IP Special

24. Juni 2024

Ein Ende des Konflikts ist möglich

Nach dem 7. Oktober braucht Netanjahu den schier endlosen Krieg für sein politisches Überleben. Dabei würde Israel stark von einem palästinensischen Staat profitieren. 

Noch nie waren Israelis und Palästinenser so weit voneinander entfernt, so entfremdet, so hasserfüllt und verzweifelt wie in diesen Zeiten. Mehr als deutlich kommt das Gefühl der nackten Verzweiflung schon allein in der Entmenschlichung der je anderen Seite zum Tragen.

Den meisten Palästinensern fällt es schwer, Mitgefühl für die Opfer des schrecklichen Massakers vom 7. Oktober zu empfinden, für die Entführten, die in der Gefangenschaft der Hamas vegetieren, und auch für Israelis im Allgemeinen. Sie glauben, dass die Berichte über das barbarische Massaker und die Vergewaltigungen, die die israelische Gesellschaft immer noch erschüttern und schockieren, nichts als zionistische Propaganda sind.

Andererseits konzentrieren sich die meisten Israelis ganz auf den Horror des 7. Oktober. Sie sehen hinweg über die Massentötungen im Gazastreifen, über die vielen toten und verwundeten Kinder, über die Zerstörung, den Verlust der Möglichkeit, überhaupt ein würdiges Leben führen zu können, und auch über die Gewalt der Siedler im Westjordanland. Die meisten Israelis erhalten keine Informationen über die Tragödien in Gaza, weil unsere Medien die Realität dort konsequent ignorieren. Die meisten Israelis denken, dass die Berichte und Anschuldigungen über die unverhältnismäßige Tötung und das massenhafte Verhungern der Menschen in Gaza nur Propaganda der Hamas sind, die von einer antisemitischen Welt ohne jede Bestätigung akzeptiert wird.


Kampf als einziges Mittel

Umfragen in der israelischen und palästinensischen Gesellschaft zeigen, dass viele Menschen auf beiden Seiten die Hoffnung verloren haben, die blutige Realität, in der sie leben, überhaupt ändern zu können. Fast jeder zweite Palästinenser glaubt mehr denn je an einen bewaffneten Kampf gegen Israel als einziges Mittel, um die Unabhängigkeit zu erreichen (46 Prozent laut einer Umfrage von Khalil Shikaki vom Palestinian Center for Policy and Survey Research vom März 2024).

Unter den Israelis ist die Unterstützung für die Gründung eines palästinensischen Staates auf einen historischen Tiefstand von 35 Prozent gesunken (laut einer Umfrage des Institute for Strategic Studies, März 2024). Und doch: Im Laufe der Zeit und immer dann, wenn Sicherheit mit diplomatischen Vereinbarungen und nicht mit militärischen Mitteln verbunden ist, lässt sich eine Verschiebung zu einer rationaleren Haltung erkennen. Deswegen ist es wichtig, die Umfragen zwar als bedeutsame Momentaufnahme zu nehmen, nicht aber als Vorhersage.


Eine historische Chance

Gerade in einer Zeit, in der sich die beiden Nationen so weit voneinander entfernen und in einen Abgrund des Hasses stürzen, bietet sich eine historische Chance für eine Lösung des israelisch-­palästinensischen Konflikts. Ja, das Massaker vom 7. Oktober hat der ganzen Welt vor allem die Mordlust der Hamas vor Augen geführt; gleichzeitig aber auch die Tatsache, dass es einfach unmöglich ist, den Konflikt selbst und das Problem der anhaltenden Besatzung auszublenden.

In weiten Teilen der Welt gibt es ein star­kes Bewusstsein dafür, wie dringend ein echter Prozess wäre, der die Zwei-Staaten-Lösung voranbringt. Das Gleiche gilt für die Erkenntnis, dass der israelisch-palästinensische Konflikt andere Politikfelder massiv beeinflusst; dazu zählen Russlands Krieg gegen die Ukraine, die Stellung der Vereinigten Staaten von Amerika in der Welt, die Innenpolitik in Europa und in den USA bis hin zur aufgeheizten Situation an amerikanischen und anderen Universitäten. Das Tempo dieser Ent­wicklungen hat sich dramatisch beschleunigt.

Die Regierung Netanjahu führt Israel in ­einen noch nie dagewesenen Bürgerkonflikt, sie lehnt jeden Vorschlag für einen Friedensprozess ab

Damit sind wir beim Problem Netanjahu. Anstatt die internationale Mobilisierung zu nutzen, um eine politische Lösung herbeizuführen, die eine Alternative zur Hamas-Herrschaft im Gazastreifen schafft, die Beziehungen Israels in der Region normalisiert und ein von den USA angeführtes regionales Bündnis gegen den Iran und seine Stellvertreter schafft, hat Netanjahus rechts­gerichtete Regierung den Weg der politischen und sicherheitspolitischen Stagnation gewählt. Einen Pfad des endlosen Krieges, der keinen anderen Zweck hat als den Erhalt dieser Regierung, die nur von rechtsextremen Elementen zusammengehalten wird. Netanjahus schlimmste Befürchtung ist, dass jeder Kompromiss dazu führen könnte, dass diese Extremisten aufgeben und so seine politische Karriere beenden würden.


Netanjahu braucht den Krieg

Benjamin Netanjahus ranghöchste Minister, Verteidigungsminister Joaw Galant und Benny Gantz als Mitglied des Kriegskabinetts, haben den Regierungschef zu einer politischen Lösung für den ­Gazastreifen aufgefordert, die die dortige Einbeziehung palästinensischer Elemente einschließt. Netanjahu aber unterlässt jegliche politische Initiative und will den Staat Israel in eine gefährliche und blutige Realität führen: die militärische und zivile Kontrolle des Gazastreifens. Netanjahu, der wegen Bestechung, Betrug und Untreue während seiner Amtszeit strafrechtlich verfolgt wird, hat schlicht Angst vor den rechtsextremen Ministern Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir, dem Minister für nationale Sicherheit. Er lehnt jeden Vorschlag für politische Fortschritte und eine Normalisierung der Beziehungen zu Saudi-Arabien sowie einen Friedensprozess zur Gründung eines palästinensischen Staates ab. Immer wieder verhindert er ein mögliches Abkommen über die Freilassung der Entführten im Gegenzug zu einem Waffenstillstand und der Freilassung der palästinensischen Gefangenen.

Die Regierung Netanjahu führt Israel in einen noch nie dagewesenen internen Bürgerkonflikt, in dem die meisten Menschen das Gefühl ­haben, dass ihre Sicherheit und das Schicksal der Entführten in Netanjahus Prioritätenliste hinter seinen persönlichen und politischen Interessen zurückstehen. Auf internationaler Ebene führt Netanjahu Israel in eine ebenfalls noch nie dagewesene politische Isolation. Diese hat zum bisherigen Höhepunkt geführt: Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (IStGH) forderte Haftbefehle gegen ihn und Verteidigungsminister Galant, und zum Zweiten ordnete der Internationale Ge­richtshof die Einstellung oder Einschränkung der Kampfhandlungen in Rafah an.

Israel tritt in eine schwierige Phase seiner Geschichte ein, in der es mit einem nicht enden wollenden Krieg konfrontiert ist, mit rund 125 entführten Personen, die seit fast acht Monaten von der Hamas gefangen gehalten werden, und mit einer immer stärkeren internationalen Isolierung.

Es ist wichtig zu betonen, dass die Haftbefehle des IStGH hätten verhindert werden können, wenn die Netanjahu-Regierung eine Untersuchung von Vorwürfen wegen Verstößen gegen das humanitäre Recht eingeleitet hätte. Auch die Warnung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) hätte vermieden werden können, wenn Netanjahu nicht auf der Rafah-Operation bestanden hätte. Sie wird die Hamas nicht besiegen, so wie das auch in anderen Städten des Gazastreifens offensichtlich ist, wo die Hamas schlicht mangels einer Alternative zurückkommt.


Israel hat sich in die Ecke manövriert

Die extreme Position der israelischen Regierung, die weder zu einem Dialog noch zu einem Kompromiss bereit ist, führt sie an einen Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. An diesem Punkt nun beginnt die Welt, alle Druckmittel einzusetzen, um die Gründung eines palästinensischen Staates zu fördern; auch die Zahl der Länder, die einseitig einen palästinensischen Staat anerkennen, nimmt zu. Währenddessen widersetzt sich die israelische Regierung weiter jedem politischen Prozess.

Israel steht kurz vor dem Tag, an dem es nicht mehr in der Lage sein wird, die Besatzung palästinensischer Gebiete auf­rechtzuerhalten und den Weg einschlagen muss, die Gründung eines palästinensischen Staates zu fördern. Einen Weg, der der Position der extremen Rechten in Israel zuwiderläuft, der aber viele Vorteile für Israel mit sich bringt. Dazu gehören die Bewahrung Israels als jüdischer und demokratischer Staat, die Normalisierung der Be­ziehungen zu Saudi-Arabien und die Stärkung der regionalen Allianz gegen die extremistischen und gefährlichen Elemente in der Region, angeführt von Iran, Hamas und Hisbollah.

Israel steht kurz vor dem Tag, an dem es die Besatzung palästinensischer Gebiete nicht mehr aufrechterhalten kann. Noch ist man weder zu Kompromissen noch zum Dialog bereit

Viele Jahre lang haben gemäßigte israelische und palästinensische Führer versucht, die Völ­ker zusammenzubringen und die Voraussetzungen für die Gründung eines palästinensischen Staates zu schaffen. Vielleicht zeigt sich, dass die Dinge manchmal erst wirklich, wirklich schlecht werden müssen, bevor wir uns in Richtung des Besseren bewegen. Die Mordlust der Hamas-Führer sowie die Untätigkeit und politische Feigheit Netanjahus und der Extremismus seiner politischen Partner führen die gesamte Region nicht nur zur Radikalisierung, sondern auch zum Kompromiss. Gerade jetzt, wo sich Israelis und Palästinenser am weitesten voneinander entfernt haben, zwingt die Realität sie dazu, sich einander wieder anzunähern – um überhaupt ein sicheres Überleben in einer von Blut und Kämpfen geprägten Region zu ermöglichen.

In einer Zeit, in der beide Nationen auf ihre eigenen Tragödien und ihr eigenes Leid konzentriert sind, werden sie trotzdem gemeinsam handeln müssen. Auf einer Pressekonferenz sprach Verteidigungsminister Galant im Mai aus, was eigentlich jeder weiß: Der Staat Israel wird nicht in der Lage sein, die Last eines militärischen und zivilen Regimes im Gazastreifen weiter zu tragen, und zwar sowohl in finanzieller, sozialer und diplomatischer Hinsicht als auch im Hinblick auf die Sicherheit. Die Risiken sind zu groß, der Preis ist zu hoch.


Ein palästinensischer Staat

Obwohl Minister Galant die palästinensische Einheit, die den Gazastreifen regieren soll, als „nicht feindliche palästinensische“ Einheit bezeichnete und die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) nicht ausdrücklich beim Namen nannte, weiß er in der Praxis: Es gibt keine andere Einrichtung, die in der Lage ist, den Gazastreifen zu regieren, als eine wiederbelebte PA – egal, wie er sie nun nennt. Es ist auch bekannt, dass der Eintritt der PA in den Gazastreifen, in mehr oder weniger erneuerter Form, nicht ohne Forderungen erfolgen wird; die wichtigste wird darin bestehen, sich gemeinsam für die Errichtung eines palästinensischen Staates einzusetzen.

Letztlich liegt dies im besten Interesse Israels. Es wird davon profitieren, dass es wie im Westjordanland auch im Gazastreifen einen palästinensischen Faktor an seiner Seite haben wird, der sich für den Frieden einsetzt und dem grausamen und blutigen Schicksal eines Militär- und Zivilregimes entgehen kann, vor dem der Verteidigungsminister gewarnt hat. Die Palästinenser werden auf dem Weg zur Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates internationale und israelische Legitimität erlangen. Die Region wird in den Genuss eines israelisch-palästinensischen Friedens kommen, der eine Rückkehr zur Norma­lisierung mit Saudi-Arabien und gemeinsame re­gionale Aktivitäten gegen den gemeinsamen Feind ermöglichen wird: den Iran.


Die Zeit für Frieden ist jetzt

Die Errichtung eines palästinensischen Staates ist im eindeutigen zionistischen Interesse. Wenn wir die Besatzung nicht beenden, wird die Besatzung unser Ende sein. Es besteht ein internationaler Konsens über die Notwendigkeit, einen entmilitarisierten palästinensischen Staat als nationale Heimat der Palästinenser neben Israel als nationale Heimat des jüdischen Volkes zu errichten. Die einzigen Gegner sind der Iran, die Hamas – und die Regierung Netanjahu. Man kann nur hoffen, dass es in der künftigen israelischen Führung ver­antwortungsbewusste Parteien gibt, die so handeln, dass Israel Teil dieser Bewegung ist. Es muss davon profitieren, politisch, sicherheitstechnisch und wirtschaftlich, und nicht gezwungen werden, eine Bewegung unter Bedingungen zu akzeptieren, die von anderen auferlegt werden.

Die Länder der freien Welt dürfen nicht warten, bis sich Israelis und Palästinenser von ihren Traumata erholt und einen Friedensprozess eingeleitet haben. Jetzt ist es an der Zeit für eine entschlossene internationale Initiative. Israelis und Palästinenser werden zu der Einsicht gelangen, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, wenn ein bedeutender politischer Horizont geschaffen wird. Trotz der derzeitigen Verzweiflung von Israelis und Palästinensern: Es war das Trauma des Jom-Kippur-/September-Krieges 1973, das zum Frieden mit Ägypten führte; und es war das Trauma der Ersten Intifada, das zu Oslo und dem Friedensabkommen mit Jordanien führte. Jetzt ist die Zeit für einen israelisch-palästinensischen Frieden gekommen.  


Aus dem Englischen von Martin Bialecki

Für Vollzugriff bitte einloggen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 3, Juli/August 2024, S. 4-7

Teilen

Themen und Regionen

Nadav Tamir ist geschäftsführender Direktor von J Street ­Israel sowie u.a. Vorstandsmitglied des Thinktanks Mitvim. Zuvor arbeitete Tamir für das israelische Außenministerium und als Berater für Präsident Shimon Peres.

0

Artikel können Sie noch kostenlos lesen.

Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.