Drei Fragen an … Michel Barnier
Ehemaliger Premierminister Frankreichs
1. Wie erklären Sie die Krise in Ihrem Land?
Seit der Auflösung der National- versammlung im Juni 2024 gibt es keine mehrheitsfähige politische Kraft mehr, es ist eine historisch beispiellose parlamentarische Konstellation. Ich glaube aber nicht, dass die Institutionen der Fünften Republik als solche infrage gestellt sind. Es ist vielmehr die übermäßig vertikale und zentralisierte Art des Regierens, die zur Kluft zwischen den Erwartungen der Bürger und einem Staat beiträgt, der als abgekoppelt von der Realität und als ineffizient wahrgenommen wird. Als Premierminister habe ich versucht, dieses Misstrauen zu bekämpfen und alle politischen und sozialen Partner respektiert. Denn jeder muss sich berücksichtigt fühlen.
2. Welche Erwartungen hat Paris an die neue Bundesregierung, was könnte sie besser machen?
Für die Partner Deutschlands ist es schwierig, genau zu wissen, welche Position Berlin insbesondere in der Außen- oder Verteidigungspolitik vertritt, da die regierende Koalition dysfunktional geworden ist. Es besteht ein Bedarf an Klarheit und Kohärenz. Und wir haben unterschiedliche Ansätze bei großen Herausforderungen wie Energie, wo ein pragmatischerer Ansatz willkommen wäre. Die französische und die deutsche Politik müssen sich darauf einigen, dass Wettbewerbsfähigkeit und strategische Investitionen, insbesondere in Technologien, Energie und Verteidigung, auf europäischer Ebene Priorität haben sollten.
3. Wie sehen Sie Frankreichs Rolle in der Welt in zehn Jahren?
Auf globaler Ebene befinden wir uns in einer so volatilen Übergangsphase, dass Prognosen eher schwierig sind. Frankreich steht, wie die anderen europäischen Länder, vor immensen Herausforderungen, was die wirtschaftliche und technologische Wettbewerbsfähigkeit angeht. Das Risiko, gegenüber den USA oder China ins Hintertreffen zu geraten, besteht und muss zu einer sofortigen, starken Reaktion aller Europäer führen. In einer Welt, in der kommerzielle, militärische und ideologische Polarisierung brutaler wird, glaube ich, dass Frankreich und Europa eine eigene Identität behaupten müssen, um nicht Kunden, Vasallen oder Dienstleister anderer Mächte zu werden.