bereits begonnen, sich international stärker aufzustellen und zu vernetzen. Ihr Auftrag ist nun, das Denken und Handeln in multilateralen Formaten nicht nur den „klassischen“ außenpolitischen Ressorts zu überlassen. Der Auftrag einer Außen- und Sicherheitspolitik „aus einem Guss“ bedeutet gerade in diesen Tagen, der bestehenden Fachexpertise dieser Ressorts in den entscheidenden Plattformen eine Führungsrolle zu geben.
Gleichzeitig muss Deutschland sich finanziell und politisch klar zu multilateralen Organisationen bekennen, die in der Lage sind, einen akuten Krankheitsausbruch – lokal wie global – zu handhaben, und sich innerhalb dieser Formate strategisch engagieren. Dazu gehören allen voran die WHO, aber auch innovative Partnerschaften wie CEPI, die Impfallianz Gavi oder der Globale Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria.
Denn eines ist sicher: Die nächste Pandemie wird kommen. Womit auch immer sie die Welt konfrontiert, verantwortungsbewusste, vorausschauende Außenpolitik kann und sollte darauf vorbereitet sein.
Caroline Schmutte leitet das Deutschland-Büro der Stiftung Wellcome Trust. Von 2013 bis 2018 war sie Repräsentantin der Bill & Melinda Gates Stiftung in Deutschland.
Internationale Politik 3, Mai-Juni 2020, S. 34-37