Titelthema

24. Juni 2024

Digitale Schlachtfelder

Die Bekämpfung von Desinformation nach dem Angriff der Hamas ist eine globale Herausforderung. Nehmen wir sie endlich an.

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Nach den Terroranschlägen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hatte man das Gefühl, dass sich ein Paradigmenwechsel vollzogen hatte. Die Gewissheiten über den Konflikt im Nahen Osten schienen sich in Luft aufzu­lösen. Jetzt, Monate später, fühlen sich Jüdinnen und Juden weltweit von einem Konflikt bedroht, der für viele von ihnen Tausende Kilometer entfernt ist. Dieses Gefühl der Bedrohung kann zumindest teilweise auf eine Welle der Desinformation zurückgeführt werden, die nach der Hamas-Attacke nicht nur über Europa und die Vereinigten Staaten hinwegfegte.

Kim Stoller, Vorsitzende des Internationalen Instituts für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung (IIBSA) mit Sitz in Berlin, fasst es so zusammen: „Nach dem Hamas-Anschlag vom 7. Oktober wurde digitale Desinformation dazu genutzt, die Aktionen der Hamas zu verherrlichen und die Opfer zu entmenschlichen – das war zum Beispiel auf Telegram deutlich zu sehen. Und auch auf TikTok wurden schnell Falschinformationen verbreitet, wie etwa angebliche Angriffe anderer Staaten auf Israel oder eine vermeintliche Mobilisierung der Türkei gegen Israel. 

Falschmeldungen zu angeblichen russischen Angriffen auf Tel Aviv kamen derweil womöglich aus China. Reaktionen von israelischer Seite wurden erfunden oder massiv verfälscht, beispielsweise durch die Verwendung von KI-generierten Videoclips oder Fotos palästinensischer Opfer. Oft wurden dabei Kinder oder Mütter als Opfer ­dargestellt. Vor allem in der westlichen Welt zielten diese Kampagnen darauf ab, Unterstützung für die Hamas zu gewinnen und gegen Israel zu mobilisieren. 

Der Iran unterstützte solche Narrative, indem er Online-Propaganda verbreitete und so die öffentliche Meinung manipulierte. Die Analyse ergab, dass viele Beiträge von gefälschten Konten stammten, was auf die Beteiligung staatlicher Akteure hindeutet. Untersuchungen legen nahe, dass ein erheblicher Teil der Interaktionen in den sozialen Medien unmittelbar nach dem 7. Oktober im Zusammenhang mit diesem Tag von protostaatlichen oder staatlichen Akteuren initiiert wurde.“

Darüber hinaus nutzen die Täter des 7. Oktober Social-Media-Plattformen, um den Anschlag auf zwei verschiedene Arten zu kommentieren: entweder mit Leugnung oder mit Verherrlichung. Dieser zweigleisige Ansatz zeigt die komplexe Dynamik von Falschinformationen im Netz: Einerseits versuchen die Täter, ihre Taten zu verschleiern, andererseits wollen sie Gleichgesinnte gewinnen, die mit ihrer Sache sympathisieren. 

Vor diesem Hintergrund soll dieser Text einige der Dynamiken erörtern, die die digitale Des­information prägen, insbesondere in Bezug auf die Terroranschläge der Hamas. Zunächst werde ich Israels Verhältnis zum Thema Sicherheit untersuchen und daraus Thesen zur gesellschaftlichen Widerstandsfähigkeit gegen Desinformation ab­leiten. Anschließend werde ich die Falsch­informationen, die nach dem 7. Oktober im digitalen Raum verbreitet wurden, nach ihren vier Hauptquellen bewerten: der Hamas, der Hamas nahestehende Gruppierungen, dem wachsenden Antisemitismus und den Medien generell. Abschließend werde ich auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse praktische Vorschläge zur Bekämpfung von Desinformation machen.


Israels Verständnis von Sicherheit

Um beurteilen zu können, wie sich digitale Desinformation auf die israelische Gesellschaft auswirkt, müssen wir zunächst verstehen, wie Israelis überhaupt zum Thema Sicherheit stehen. 

Die geopolitische Lage Israels prägt das tägliche Leben seiner Bürgerinnen und Bürger. Überall gibt es Schutzbunker. Aufgrund der vergleichsweise kleinen Staatsfläche Israels kennt hier jeder jemanden, der von den Hamas-Angriffen am 7. Oktober direkt betroffen war. 

Nach den Anschlägen hat sich die israelische Zivilgesellschaft sehr schnell mobilisiert und leistete mitunter rascher Hilfe als der Staat selbst. So verwandelten beispielsweise diejenigen, die in der Woche zuvor noch großangelegte Proteste gegen die rechtsgerichtete Regierung organisiert hatten, ihr Hauptquartier spontan in ein Organisationszentrum für Hilfsmaßnahmen. Restaurantküchen im ganzen Land wurden auf ­koschere Produktion umgestellt, um den Standards der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) zu entsprechen, in denen sowohl säkulare als auch religiöse Jüdinnen und Juden dienen. Die Effizienz und die Nachhaltigkeit der israelischen Reaktion auf die Anschläge vom 7. Oktober basierten also ganz maßgeblich auf der Widerstandsfähigkeit der ­Zivilgesellschaft.

Laut Dan Schueftan, Leiter des internationalen Graduiertenprogramms für nationale Sicherheit an der Universität Haifa, ist diese Widerstandsfähigkeit tief in der israelischen Geschichte verwurzelt und für Europäer nur schwer zu verstehen: „Die europäischen Länder sind nicht von feindlichen und radikalen Kräften umgeben. Es gibt eine unmittelbare Bedrohung durch Russland, vielleicht durch Weißrussland, aber die Europäer befinden sich nicht inmitten eines feindlich gesinnten Umfelds – und sie verfügen nicht über eine solche innere Widerstandsfähigkeit wie Israel. Wenn ein europäisches Land sich in der aktuellen Situation Israels wiederfinden würde, dann wäre es nicht in der Lage, die Art von Kraft zu entwickeln, die die israelische Gesellschaft an den Tag legt.“

Schueftan glaubt, dass diese Widerstandskraft, die auf einem sehr spezifischen kulturellen Verständnis von Sicherheit beruht, Israelis auch weniger anfällig für Desinformation macht. In Bezug auf diejenigen, die Desinformation verbreiten, argumentiert Schueftan, dass „ihr Einfluss in Israel praktisch gleich Null ist. Sie kollaborieren mit den Feinden Israels, und die Geschichte, die sie sich selbst erzählen, ist, dass sie auf diese Weise den Frieden bringen werden. Sie könnten genauso gut behaupten, dass die Erde eine Scheibe ist.“ Die Israelis seien so sehr auf die Aufrechterhaltung ihrer eigenen Sicherheit bedacht, so Schueftan, dass Gegenreaktionen quasi irrelevant sind – ein weiterer Faktor, der die Auswirkungen von Desinformation im Land seiner Meinung nach verringert. Für ihn übertrifft die Notwendigkeit, den potenziellen Feinden Israels an allen Fronten Stärke zu demonstrieren, alle anderen Überlegungen. Er merkt dazu an: „Die Europäer werden sich beschweren. Wir werden sie ignorieren.“

Die besondere Widerstandsfähigkeit, die sich auch nach den Angriffen zeigte, ist in Israels Gesellschaft tief verwurzelt

Israels Fähigkeit, Druck von außen zu widerstehen, sogar von Seiten seiner Verbündeten, kann als integraler Bestandteil der Haltung des Landes nach dem 7. Oktober verstanden werden. Wenngleich Benjamin Netanjahus Regierung versuchen wird, Freunden im Ausland entgegenzukommen, damit die internationale Unterstützung für sein Land keinen allzu großen Schaden nimmt. An dieser Stelle beeinflusst die ­Informationssphäre tatsächlich Israels Handlungsfähigkeit. Dan Schueftan erklärt das so: „Wir stehen vor einem Problem, das aus einer Kombination aus Antisemitismus, Dummheit und der Unfähigkeit resultiert, den Unterschied zwischen dem Umfeld in Europa und dem Umfeld in Israel zu erkennen.“

Es gibt natürlich auch Gründe, dieser Perspektive zum Thema Sicherheit nicht zuzustimmen. Einige Faktoren sind wohl nur auf die beson­dere Lage Israels anwendbar, und das israelische Sicherheitsverständnis ist ein besonderes. In Deutschland wird Sicherheitspolitik eher als Expertenthema gesehen und nicht als politische Frage, die von den Menschen selbst behandelt werden kann. Denn obwohl die Zivilgesellschaft in Deutschland zum Beispiel wichtige Aufgaben im Katastrophenschutz übernimmt, bleibt die Katastrophenhilfe insgesamt eine Domäne des Staates. In dem sich verändernden internationalen Umfeld verändern sich zwar einige überkommene Wahrheiten des deutschen Sicherheitsverständnisses; dennoch ist Deutschland noch weit entfernt von der widerstandsfähigen Gesellschaft, die es in Israel gibt. 


Desinformation nach dem 7. Oktober ...

Was im Internet nach dem Angriff der Hamas auf Israel geschah, kann auf den ersten Blick verwirrend erscheinen. Um den Überblick zu behalten, werde ich die im Netz kursierenden Falschinformationen anhand der Quellen bewerten, aus denen sie stammen. Dabei ist zu beachten, dass diese Unterscheidungen nicht trennscharf sind. 


... von Seiten der Hamas

Hamas-Kämpfer benutzten Kopfkameras, um ihre Gräueltaten zu filmen. Die Verbreitung von Gewaltbildern war und ist Teil der Hamas-Strategie. Arik Segal, ein in Kanada geborener und in Israel aufgewachsener Mediator, Dozent und Erzieher, geht sogar noch weiter. Er sagt rückblickend: „Als der Krieg begann, sahen wir alle diese schrecklichen Videos von Hinrichtungen und Massakern. Es ist kein Zufall, dass sie mit GoPro-Kameras aufgenommen wurden. Die Hamas-Kämpfer wussten, dass sie nicht ganz Israel erobern können – aber sie können den Kampf um die Narrative gewinnen. Wenn sie also die richtige Informationskriegführung einsetzen und den Israelis das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit nehmen, dann können sie tatsächlich gewinnen.“

Diese Perspektive gibt Aufschluss darüber, wie moderne Technologien der Kommunikation, des Informationsaustauschs und sogar der Freizeitgestaltung den Einsatz von Massengewalt im 21. Jahrhundert prägen. Seit Jahren sprechen Wissenschaftler in diesem Zusammenhang von „Gamification“ – einem Begriff, der beschreibt, wie moderne Technologie genutzt wird, um Spiel­elemente in die analoge Welt zu integrieren.

Die Täter verwenden zwei Narrative: zum einen das der furchterregenden Zurschaustellung von Massengewalt, zum anderen das der Rolle des ­Opfers aufgrund der ­Aggression Israels

Die Ich-Perspektive vieler Videos, die von Hamas-Kämpfern bei ihrem Angriff auf Israel aufgenommen wurden, kann als ein Element dieser Entwicklung gesehen werden. ­Gamifica­tion sollte vor diesem Hintergrund keinesfalls mit Assozia­tionen wie „spielerisch“ oder „verspielt“ einhergehen. Im Gegenteil, die Hamas hatte nie Scheu, auf ihren Kanälen mit ihren Gräueltaten zu prahlen. 

Arik Segal ist der Meinung, dass sich das im Laufe der Zeit zwar änderte, aber nicht, weil die Hamas begann, Reue zu zeigen: „Am Anfang verbreiteten sie so viel Material, wie sie konnten. Als sie merkten, dass es ihnen schaden könnte, hörten sie damit auf und verschickten nur noch bestimmte Videos, die zu ihrem Narrativ passen. Anfangs gingen sie das Risiko absichtlich ein, weil das strategische Ziel darin bestand, die gesamte Achse aus Iran, Hisbollah und anderen dazu zu bringen, sich ihnen anzuschließen und Israel zu bekämpfen.“ Der spätere Strategiewechsel kann auch als Reaktion der Hamas auf den ersten weltweiten Aufschrei über die Gewalttaten der Terroristen am 7. Oktober gesehen werden. 

Gleichzeitig erforderte auch die militärische Reaktion Israels auf den Angriff eine andere ­Darstellung der Hamas. Immerhin war es nun ein wichtiges Ziel der Organisation, internationalen Druck auf Israel zu erzeugen und so ein Ende der Gegenangriffe zu erwirken. Als die ersten Geiseln freigelassen wurden, missbrauchte die Hamas die Freilassung für eigene Desinformationszwecke und erweckte den falschen Eindruck, die Geiseln seien „glücklich und gut behandelt“ worden. 

Es gibt also zwei Narrative, die von den Tätern verwendet werden: erstens das einer prahlerischen und furchterregenden Zurschaustellung von Massengewalt und zweitens das der Opferrolle aufgrund der Überreaktion bzw. Aggression Israels. Letzteres ist oft von antikolonialer Rhetorik 
durchdrungen, die ein klares Bild von Unter­drücker und Unterdrückten zeichnet.


... von Gruppierungen, die der Hamas nahestehen

Der Hamas nahestehende Gruppierungen haben die Botschaft der Terrororganisation seit dem ersten Tag des Krieges, der auf ihre Anschläge vom 7. Oktober folgte, verstärkt. So hat die Hisbollah zum Beispiel die Ansichten der Hamas immer wieder aufgegriffen, auch wenn sie es – zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Textes – noch nicht wagte, vergleichbare Angriffe auf den Norden Israels durchzuführen. Mit der Hisbollah verbündete Kanäle, etwa auf der Social-Media-App Telegram, benutzten zunächst eine Art triumphale Rhetorik, bevor sie dazu übergingen, das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung hervorzuheben, das durch Israels Reaktion auf die Hamas-Angriffe entstanden ist.

Auch Gruppen und Organisationen im Westen schlossen sich der anfänglichen Rhetorik der Hamas an. Dies zeigt sich beispielsweise an den Aktionen von „Palestine Speaks“ in Deutschland oder einer großen Anzahl von Studentengruppen an der Harvard-Universität am Tag der Anschläge. Beide waren schnell dabei, Israel für seine Militäraktionen zu verurteilen – zu einem Zeitpunkt, als die IDF noch damit beschäftigt waren, die Kontrolle über die an den Gazastreifen angrenzenden Gemeinden wiederherzustellen – oder zugleich die Angriffe der Hamas zu feiern. Ein Beitrag von „Palestine Speaks“ von diesem Tag lautete: „Gaza ist gerade aus dem Gefängnis ausgebrochen.“


... aufgrund von Antisemitismus 

Das führt uns zu einer dritten Quelle, aus der sich ein Großteil der Reaktionen auf den 7. Oktober und damit verbundene Desinformation speist: Antisemitismus. Laut „Decoding Antisemitism“, einem Forschungsprojekt, das sich mit digitalen Formen des Antisemitismus befasst, „haben die Online-Reaktionen auf die Hamas-Angriffe vom 7. Oktober und die anschließenden israelischen Operationen in Gaza alles übertroffen, was das Projekt bisher erlebt hat. In keiner vorangegangenen Eskalationsphase des arabisch-israelischen Konflikts umfasste die vorherrschende antisemitische Reaktion offenen Jubel und Freude über den Tod von israelischen Juden.“ 

Andere angesehene Nichtregierungsorganisa­tionen wie die Amadeo Antonio Stiftung kamen zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Tatsächlich gehen alle von mir befragten Expertinnen und Experten davon aus, dass Antisemitismus eine treibende Kraft hinter der Desinformation und ihrem Erfolg in der westlichen Welt und in den sozialen Medien ist. So fand der grassierende ­Antisemitismus der Hamas ein Publikum, das bereit war zuzuhören.

Bedeutende linke Intellektuelle haben sich seither gegen die gedämpfte und bisweilen feierliche Reaktion linker Gruppen auf die Anschläge der Hamas ausgesprochen. Viele von ihnen haben auf den schwindelerregenden Anstieg des Anti­semitismus nach dem 7. Oktober hingewiesen. Dieser Anstieg kann natürlich nicht allein der Linken angelastet werden. Auch Rechtsextremisten haben den 7. Oktober für ihre eigenen Desinformationszwecke genutzt. Und gerade Islamisten gehören zu den Kräften, die den wachsenden Antisemitismus vorantreiben.

Kim Stoller vom IIBSA stellt in diesem Zusammenhang fest: „Desinformation spielt im Nahost-Konflikt eine Schlüsselrolle, da sie dazu dient, die internationale Wahrnehmung und Meinung zu beeinflussen. In Deutschland manifestiert sich dies in der Verbreitung von Falschinformationen in den sozialen Medien, die meiner Meinung nach zeitweise als Katalysator gewirkt haben, der die Proteste auf deutschen Straßen massiv beeinflusst und zu massiver Gewalt und Radikalisierung geführt hat.“

... in den Medien

In seinem Artikel „How Media Outlets Like Haaretz Are Weaponized in the Fake News Wars Over Israel and Hamas“ (Wie Medien wie Haaretz in dem Fake-News-Krieg um Israel und die Hamas instrumentalisiert werden), der am 4. Dezember 2023 in Haaretz veröffentlicht wurde, weist der israelische Journalist Omer Benjakob darauf hin, dass renommierte internationale Publikationen unwissentlich zu Desinformationskampagnen beitragen können. So gehörte die New York Times zehn Tage nach dem Angriff der Hamas auf Israel zu den ersten Medien, die über einen angeblichen israelischen Angriff auf das Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza berichteten. Innerhalb weniger Stunden kamen Zweifel an den ersten Berichten auf. Israel leugnete jeglichen – absichtlichen oder versehentlichen – Angriff. Schließlich stellte sich heraus, dass das Krankenhaus höchstwahrscheinlich von einer fehlgezündeten Rakete getroffen wurde, die vom Palästinensischen Islamischen Dschihad abgeschossen worden war. 

Dieser Fall verdeutlicht die Schwierigkeiten der Berichterstattung in einem unsicheren Umfeld im Zeitalter von manipulierten Fakten und Fake News. Er zeigt auch die Tendenz der großen Nachrichtenagenturen, der schnellen Veröffentlichung mitunter den Vorrang vor einer sorgfältigen Prüfung zu geben – und für viele ist das ein Hinweis auf eine gewisse Voreingenommenheit, die es seit Langem in der Berichterstattung über Israel gibt. 

Israel versucht seit Langem, Desinformation mit strategischer Kommunikation zu begegnen. Digitale Propaganda soll aufgedeckt und in bestimmten Fällen auch bekämpft werden

Es kann als Teil der Hamas-Strategie betrachtet werden, sich das heutige Nachrichtenumfeld zunutze zu machen. So wird die Zahl der zivilen Opfer von dem palästinensischen Gesundheitsministerium gemeldet, dessen Name zwar neu­tral klingt, das jedoch von der Hamas kontrolliert wird. Große internationale Nachrichtenagenturen beziehen sich auf diese Zahlen und zitieren täglich eine Terrororganisation, oft ohne sie als unzuverlässige Quelle zu kennzeichnen. Am deutlichsten wird dies an der Art und Weise, wie das besagte Gesundheitsministerium die Zahl der zivilen Opfer berechnet: Es addiert oder subtrahiert keine Kämpfer zu seiner Liste der zivilen Opfer. Das schmälert nicht das schreckliche und sehr reale Leiden der Zivilbevölkerung in den israelisch besetzten Gebieten. Aber es wirkt sich darauf aus, wie der Konflikt dargestellt wird.

Israel hingegen versucht seit Langem, Desinformation mit strategischer Kommunikation zu begegnen. Kim Stoller sagt über diesen Ansatz: „Israel stützt sich auf die Expertise von Analyse­instituten und Technologieunternehmen, um digitale Desinformation zu identifizieren und aufzudecken. Außerdem findet ein Austausch mit großen Plattformen statt. Die Organisationen untersuchen soziale Medien und digitale Plattformen, um Desinformation und Propaganda aufzudecken und in einigen Fällen zu bekämpfen.“

Arye Sharuz Shalicar, bis Mai 2024 Sprecher der israelischen Verteidigungsstreitkräfte und IDF-Reservist, fügt hinzu: „Wir als IDF-Sprecher tun alles, was wir können, um den Menschen in der ganzen Welt die Realität hier vor Ort näher zu bringen – sei es mit Interviews oder Videos. Menschen, die uns hier besuchen, zeigen wir die Orte, an denen der Terror passiert ist. Und natürlich sprechen wir über die Geiseln, das ist zentral. Es sollte keine Frage sein, wer im Recht ist und wer nicht, wer Täter ist in diesem aktuellen Konflikt.“

Neben den IDF-Sprechern und dem israelischen Außenministerium gibt es zahlreiche freiberuf­liche und ehrenamtliche Akteure, die sich auf die Überprüfung von Fakten und die Widerlegung anti­-israelischer Darstellungen konzentrieren. Alle Experten, mit denen ich gesprochen habe, lobten ihre Bemühungen, bezweifeln aber, dass sie effektiv sein können. Arye Shalicar erklärt dazu: „Leider funktioniert das nicht, weil die Menschen glauben, was sie glauben wollen. Die Algorithmen in den sozialen Medien schicken einem das, woran man glauben will.“ 

Arik Segal hingegen zeigt sich optimistisch, dass es wirksame Strategien gegen digitale Desinformation gibt. „Wir müssen zeigen, wie die Hamas, die Hisbollah und andere radikale Terror­organisationen mit dem islamischen Regime im Iran und anderen Akteuren in der Region und in der Welt verbunden sind“, stellt er fest und verweist auf pro-ukrainische Initiativen als positives Beispiel. 


Lektionen und Empfehlungen

Ich habe in diesem Text dargelegt, dass Israels Sicherheitsverständnis seinen Umgang mit Desinformation beeinflusst, und ich habe die nach den Anschlägen vom 7. Oktober weit verbreitete Desinformation analysiert. Doch wie können wir solche Falschinformationen wirksam bekämpfen?

Zuallererst müssen wir endlich erkennen, wie ernst das Problem der digitalen Desinforma­tion geworden ist. Und dann müssen wir die hier beschriebenen Schritte tatsächlich gehen. Die meisten dieser Empfehlungen mögen bekannt klingen, doch in vielen Bereichen müssen noch erhebliche Fortschritte erzielt werden.


Tech-Giganten zwingen, mehr gegen digitale ­Desinformation zu tun

Arik Segal spricht eine Meinung aus, die von den meisten Expertinnen und Experten, mit denen ich gesprochen habe, geteilt wird: „Ich glaube, dass es auch wichtig ist, Druck auf die großen Tech-Unternehmen auszuüben, was die Moderation ihrer Inhalte angeht.“ Die Tech-Giganten zu zwingen, mehr Ressourcen in die Bekämpfung digitaler Desinformation zu investieren, steht schon lange auf der Prioritätenliste derjenigen, die in diesem Bereich tätig sind. Bisher wurde hier allerdings nur sehr wenig getan.


Die Bedeutung digitaler Erzählungen erkennen

Heutzutage ist die Informationskriegführung ein integraler Bestandteil des Schlachtfelds. Trotz systematischer und nachhaltiger Bemühungen der IDF-Sprecher ist es Israel bisher nicht gelungen, die „Schlacht der Narrative“ zu gewinnen. Wir müssen erkennen, dass digitale Narrative über Konflikte in einer vernetzten Welt die innere Sicherheit beeinflussen können. Für die Bewältigung aktueller Krisen und die Vorbereitung auf die Zukunft ist das eine wichtige Lektion, die sich diejenigen zu Herzen nehmen müssen, die aktiv zur Aufrechterhaltung der Sicherheit des Westens beitragen wollen – auch in Deutschland.


Antisemitismus besser definieren

Wir können beobachten, dass Desinformation häufig bestehende Vorurteile nutzt, um Narrative zu schüren, Wahrnehmungen zu beeinflussen und die Oberhand in Informationsschlachten zu gewinnen. Antisemitismus ist dabei ein idealer Nährboden für eine Terrororganisation wie die Hamas. Antisemitismus ist seit dem Mittelalter Teil der europäischen Kultur, und seine hässlichen Folgen sind für Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt noch immer spürbar, unabhängig von ihrer Haltung gegenüber Israel. Dennoch gibt es keinen Konsens darüber, was mit Antisemitismus gemeint ist. Daher könnte meines Erachtens eine weitgehende Übernahme der von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) verwendeten Arbeitsdefinition des Begriffs dazu beitragen, ein gemeinsames Verständnis des Phänomens Antisemitismus zu etablieren oder zumindest einen Ausgangspunkt für eine nuancierte Diskussion des Themas zu schaffen.


Terroristische Organisationen an­prangern

Ich bin der Meinung, dass alle, die sich zum Nahost-Konflikt äußern, beginnen sollten, die Hamas, den Iran und ihre Stellvertreter als das zu benennen, was sie sind. Das gilt insbesondere auch für das palästinensische Gesundheitsministerium – das ein Flügel einer antisemitischen islamistischen Terrororganisa­tion ist – sowie für die Hisbollah und die Huthi-­Rebellen, die Stellvertreter des israelfeindlichen Regimes in Teheran sind.

Den Ernst der Lage erkennen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen ziehen: Desinformation kann auf den verschiedensten Ebenen bekämpft werden – wir müssen endlich handeln! 


Slow News schätzen lernen

In der heutigen schnelllebigen Nachrichtenwelt müssen wir uns klarmachen, dass eine langsamere Berichterstattung eine gute Sache sein kann. Wie das Beispiel der Ungenauigkeiten in den ersten Berichten über die Explosion im Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza zeigt, hätte es erhebliche Auswirkungen haben können, dem Drang zu widerstehen, Gerüchte als Tatsachen zu melden. Das hätte auch dazu beitragen können, Demonstrationen zu verhindern, insbesondere in vielen Ländern der arabischen Welt. Als Nachrichtenkonsumenten sollten wir uns diese Lektion ebenfalls zu Herzen nehmen und uns auf die ausführliche Bericht­erstattung glaubwürdiger Nachrichtenagenturen konzentrieren, anstatt den Eilmeldungen auf unseren Handys hinterherzulaufen.


Von der Ukraine lernen

So wie die Hamas von Russlands digitalen Desinformationskampagnen gelernt hat, sollten wir von der ukrainischen Reaktion lernen. Zwar ist eine gewissenhaftere Berichterstattung der großen Nachrichtensender ebenfalls wichtig; es gibt aber auch positive Beispiele für andere digitale In­strumente, die wir selbst nutzen können. Das zeigt nicht zuletzt das Beispiel der North Atlantic Fella Organization (siehe Infobox auf S. 60).


Social-Media-Kompetenz fördern

Jüngste Forschungen über Antisemitismus, unter anderem von Monika Hübscher, stützen die Annahme, dass soziale Medienkompetenz eine Maßnahme gegen Desinformation sein kann. Dennoch bieten Deutschland und andere Länder eine derartige Ausbildung nur zögerlich an. Die Bildung junger Menschen muss jedoch eine Priorität sein – und auch Menschen, die nicht zu den „Digital Natives“ zählen, können von derartigen Schulungen profitieren. Regierungen sollten die Beherrschung der modernen digitalen Kommunikation als eine Voraussetzung für das gesellschaftliche Miteinander betrachten, ähnlich wie sie es bereits mit der klassischen Lese- und Schreibkompetenz tun. Dadurch würde das Problem der digitalen Desinformation endlich auch zu einer dringenden nationalen Herausforderung werden. 


Fazit

Es ist offensichtlich, dass wir als Gesellschaft auf die Welle der Desinformation nach dem 7. Oktober nicht vorbereitet waren. Ich habe veranschaulicht, dass nicht nur böswillige Akteure wie die Hamas die digitale Desinformation vorangetrieben haben, sondern auch per se vertrauenswürdige Nachrichtenportale. Außerdem habe ich gezeigt, wie Falschinformationen, die aus einem Angriff auf Israel resultieren, die Sicherheit der Menschen in Deutschland beeinflussen können, etwa indem sie Proteste auslösen, die zu Gewalt und Radikalisierung führen. 

Zahlreiche Einzelpersonen, Projekte, Forscherinnen und zivilgesellschaftliche Akteure haben jedoch dargelegt, dass wir effiziente und sinnvolle Wege finden können, um der Desinformation entgegenzuwirken. Wir sollten ihre Erkenntnisse in die Praxis umsetzen.  

 

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 3, Juli/August 2024, S. 54-63

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Themen und Regionen

Moritz Golombek studierte Kriminologie in Hamburg sowie Holocaust and Genocide Studies in Uppsala. Seine Interessenschwerpunkte liegen bei Verschwörungsideologien und Desinformation in sozialen Netzwerken. Moritz engagiert sich aktiv für die deutsch-israelischen Beziehungen, so unter anderem bei der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Als Wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt er sich zudem mit Demokratieförderung.