Essay

28. Okt. 2024

Dystopische Visionen für eine utopische Zukunft

Der Kommunismus währte nur bis zum Mauerfall, und auch mit dem Ende der Geschichte war es letztlich nicht weit her. Gehen uns die Zukunftsentwürfe aus? Nein. Doch um positive Bilder des künftigen Miteinanders zu schaffen, müssen wir lernen, mutiger nach vorne zu schauen. Risiken und Nebenwirkungen inklusive.

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Bild: Olaf Scholz in in China
Business as usual mit dem Reich der Mitte: Strategien des De-riskings oder des De-couplings standen eher nicht auf der ­Tagesordnung, als Bundeskanzler Olaf Scholz Mitte April nach China (hier: Chongqing) reiste.

People love insurance in Germany“ – so lautet der Titel eines knapp sechs Millionen Mal aufgerufenen YouTube-Videos, hochgeladen von der Vietnamesin Uyen Ninh. Uyen Ninh, die sich selbst als your „favorite Ausländer“ bezeichnet, dokumentiert in den sozialen Medien alles, was typisch deutsch ist, von Reiserücktrittsversicherung bis Toast Hawaii. 

Und obwohl die Versicherungslust der Deutschen auch anderswo gern auf die Schippe genommen wird, scheint es so, als sei die Antizipation unliebsamer Szenarien ein primär privates Phänomen. Deutschlands politischem Betrieb fällt das Erdenken – und die dadurch mögliche Prävention – von unerwünschten Zukünften deutlich schwerer. Hierzulande liegt die politische Kernkompetenz eher in der Reaktion auf Krisen als in deren Vorbeugung. 

Im Idealfall aber fängt Krisenmanagement bereits vor dem Eintreten einer Notlage an. Und die aktuelle weltpolitische Lage würde es mehr denn je erfordern, sich auch mit dystopischen Visionen auseinanderzusetzen. Nicht aus der Lust am Pessimismus, sondern weil sich so das Gegenteil der Dystopie, die Utopie, am ehesten erreichen lässt. 
 

Überholte Utopie

An einer Utopie hat sich die deutsche Politik in den vergangenen Jahrzehnten orientiert, die wir wohl mittlerweile als überholt bezeichnen müssen: der liberal-globalen Ordnung. Die mit ihr einhergehende Hoffnung, dass mehr Verflechtung mehr Stabilität, mehr Wohlstand, mehr Frieden mit sich bringen werde, hat sich nicht erfüllt. Anstatt ihren Wohlstand zu mehren, ziehen Länder in den Krieg, obwohl dadurch enorme ökonomische Kosten entstehen. Gleichzeitig werden ökologische Grundlagen im Namen der ökonomischen Gewinnorientierung zerstört. Heute erfordert eine bessere Vorausschau ein Zusammendenken von verschiedenen Politikfeldern; Silos zwischen Wirtschafts-, Sicherheits- und Umweltpolitik müssen aufgebrochen werden. 

Überlegungen dieser Art liegen dem 2023 in der Nationalen Sicherheitsstrategie festgelegten Begriff der integrierten Sicherheit zugrunde. Er soll verdeutlichen, dass Sicherheit nicht nur militärischen, sondern auch gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Schutz erfordert. Damit eine solche integrierte Sicherheit möglich ist und Deutschland seine Interessen in der Welt besser vertreten und erreichen kann, bedarf es jetzt mehr Visionen darüber, welche Krisen zu erwarten sind, welche Ressorts, globale Partner und internationale Organisationen diese betreffen, und wie diese Krisen in gemeinsamen Anstrengungen zu vermeiden sind. 

Im Zeitalter der Polykrise scheint das vor 35 Jahren vom US-Politologen Francis Fukuyama angekündigte Ende der Geschichte in immer weitere Ferne zu rücken. Ob das für alle eine gleichermaßen große Enttäuschung ist? Einige derjenigen, die sich in den Westen einordnen lassen, dürften wohl nie besonders glücklich mit einem Endnarrativ gewesen sein, das den ultimativen Sieg der „westlichen liberalen Demokratie“ gegenüber allen anderen ­politischen Systemen vorsieht.

Selbst bei Politikerinnen und Politikern zwischen Washington und Brüssel wachsen die Zweifel an einer von ihnen gestalteten, liberalen und regelbasierten Weltordnung. Der US-Angriff auf den Irak 2003, die globale Finanzkrise 2008, der Tod Tausender Flüchtender im Mittelmeer seit 2015 und das weltweite Ringen erst um Schutzmasken, dann um Impfstoffe im Zuge der Corona-Pandemie haben nicht nur im Globalen Süden kräftig am Image eines westlich geleiteten Liberalismus gekratzt, der für Menschen überall auf der Welt von Vorteil ist. 

Für Europa und Deutschland kam das wohl schmerzhafteste Erwachen 2022 mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, der die vielbeschworene „Zeiten­wende“-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz auslöste. Deutschland ist in den vergangenen zwei Jahren wichtige Schritte gegangen, um den Begriff der Zeitenwende mit Leben zu füllen. Dazu gehören das Sondervermögen für die Bundeswehr, aber auch die Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die Erschließung von neuen Handels- und Klimapartnerschaften und der Ausbau erneuerbarer Energien.
 

China-Business-as-usual

Allerdings leidet all das zumindest teilweise darunter, dass es noch immer an den Handlungsmaximen jener liberalen Weltordnung orientiert ist, die sich mit dem Ende der Geschichte vom Westen aus überall auf der Welt verbreiten sollte; einer Weltordnung, deren Prämisse lautet, dass sich etwa die Sicherheits- und die Handelspolitik getrennt voneinander gestalten lassen. Wie nah diese Felder tatsächlich beieinander liegen, zeigt der russische Angriff auf die Ukraine. Nicht nur erschütterte dieser das Bild eines kriegsfreien Europas, mit ihm ging auch das Scheitern des Credos „Wandel durch Handel“ einher. 

Weder bewirkte die wirtschaftliche Verflechtung zwischen Russland und Europa mehr Demokratie oder Freiheit für die russische Bevölkerung, noch schützte es die Ukraine vor einem Angriff. Der Krieg brachte die deutsch-russischen Handelsbeziehungen nahezu zum Erliegen und führte zum Ende des Imports von fossilen Energieträgern aus Russland. Um die Wirtschaft aufrechtzuerhalten, soll in Deutschland die Energiewende beschleunigt werden, zudem wurden Partnerschaften mit alternativen Lieferanten geschlossen. 

Die Stärkung eigener Kapazitäten und die Diversifizierung von Versorgungsketten sind auch Teil der 2023 veröffentlichten EU-Strategie für wirtschaftliche Sicherheit; sie reflektiert einen weltweiten Trend in handelspolitischen Maßnahmen. Die EU richtet sich damit nicht nur an Russland, sondern insbesondere an China, ein weiteres autoritäres Land, das für viele Mitgliedstaaten ein wichtiger Handelspartner ist. Um die Vulnerabilität in kritischen Sektoren zu verringern, hat auch Deutschland sich einem „De-risking“ von China verschrieben. Der von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geprägte Begriff soll eine sanftere Alternative zum „De-coupling“, also einer vollständigen Entflechtung, bieten, der in vielen Partei- und Konzernzentralen Ängste vor wirtschaftlichen Verlusten schürt. Und während diese Bedenken nicht unbegründet sind – China ist seit 2015 Deutschlands Haupthandelspartner –, gibt es inzwischen Studien, etwa vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel, denen zufolge selbst eine vollständige Entkopplung auf lange Sicht verkraftbar wäre. 

Das vorsichtige Narrativ scheint jedoch vor allem eines zu bewirken: ein China-Business-as-usual. So konnte sich vergangenes Jahr der chinesische Staatskonzern Cosco aller Sicherheitsbedenken zum Trotz an einem Containerterminal im Hamburger Hafen beteiligen, nachdem sich das Kanzleramt gegenüber anderen Ressorts durchgesetzt hatte. EU-Zölle auf chinesische E-Fahrzeuge versuchte Scholz auf Druck der deutschen Autolobby ebenfalls zu verhindern, fand dafür in Brüssel aber keine Mehrheit.

Und auch bei der jüngsten China-Reise des Bundeskanzlers im April zeigte sich, dass Scholz und die ihn begleitenden Firmenchefs weiter auf Sicht fahren wollen. Strategien des De-riskings standen nicht auf der Tagesordnung, stattdessen betonte der Kanzler, dass an einem De-coupling auf deutscher Seite kein Interesse bestehe. 
 

Ökonomie und Sicherheitspolitik

Dieses Fahren auf Sicht ist aus zwei Gründen kontraproduktiv. Zum einen ist die kleinteilige Fokussierung auf wirtschaftliche Gewinne konträr zum ökonomischen Gesamtinteresse Europas und Deutschlands. Die Mehrerträge sind größtenteils reserviert für wenige Großkonzerne, die ihr China-Geschäft weiter ausbauen, während kleine und mittelständische Unternehmen sich vom chinesischen Markt zurückziehen – auch aufgrund unfairer Wettbewerbsbedingungen für ausländische Firmen. Zum anderen führt die Priorisierung der Handelsbeziehungen dazu, dass sicherheitspolitische Interessen Europas weniger stringent vertreten werden können. 

Gesamteuropäische Bemühungen, Länder wie China davon zu überzeugen, ihre Waffenlieferungen an Russland zu unterbinden und sich für eine Friedenslösung einzusetzen, verlieren an Glaubwürdigkeit, wenn Mitgliedstaaten parallel dazu bilaterale wirtschaftliche Verflechtungen intensivieren, mag dies auch auf einige Sektoren limitiert sein. 

Dass sich ökonomische und sicherheitspolitische Interessen gleichzeitig vertreten lassen, bewies Vizekanzler Robert Habeck bei seinem China-Besuch im Juni. Trotz der Habeckschen Kritik an der chinesisch-russischen Partnerschaft, der Menschenrechtslage in Xinjiang und an Staatssubventionen stimmte China zu, mit der EU über die Zölle auf chinesische E-Autos zu verhandeln, anstatt direkte Vergeltungsmaßnahmen zu treffen. 

Inzwischen ist eine Einigung in diesem Handelsstreit und in anderen Fragen in weite Ferne gerückt. Dies zeichnete sich bereits während Xis Europatournee im Mai ab, wo er in Frankreich auf Präsident Emmanuel Macron und auf Kommissionschefin Ursula von der Leyen traf. Obwohl von der Leyen etwas deutlichere Worte fand als Scholz, gelang es nicht, Xi von einer Änderung des chinesischen Wirtschaftskurses zu überzeugen oder China dazu zu bringen, seine Position gegenüber dem russischen Angriffskrieg zu hinterfragen. 

Xi setzte seinen Europatrip fort mit Besuchen in Serbien und Ungarn, zwei Ländern, die Russland und China näher zu stehen scheinen als der EU und der NATO. So bekannten sich die Regierungschefs der drei Länder zu „eiserner Freundschaft“ und zu „wetterfesten“ Verbindungen. Parallel dazu streiten andere europäische Länder, sogar solche, die so eng miteinander verbunden sind wie Frankreich und Deutschland, noch immer darüber, wie viel Unterstützung die Ukraine von der EU bekommen soll. 

Russland und China versichern sich derweil immer wieder ihrer „grenzenlosen Partnerschaft“. Direkt nach seiner Europareise empfing Xi Wladimir Putin im eigenen Land, wo die beiden Staatsführer auch eine Kooperation gegenüber den „destruktiven und feindseligen“ USA bekräftigten. Diese Sequenz von Staatsbesuchen und Partnerschaften zeigt abermals, dass wirtschaftliche Verflechtung nicht ausreicht, um geostrategische Interessensgegensätze zu kitten. 
 

Den Worten Taten folgen lassen

Immerhin: Die Tatsache, dass Deutschland eine Nationale Sicherheitsstrategie verabschiedet hat, die nicht nur den Begriff der integrierten Sicherheit ausbuchstabiert, sondern auch Bekenntnisse zur Zeitenwende enthält, scheint darauf hinzudeuten, dass man in Berlin weiß, wie sich das internationale Umfeld verändert hat. Um sich diesem Umfeld anzupassen, ist es aber notwendig, das noch immer dem Ende der Geschichte verpflichtete Instrumentarium anzupassen. Wenn Deutschland sich einer Utopie nähern möchte – und sollte diese auch anders aussehen als ursprünglich erdacht –, dann könnte das mithilfe der folgenden vier Schritte gelingen.

Im ersten Schritt gilt es, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Die veränderte weltpolitische Lage hat Deutschland dazu veranlasst, neue, bedeutungsschwere Begriffe ins Zentrum des politischen Geschehens zu rücken. Wenn Politiker von De-risking oder Zeitenwende sprechen, dann kündigen sie damit eben nicht nur politische Neuausrichtungen an, sondern schaffen auch, mindestens implizit, ­Handlungsspielräume. 

Um diese effektiv nutzen zu können, muss unbedingt darauf verzichtet werden, erst große Taten anzukündigen und dann gleich wieder zurückzurudern. „Weitreichende“ Waffenlieferungen an die Ukraine als Teil der Zeitenwende? Ja, aber doch keine Taurus-Marschflugkörper. De-risking? Ja, aber doch nur da, wo wirklich möglich und nötig. Mögen diese verbalen Spagate auch dazu dienen, Wählerstimmen zu gewinnen und dem privaten Sektor entgegenzukommen, so helfen sie doch nicht beim Erreichen der übergeordneten Ziele. 

Während die Bundesregierung also Absichtserklärungen abgibt – Russland darf den Krieg nicht gewinnen, Abhängigkeiten von China müssen reduziert werden –, führt der Verweis auf „Light-Optionen“ dazu, dass am Ende nicht das bestmögliche Ergebnis erlangt werden kann. Mit halbherziger Unterstützung wird es der Ukraine immer schwerer fallen, seine und damit auch Europas Sicherheit zu verteidigen. Ebenso werden sich Konzernchefs nicht aus ihrer Komfortzone herauswagen, wenn Entkopplung oder Umweltschutz nur dort gefordert werden, wo sie eine möglichst schmerzfreie Veränderung bedeuten. Während die Furcht vor wirtschaftlichen Verlusten insbesondere dem Diskurs um ökonomische und ökologische Sicherheit gemein ist, ist diese Debatte zusätzlich durch ganz gegensätzliche Phänomene belastet. 

Dass etwa im Klimadiskurs immer wieder auf Katastrophen verwiesen wird, ist angesichts des Ernstes der Lage folgerichtig. Zugleich mangelt es aber an hoffnungsvollen Botschaften, die notwendig wären, um individuelle und strukturelle Veränderungen zu bewirken. Anstatt anzuerkennen, dass es Wege gibt, um dem Klimawandel entgegenzuwirken, verweist man gern darauf, dass diese Wege zu aufwändig oder zu kostenintensiv seien. 

Der Handelsdiskurs dagegen könnte, um eine wirtschaftliche Neuausrichtung zu erreichen, zumindest bezüglich bestimmter Partner einen Hauch mehr Pessimismus vertragen. Denn obwohl es intensive Bemühungen auf Seiten der Europäischen Kommission gibt, scheinen große privatwirtschaftliche Akteure anhand national abgemilderter Diskurse nicht auf eine Kursänderung zu setzen. 

 

Erweiterter Sicherheitsbegriff

Im zweiten Schritt sollte es vermieden werden, Interessen gegeneinander auszuspielen. „Ohne Sicherheit ist alles nichts“ ist in Regierungskreisen zu einer Art geflügeltem Satz geworden. Richtig so. Doch auch diese Erkenntnis ist nicht viel wert, wenn Politikfelder weiterhin aus den jeweiligen Silos betrachtet und gestaltet werden. Zu oft verweisen Politikerinnen und Politiker darauf, dass ökologische und ökonomische Resilienz nicht ohne Wohlstandsverluste zu erreichen seien.

Doch in einer Welt, in der die einen Staaten ihre zentralen Positionen in ökonomischen Netzwerken ausnutzen, um andere Staaten unter Druck zu setzen, wird wirtschaftliche Sicherheit immer mehr zur Voraussetzung für Sicherheit an sich. So gehören zum heutigen Sicherheitsbegriff nicht mehr nur das Militär, sondern auch die Ökologie – und als jüngste Ergänzung eben der Handel. Natürlich bedarf es, um Resilienz in all diesen Bereichen zu ­schaffen, großer finanzieller Anstrengungen. Doch sollten diese Kosten – auch in Haushaltsdebatten – nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern vielmehr als Teil ein- und derselben Gleichung verstanden werden. 

Um alle Variablen ebenbürtig unterzubringen, wird eine offenere Auseinandersetzung um ein Ende der Schuldenbremse nötig sein. Ein solches Ende fordern längst nicht nur heterodoxe Ökonominnen; auch der wirtschaftsliberale Bundesverband der Deutschen Industrie sieht einen öffentlichen Investitionsbedarf von 400 Milliarden Euro. Langfristig würden sich diese mit dem Einsatz für übergeordnete Ziele einhergehenden Investitionen und das Zusammendenken verschiedener Politikfelder auszahlen; ja, sie würden geradezu alternativlos, wenn die Erde ein sicherer, bewohnbarer Ort für Tiere, Pflanzen und Menschen bleiben soll. 

Im dritten Schritt muss es darum gehen, gemeinsam übergeordnete Ziele zu entwickeln und in Regierungshandeln umzusetzen. Dass sich Klimaschutz und Wirtschaft seit 2021 unterm Dach desselben Ministeriums befinden, ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich Politiksilos aufbrechen ­lassen. Doch bedarf es nicht nur mehr Kooperation innerhalb der Ressorts, sondern auch über die Ministerien hinweg. Wenn der Spiegel die Außenministerin als Köchin und den Kanzler als Koch porträtiert, die um den gleichen außenpolitischen „Brei“ konkurrieren, dann ist das ein stilistisch angreifbares, aber passendes Bild. Zu oft kämpfen die Ressorts um Einfluss oder Ressourcen und verlieren die übergeordneten Ziele aus den Augen. 

Ein ähnliches Muster lässt sich auf supranationaler Ebene erkennen. Etwa, wenn deutsche Minister europäische Bestrebungen zu einem vereinheitlichten und schärferen Sexualstrafrecht blockieren. Oder wenn einzelne Minister dazu drängen, das EU-Lieferkettengesetz abzuschwächen – das ja unter anderem dazu dienen soll, Lieferanten in der chinesischen Region Xinjiang für Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen. Besonders beim Thema China müssen immer wieder die vermeintlichen Gewinneinbußen für Unternehmen als Begründung fürs Nichthandeln herhalten. 

Gleichzeitig scheint die EU nicht ganz so besorgt, wenn es um die Kosten geht, die dem Globalen Süden durch den CO₂-Grenz­ausgleichsmechanismus erwachsen. Die Unzufriedenheit über derlei Doppelmoral führt dazu, dass die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas weniger auf EU-Gelder vertrauen, die zudem an hohe Bedingungen geknüpft sind, sondern eher auf Invest­ments und Unterstützung aus Peking oder Moskau setzen, etwa über die Neue Seidenstraße oder von der berüchtigten russischen Wagner-Truppe. 

Um Glaubwürdigkeit zu bewahren, gilt es für Deutschland und EU, die berühmte Augenhöhe zwischen allen Beteiligten zu suchen. Nur so können Ziele gemeinsam definiert, artikuliert und verfolgt werden. 

Offener Umgang mit Risiken

Im vierten Schritt sollten Vorbereitungen für das Schlimmste getroffen werden, ohne die Hoffnung auf das Beste zu verlieren. Mehr als zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die gesamte Ukraine ist in der deutschen Politik eine Art Katerstimmung eingekehrt. Während auf der einen Seite eine große Nüchternheit darüber herrscht, was nicht (mehr) funktioniert – beispielsweise eine Politik der Beschwichtigung –, bereiten Fragen darüber, was stattdessen möglich wäre, erhebliche Kopfschmerzen. Wie in diesem Text ausgeführt, bezieht sich das insbesondere auf die Frage, wie sich bisherige Handlungsmaximen überholen lassen. Um darüber Klarheit zu erlangen, bietet es sich an, mehr War Games und Szenarioanalysen durchzuführen – und zwar unter Einbindung aller Ressorts und in Kooperation mit verschiedenen externen Partnern, um der Silobildung entgegenzuwirken.

Die Angst vor Alarmstimmung sollte der Auseinandersetzung mit besonders dystopischen Zukünften nicht im Wege stehen. Stattdessen gilt es, der Bevölkerung zu kommunizieren, dass eine Auseinandersetzung mit Gefahren dazu dient, diesen entgegenzuwirken. Das hat den angenehmen Nebeneffekt, dass Bürgerinnen und Bürger, die geneigt wären, aus Sorge um ihre Zukunft für extremistische Parteien zu stimmen, die Möglichkeit erhalten, sich aktiv in Gestaltungsdebatten einzubringen.

Ein offener Umgang mit Risiken ist zudem unverzichtbar, um möglicherweise gefährliche Rivalen abschrecken zu können und um ein Image der Naivität zu vermeiden. Neben der Beschäftigung mit potenziellen Bedrohungen ist aber auch die Identifikation von Chancen und Lösungsansätzen essenziell. Hier kann die Zukunftsforschung, die verschiedene Disziplinen der Natur-, Sozial- und Humanwissenschaften miteinander verknüpft, eine wichtige Rolle spielen. 

Der evidenzbasierte Ansatz erlaubt es, eine Balance zwischen nüchternen Analysen und real möglichen, optimistischen Zukunftsbildern zu finden. Denn eines ist gewiss: Am Ende freuen sich gemeinhin auch diejenigen auf ihren Urlaub, die eine Reiserücktrittsversicherung abschließen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2024, S. 106-111

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Nora Kürzdörfer arbeitet als Researcherin und Anniversary Fellow im Programm Globale Ordnungen und Außenpolitiken am German Institute for Global and Area Studies (GIGA), Hamburg. Mit diesem Text hat sie den Sylke-Tempel-
Essaypreis 2024 gewonnen.