Ein geostrategischer Balanceakt
Der geplante BRICS-Beitritt Riads und Abu Dhabis ist ein weiteres Zeichen dafür, dass die Golfstaaten ihre internationalen Partnerschaften diversifizieren wollen.
Die saudische Hauptstadt Riad trennen etwa 6500 Kilometer Flugstrecke vom chinesischen Regierungssitz in Peking. Chinas Präsident Xi Jinping musste also im Dezember 2022 für seinen Besuch des saudischen Königreichs zum GCC-China-Gipfel nicht einmal zwei Drittel des Weges zurücklegen, den US-Präsident Joe Biden einige Monate zuvor für seine Anreise aus Washington D.C. auf sich nahm. Die Containerschiffe, die täglich vom größten Hafen der Emirate in Dschabal Ali zur indischen Wirtschaftsmetropole Mumbai aufbrechen, benötigen für diese Reise lediglich drei Tage – bis zum Hamburger Hafen, dessen Container den Kai in Dubai säumen, dauert es hingegen siebenmal so lange.
Was die Geografie nahelegt und für Handelsbeziehungen der Arabischen Halbinsel mit dem Indischen Ozean und Asien jahrhundertelang galt, scheint nun mit der BRICS-Erweiterung ein weiteres Mal bewiesen: Die Golfstaaten blicken nach Osten und suchen die Bindung an den Indo-Pazifik. Politisch steckt dahinter die Vision einer multipolaren Weltordnung, welche die Herrscher am Golf längst im Blick haben.
Desillusion mit dem Westen
Die Einladung an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), der BRICS-Staatengruppe beizutreten, mag überraschen – wurde der Golf doch lange als amerikanische Einflusssphäre wahrgenommen. Sie ist jedoch ein weiterer Baustein eines bereits länger andauernden strategischen Trends in der Golfregion sowie im Nahen und Mittleren Osten generell: eine Entfremdung vom Westen und eine Annäherung an China, Indien und andere Regionalmächte außerhalb des US-geführten Lagers.
Seit Jahren hatten aufeinanderfolgende US-Regierungen es zum obersten Credo amerikanischer Nahost-Politik erklärt, das Engagement der USA in der Region einzugrenzen. Dies mag angesichts regelmäßig aufflammender Krisen nur teilweise gelungen sein – dennoch haben die Vereinigten Staaten ihren militärischen Fußabdruck reduziert, neben der amerikanischen Wirtschaftsmacht die zentrale Triebfeder ihres Einflusses. Anders als in den Jahrzehnten zuvor kreuzt beispielsweise schon seit 2021 keine Flugzeugträgerkampfgruppe, das Aushängeschild amerikanischer Machtprojektion, mehr in den Gewässern am Golf.
Spätestens als der Iran unter dem Deckmantel der von Teheran unterstützten Huthi-Miliz aus dem Jemen Ölanlagen in Saudi-Arabiens Ostprovinz angriff und Washington trotz Beistandsgesuchen aus Riad tatenlos zusah, dämmerte es daher den Ländern am Golf: Sie konnten sich nicht länger allein auf amerikanische Schutzzusagen verlassen.
Regionale Stabilität fördern
Gleichzeitig haben sich die geoökonomischen Realitäten am Golf gewandelt. Während der Handel mit China vor einem Jahrzehnt noch eine untergeordnete Rolle spielte, hat die Volksrepublik im Jahr 2020 die Europäische Union als größten Handelspartner der Golfstaaten abgelöst. Insbesondere die Energieexporte Saudi-Arabiens und der VAE, die als größte Einnahmequelle beider Staatshaushalte die ambitionierten Wirtschaftsreformen am Golf finanzieren müssen, gehen heute vor allem nach China, Indien und in andere asiatische Länder.
Diese wirtschaftlichen Verflechtungen haben längst auch politische Konsequenzen, denn enge Beziehungen nach Asien sind für die Golfstaaten nun überlebenswichtig. Der in Peking ausgehandelte Deal zur Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Iran und Saudi-Arabien zeigt, dass sich etwa China verstärkt politisch engagiert, um die Stabilität seiner wichtigsten Importregion zu wahren.
Die Golfstaaten versuchen diese unübersichtlichen geopolitischen Rahmenbedingungen bestmöglich zu navigieren und vor allem daraus hervorgehende Chancen zu nutzen – aber auch Risiken zu managen. Dazu gehört das Kerninteresse an der Stabilität der Nachbarschaft, die als wichtige Voraussetzung für die Umsetzung der wirtschaftlichen Modernisierungspläne beider Golfstaaten gesehen wird.
China ist heute größter Handelspartner der Golfstaaten – das hat auch politische Konsequenzen
So gab es in den vergangenen Jahren eine bemerkenswerte regionale Entspannungspolitik. Die VAE normalisierten ihre Beziehungen zu Israel und beendeten mit Saudi-Arabien den jahrelangen Konflikt mit Katar, während Riad eine Waffenruhe mit den Huthis beschloss, ihren Gegnern im jemenitischen Bürgerkrieg, und zuletzt die Wiederaufnahme des einstigen Erzfeinds, des syrischen Machthabers Baschar al-Assad, in die Arabische Liga. In Abwesenheit westlicher Ordnungsmächte versucht der Golf seine regionalen Rivalitäten bestmöglich einzuhegen und bemüht sich um Dialogformate, die Perspektiven für Kooperation eröffnen.
Inmitten unübersichtlicher Geopolitik
Darüber hinaus vermeiden es Saudi-Arabien und die VAE angesichts politischer Unsicherheiten – insbesondere der amerikanisch-chinesischen Rivalität –, alles auf eine geostrategische Karte zu setzen. Die Zeiten einer einseitigen Westbindung am Golf sind vorbei. Stattdessen diversifizieren Riad und Abu Dhabi ihre internationalen Partnerschaften. Dabei stehen mit China, Indien und Russland drei Staaten der BRICS-Gruppe besonders im Fokus.
Dies bedeutet aber nicht, dass man die Beziehungen zum Westen kappt – das außenpolitische Diversifizierungsprojekt der Golfstaaten ist dezidiert nicht antiwestlich. Die jüngsten Ankündigungen auf dem G20-Gipfel in Indien, einen Handelskorridor vom Subkontinent über den Golf bis nach Europa zu schaffen, bestätigen dies.
Vielmehr fungiert der „Multi-Alignment“-Ansatz als Absicherungsstrategie für Abu Dhabi und Riad – und noch weit mehr als das: Die saudischen und emiratischen Herrscherhäuser verstehen genau, welches Potenzial in ihrer neuen Stellung als Mittelmächte steckt. Als Knotenpunkte für den Handel zwischen Asien und Europa bietet verstärkte Konnektivität mit aufstrebenden asiatischen Volkswirtschaften den Golfstaaten die Möglichkeit, die eigene strategische Bedeutung und damit auch Macht auszubauen.
Als umworbene „Swing States“ sowohl bei traditionellen Partnern in Washington und Brüssel als auch bei neuen Freunden in Peking oder Neu-Delhi können die vergleichsweise kleinen Staaten somit ihren Einfluss weit über die eigene Gewichtsklasse steigern. Auch wenn der geplante Beitritt der BRICS von Saudi-Arabien und den VAE somit einem größeren strategischen Trend am Golf folgt, gibt es aber durchaus Nuancen in den Beweggründen und Interessen beider Golfstaaten.
Bereitwillige Annäherung Abu Dhabis
In Abu Dhabi scheint die Realität einer multipolaren Weltordnung und die strategische Äquidistanz zwischen dem Westen sowie China und Indien bereits vollständig in die politische DNA übergegangen zu sein. So ist es nicht verwunderlich, dass die VAE – anders als Saudi-Arabien – die Einladung zur BRICS-Mitgliedschaft unmittelbar nach dem Gipfeltreffen in Südafrika angenommen haben.
Wirtschaftspolitisch setzen die Emirate mit dem BRICS-Beitritt vor allem darauf, eigene Wettbewerbsvorteile wie die strategische Lage, Handelsinfrastruktur und Finanzmärkte zu nutzen und den eigenen Status als Zentrum globaler Konnektivität auszubauen. Der Außenhandel der VAE ist dabei viel stärker diversifiziert als der Saudi-Arabiens und vor allem stark mit Indien verflochten. Abu Dhabi sieht daher das Potenzial, im Rahmen der BRICS die Beziehungen zum Subkontinent zu stärken. Die parallelen Einladungen an Ägypten und Äthiopien dürften die VAE im Kontext ihres verstärkten Engagements in Ostafrika ebenfalls begrüßen.
Auch das bestehende Engagement in der New Development Bank (NDB) der BRICS wollen die VAE im Rahmen ihres Beitritts künftig ausbauen. In den Projekten der Entwicklungsbank wittert Abu Dhabi Möglichkeiten zur Ko-Finanzierung durch eigene Entwicklungsbanken und -fonds, über die auch der Marktzugang für Unternehmen aus den VAE in Entwicklungs- und Schwellenländern erleichtert werden könnte.
Und schließlich spielt für die VAE die Überlegung, sich innerhalb der BRICS-Gruppe besser gegen internationale Sanktionen schützen zu können, keine unerhebliche Rolle. Die westlichen Sanktionen gegen den Iran oder Russland, insbesondere dessen Ausschluss aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT und das Einfrieren seiner Devisenreserven, haben auch am Golf Sorgen ausgelöst, wie verwundbar man selbst bei derartigen Sanktionen wäre.
Die Intention der BRICS-Staaten, ein vom Dollar unabhängiges Finanz- und Währungssystem aufzubauen, dürfte für die Emirate daher durchaus Charme besitzen, um sich künftig besser gegen Sanktionen absichern zu können. Gerade Dubai steht immer wieder in der Kritik, „Safe Haven“ und Umschlagpunkt für sanktionierte Entitäten zu sein. Zudem haben die VAE bereits erste Gasexporte an China und Rohöllieferungen nach Indien in lokalen Währungen statt in US-Dollar abgewickelt. Diese Pionierrolle bei der Etablierung alternativer Zahlungsprozesse könnte im Rahmen der BRICS einen weiteren Schub bekommen.
Riads vorsichtige Gratwanderung
Im Gegensatz zur enthusiastischen Annäherung der VAE geht Saudi-Arabien bisher noch zurückhaltender mit seiner BRICS-Einladung um. Riad will keineswegs eine Abkehr von den USA – zumal man derzeit mit Washington über einen umfassenden Ausbau der bilateralen Partnerschaft als Anreiz für eine israelisch-saudische Normalisierung verhandelt. Dies dürfte auch erklären, warum das Königreich die BRICS-Einladung bisher nicht offiziell angenommen hat – und sich damit laut Außenminister Faisal bin Farhan auch bis Anfang 2024 Zeit lassen wird.
Dennoch ist es wahrscheinlich, dass der BRICS-Beitritt nach dem Iran-Saudi-Deal zum nächsten politischen Coup Riads wird und Saudi-Arabien damit ein zusätzliches außenpolitisches Standbein aufbaut. Riad versucht sich an einem geopolitischen Balanceakt, durch den es glaubt, seinen Einfluss sowohl in Washington als auch in Peking potenzieren zu können.
Die BRICS-Mitgliedschaft bietet auch für Saudi-Arabien eine Reihe potenzieller Vorteile. So eröffnet die Aufnahme in die NDB eine neue Option im saudischen Instrumentenkasten, bestehend aus Entwicklungszusammenarbeit, bilateralen Staatshilfen und Investitionen des Staatsfonds, um Einfluss in seiner Nachbarschaft auszuüben. Die mögliche Nutzung eines künftigen alternativen Finanzsystems der BRICS, weniger restriktiv und außerhalb des amerikanischen Einflusses, bietet auch Saudi-Arabiens globalisierter Volkswirtschaft mehr Schutz und Flexibilität.
Umgekehrt sind die Auswirkungen, die Saudi-Arabiens Unterstützung für diese Projekte hätte, weitaus gewichtiger. Saudische Einlagen könnten der NDB, die seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges unter massiven Finanzierungsproblemen leidet, neues Leben einhauchen. Die vermehrte Zahlung von Ex- und Importen in lokalen Währungen, die auf dem BRICS-Gipfel im August beschlossen wurde, hätte beim Mitwirken des weltgrößten Ölexporteurs massive Auswirkungen auf die in Dollar gehandelten Mineralstoffmärkte – auch wenn Saudi-Arabien vorerst keine Abkehr vom Petro-Dollar möchte.
Riad ist sich seiner Relevanz bei derartigen Projekten bewusst – darin dürfte der wichtigste Anreizpunkt des BRICS-Beitritts für Saudi-Arabien liegen: Es ermöglicht dem Königreich – gerade wegen seines Gewichts – ein strategisches Mitspracherecht bei der künftigen Gestaltung alternativer Finanz- und Wirtschaftssysteme.
Ob sich diese ambitionierten Projekte im Kontext einer notorisch zerstrittenen BRICS-Gruppe tatsächlich umsetzen lassen, bleibt unsicher. In jedem Fall aber wird sich Riad die Gelegenheit, mit einem BRICS-Beitritt einen Platz am Verhandlungstisch zu erlangen, kaum entgehen lassen.
Eine geostrategische Verschiebung
Auch wenn beide Golfstaaten unterstreichen, ihre Diversifizierung internationaler Partnerschaften gehe nicht auf Kosten der Beziehungen zum Westen, ist klar, dass der BRICS-Beitritt zweier bedeutender amerikanischer Partner, die zudem regionale Ordnungsmächte und systemisch relevante Energieversorger sind, geostrategische Konsequenzen haben muss.
Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate stärken mit ihrem künftigen Beitritt zur BRICS-Staatengruppe einen alternativen Rahmen für internationale Kooperation, der – auch wenn nicht als antiwestlich deklariert – von anderen BRICS-Mitgliedern durchaus als Gegenmodell zur westlichen Ordnung gedacht ist. Schließlich kam die Einladung beider Golfstaaten vor allem auf Betreiben Chinas zustande. Pekings strategische Ambitionen dürften auch am Golf sehr wohl verstanden werden.
Trotzdem überwiegt bisher die Überzeugung sowohl bei saudischen als auch bei emiratischen Entscheidungsträgern, den geostrategischen Balanceakt zwischen Asien und dem Westen erfolgreich bewältigen zu können. Und noch viel mehr: Abu Dhabi und Riad sehen nun ihre Stunde gekommen, den eigenen Einfluss weiter auszubauen. Peking mag geografisch näher liegen als Washington – in multipolaren Zeiten möchte man aber beiden nah sein.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2023, S. 77-81
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