Titelthema

26. Juni 2023

Drei Säulen für ein neues Europa

Eine erneuerte Sicherheitsarchitektur, die Strafverfolgung der russischen Kriegsverbrecher und die Stärkung des Wertefundaments werden den Kontinent festigen.

Der Großangriff Russlands auf die Ukraine hat Europa und die Welt erschüttert. Dieser Krieg wird die Zukunft Europas prägen und das Jahrhundert bestimmen. Die Machtverhältnisse werden sich verschieben, eine neue Sicherheitsarchitektur wird entstehen, das internationale Strafrecht wird vervollständigt und das moralische Fundament Europas gestärkt werden.



Die Dimension der Veränderungen ist klar, aber ob sie sich zum Besseren oder zum Schlechteren hin vollziehen, hängt von unserem heutigen Handeln ab, sowohl als Regierungen als auch als Gesellschaften. Die Zeitenwende zu durchleben bedeutet, Verantwortung für die Welt zu übernehmen, die wir unseren Kindern übergeben werden. Es gilt, schwierige Entscheidungen unter Bedingungen zu treffen, in denen die bisherigen Strategien gescheitert sind, halbherzige Maßnahmen zu kurz greifen und es wenig Zeit für gründliche Reflexion gibt.



Wir begrüßen die Veränderungen in der deutschen Haltung im Verlauf des vergangenen Jahres, einschließlich der Kehrtwende von Bundeskanzler Olaf Scholz in Bezug auf die militärische Unterstützung der Ukraine und des Eingeständnisses von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dass in der deutschen Russland-Politik Fehler gemacht wurden. Dies sind Schritte in die richtige Richtung und zeugen von Deutschlands Superpower – seiner Fähigkeit zur Selbstreflexion, zum Eingeständnis von Fehlern und zum Umsteuern.



Auf den Einstellungswandel müssen Taten folgen. Deutschland hat bereits entscheidende Schritte getan, beispielsweise indem es den EU-Kandidatenstatus für die Ukraine befürwortet und Leopard-Panzer geliefert hat. Wir sind Deutschland für seine Unterstützung außerordentlich dankbar. Zwei weitere zentrale Entscheidungen, die getroffen werden müssen, sind die Festlegung eines klaren Weges zur Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO und die Einrichtung eines Sondertribunals für die Straftat der militärischen Aggression.



Der Sieg der Ukraine im Krieg, seine Mitgliedschaft in NATO und EU und das Urteil des Sondertribunals werden eine neue europäische Realität schaffen.

Wenn alle drei Säulen stehen, wird Europa ein Kontinent des Friedens sein, gestützt auf starke Verteidigung und Abschreckung statt auf Entwaffnung und Appeasement. Es wird ein Kontinent des Wohlstands sein, gestützt auf intensivere und vielfältigere wirtschaftliche Verbindungen nach Asien und Afrika statt auf politische Korruption mit Russland. Es wird ein Kontinent der grünen Energie statt der Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen und Atomenergie sein. Schließlich wird Europa ein Kontinent der Gerechtigkeit sein, auf dem der größte Angriffskrieg des 21. Jahrhunderts nicht nur scheiterte, sondern auch verfolgt und bestraft wurde.



In diesem Sinne bildet die Zeitenwende einen Übergang von der Vergangenheit zu dieser neuen Wirklichkeit – und keinen Endpunkt. Es ist wichtig zu verstehen, welche Faktoren uns in diese schwierige Zeit geführt haben, und die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.



Deutsche Irrtümer

Russlands völkermörderischer Krieg gegen die Ukraine hat seine Ursprünge in der Vergangenheit. Wladimir Putins Russland ist nicht über Nacht zu dem aggressiven, revanchistischen Regime geworden, das es heute ist. Dem Krieg gingen Jahre voraus, in denen Freiheiten innerhalb Russlands unterdrückt wurden, Jahre der toxischen Propaganda gegen die Ukraine und den Westen. Jahre der Blindheit im Westen, was den wahren Kurs Russlands betraf – begründet in dem Wunsch, mit Russland wie bisher Geschäfte tätigen zu können. Nicht zuletzt waren es Jahre, in denen die Warnungen der Ukraine und anderer mitteleuropäischer und baltischer Staaten mutwillig ignoriert wurden.



Auch die Ukraine trägt einen Teil der Verantwortung, unter anderem durch ihren außenpolitischen Zickzack-Kurs, dem Mangel an entschlossener Transformation und der Schwächung des Militärs während der 2000er Jahre. Doch ist die Ukraine 2014 aufgewacht und seither zu keiner Zeit wieder eingeschlafen, während eine Reihe europäischer Regierungen und Eliten die Augen weiterhin vor den wahren Absichten Russlands verschlossen hielten. Nord ­Stream 2 und andere falsche Entscheidungen, die unter dem Deckmantel „wirtschaftlicher“ Ziele getroffen wurden, nährten das russische Monster weiter. Über die Jahre summierten sich die strategischen Fehler, bis zu jenem dunklen Morgen des 24. Februar 2022, als das Böse seine geballte Kraft gegen die Ukrainer entfesselte.



Die traurige Wahrheit ist, dass dies Russlands und nicht Putins Krieg ist. Gewöhnliche Russen unterstützen mit überwältigender Mehrheit das Vorgehen ihres Präsidenten. Putin und seine Generäle geben die Befehle, aber es sind gewöhnliche Menschen aus ganz Russland, die unschuldige Ukrainer in Butscha, Irpin, Isjum, Mariupol und anderen vom Krieg verwüsteten ukrainischen Städten und Ortschaften abgeschlachtet haben.



Wie kam es dazu, dass die Russen zu treuen Befürwortern und Vollstreckern eines Völkermords wurden? Wir sollten es klar aussprechen: Das Naziregime und Putins Russland unterscheiden sich, und Ersteres war auf einzigartige Weise böse. Aber die Antriebskräfte, die die Köpfe der Menschen mit giftigem Hass füllen, ähneln sich. Im Falle Russlands entstanden sie unmittelbar aus der fehlenden Vergangenheitsbewältigung.



Das totalitäre sowjetische Regime unterschied sich in seinen Methoden nicht vom Naziregime. Aber anders als die Generationen von Deutschen, die sich der historischen Schuld stellten und ihre kollektive Erinnerung aufarbeiteten, haben Millionen Russen das versäumt. Die Verbrechen der Stalin-Zeit sind in Russland niemals wirklich verurteilt, geschweige denn strafrechtlich verfolgt worden. Und was noch abstoßender ist: Stalin wurde verherrlicht, die Menschen legten Blumen an seinen Denkmälern ab. Es wurden Bücher veröffentlicht, die Stalin als „effektiven Manager“ feierten, der den Krieg gewann, wobei der unmenschliche Preis dieses Sieges ignoriert wurde. Wenn es um die Haltung zu Stalin ging, gab es immer schon große Unterschiede zwischen Russen und Ukrainern, die unter seinem Regime furchtbar zu leiden hatten, einschließlich des Völkermords Holodomor von 1932 bis 1933.



Die Weigerung Russlands, sich seiner Vergangenheit zu stellen, hat verzerrte historische Narrative entstehen lassen. Putin hat den Sieg der alliierten Nationen über den Nationalsozialismus zu einem Sieg Russlands privatisiert und in ein ideologisches Werkzeug seines Regimes verwandelt. Statt der Opfer des Krieges zu gedenken, schuf die russische Propaganda einen bizarren Kult. An die Stelle des weltweit akzeptierten Mottos „Nie wieder“ setzen die Russen den Spruch: „Wir können das wiederholen“ und stellen Parallelen zwischen Putins Militarismus und den „Taten der Großväter“ her.



Es ist schmerzhaft, dass Europa das Entstehen eines neuen Faschismus verschlafen hat. Zum Glück erkennen immer mehr, was Russland tatsächlich ist, und die internationale Gemeinschaft reagiert angemessen. Anders als in den 1930er Jahren ist die Welt zur Besinnung gekommen und unterstützt die Ukraine tatkräftig, auch mit militärischer Hilfe, der Verhängung von Sanktionen, der Isolierung Russlands und der Gewährung humanitärer und finanzieller Hilfe.



Dieses Mal weiß die Welt, dass die russische Aggression scheitern muss und dass die Ukraine als die sich verteidigende Nation gewinnen muss, damit der Krieg dort aufhört, wo er angefangen hat, und nicht auf andere Nationen übergreift.



Die Zeitenwende wird uns nur dann zu einer neuen Wirklichkeit des strategischen Friedens und des Wohlstands führen, wenn Deutschland und andere Nationen nicht zulassen, dass der Konflikt eingefroren wird, und sie stattdessen die Ukraine so lange unterstützen, bis der letzte russische Soldat vom letzten Quadratmeter ihres international anerkannten Territoriums abgezogen ist.



Der Sieg von Frieden und Gerechtigkeit

Die entsetzlichen Gräueltaten der Russen und der Schrecken eines aggressiven, ungerechten und unprovozierten Krieges sind eine blutende Wunde im Herzen Europas. Diese Wunde muss geheilt werden, und das einzige Heilmittel ist die Gerechtigkeit. Die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden, der Internationale Strafgerichtshof, der Internationale Gerichtshof und andere nationale und internationale Institutionen arbeiten daran, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord zu ahnden.



Auch das Verbrechen der Aggression darf nicht ungestraft bleiben. Wladimir Putin und seine Entourage haben diesen Angriffskrieg angefangen. Dieses schwerste internationale Verbrechen birgt in sich das gesammelte Böse aller nachfolgenden Gräueltaten. Die Verurteilung dieses Verbrechens – zum ersten Mal seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen – wird das System des internationalen Strafrechts vervollständigen und das moralische ­Fundament Europas verstärken. Deutschlands maßgebliche Stimme ist unverzichtbar, um ein arbeitsfähiges Sondertribunal zu schaffen.



Für die Ukraine bedeutet ein Sieg, ihre territoriale Integrität wiederherzustellen und die russischen Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Für Russland bedeutet eine Niederlage einen klaren Zusammenbruch seiner Invasionsstreitkräfte, was die Russen ernüchtern und wie ein Gegenmittel zur giftigen Propaganda wirken wird. Für den Westen bedeutet ein Sieg die Integration der Ukraine in die EU und die NATO, um Stabilität, Frieden und Gerechtigkeit auf dem europäischen Kontinent auf lange Sicht sicherzustellen.



Die Ukraine und Deutschland tragen besondere Verantwortung dafür, Moskaus revanchistischen Ehrgeiz zur Wiederherstellung des russischen Imperiums zu beenden. Erstens, weil unseren beiden Nationen die historische Aufgabe gemein ist, jede Art von Totalitarismus oder Revanchismus zu überwinden. Zweitens, weil es zum großen Teil Ukrainer und Deutsche waren, die im 18. Jahrhundert bei der Schaffung des russischen Reiches geholfen haben. Wir werden es auch sein, die Russlands heutigem imperialistischen Wahn ein Ende setzen werden.



Aus dem Englischen von Bettina Vestring    

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2023, S. 22-25

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Dmytro Kuleba ist Außenminister der Ukraine.