IP

01. Juli 2016

„Die Zukunft planen, flexibel bleiben“

Interview mit dem Ökonom Eugene Kandel

Wenn eine Gesellschaft im Laufe ihrer Geschichte gelernt hat, sich an neue Entwicklungen anzupassen, dann ist es die israelische. Das ist auch nötig in einer Zeit, die ständig neue Herausforderungen von Klimawandel bis digitale Revolution bereithält. Wie Israels Wirtschaftsstrategie künftig aussehen wird, verrät der Regierungsberater Eugene Kandel im IP-Gespräch.

Internationale Politik: Herr Kandel, wenn Sie einem Außenstehenden die Hauptcharakteristika der israelischen Wirtschaft schildern sollten, welche wären das?
Eugene Kandel: Wenn wir ein vernünftiges Bild der israelischen Wirtschaft zeichnen wollen, ist es wenig sinnvoll, mit Durchschnittswerten zu operieren – es sind die gravierenden Unterschiede, die sie ausmachen. Die Wirtschaft ist im Grunde dreigeteilt. 10 Prozent der Bevölkerung sind Ultraorthodoxe, 20 Prozent Araber. Aus historischen Gründen sind diese zwei Ökonomien von der Hauptökonomie abgetrennt – und sie sind wenig produktiv. Der Teil der Wirtschaft, der am produktivsten und exportorientiertesten ist, macht zwischen 16 und 20 Prozent der Gesamtökonomie aus.

IP: Und das ist alles, was mit Hightech zu tun hat?
Kandel: Alles, was mit Innovation zu tun hat. Medizinisches Gerät, Landwirtschaftstechnik, Internet. Es dürfte kaum ein Land auf der Welt geben, das so klein ist und über 300 Standorte von Hightech-Firmen aus aller Welt beherbergt.

IP: Wann hat diese Dreiteilung der Wirtschaft ihren Anfang gehabt?
Kandel: Das war in den achtziger Jahren. Als wir uns Gedanken darüber machten, was wir gegen die Hyperinflation unternehmen könnten, die wir bis 1985 hatten, war eine unserer Entscheidungen, die Wirtschaft bewusst für Importe zu öffnen. Und als der Wettbewerb eröffnet war, haben ein paar Leute ihre Laufschuhe angezogen, ein paar sind weitergegangen, und einige haben sich entschieden, stehen zu bleiben und auf den Bus zu warten.

IP: Wie ließe sich diese Dreiteilung denn überwinden?
Kandel: Vor allem brauchen wir regulatorische und politische Stabilität. Es darf nicht passieren, dass wir die Regeln nach Lust und Laune setzen – der Kardinalfehler der Vergangenheit. Zum Glück hat die derzeitige Regierung eine Strategie.

IP: Wie sieht die aus?
Kandel: Grundlage unserer Strategie sind folgende Erkenntnisse: Wir befinden uns in einer Phase, die jede Menge Entwicklungen bereithält, die wir vorher nicht kannten: hohe Schulden und niedrige Wachstumsraten, Überalterung der Gesellschaft, das Erstarken von Schwellenländern, den Klimawandel und so weiter. Und dann ist da noch der wichtigste Teil: die Technologie und der Wust von Informationen, die wir sammeln. Das wird die Art, in der wir Wirtschaftspolitik betreiben, vollkommen ändern und sich auch auf Firmen und Arbeitsplätze auswirken. Ob das jetzt zu einer hohen Arbeitslosigkeit führen wird, wissen wir nicht, aber es wird die Menschen ganz schön durchschütteln. Jede dieser Entwicklungen würde eine Gesellschaft für sich genommen auf die Probe stellen, zusammengenommen könnten sie ein ganz schönes Durcheinander anrichten. Die Unsicherheit wird steigen, es wird einen beständigen Wandel geben. Da trifft es sich ganz gut, dass es aus historischen Gründen quasi in der israelischen Kultur liegt, sich raschem Wandel anzupassen.

IP: Wenn es eine Gesellschaft gibt, die stets dazu gezwungen war, das zu tun, dann ist es die israelische …
Kandel: Genau. Improvisieren, niemals zufrieden sein, immer besser werden – das sind alles wichtige Fertigkeiten in einer Welt, die im raschen Wandel ist. Und wir brauchen unbedingt Wachstum, aus einer ganzen Reihe von Gründen. Ein paar habe ich schon genannt: die Dreiteilung der Bevölkerung, die Alterung der Gesellschaft. Hinzu kommt das konstant hohe Verteidigungsbudget. Was sollen wir tun – die Steuern erhöhen und die staatlichen Leistungen zurückfahren? Das wird nicht funktionieren. Es ist ein so kleiner Bevölkerungsanteil, der die Wirtschaft trägt, den können wir nicht noch stärker besteuern. Die bezahlen jetzt schon 75 bis 80 Prozent der Einkommenssteuern. Im Gegenteil, wir müssen die staatlichen Leistungen verbessern und die Steuern senken. Statt Steuern brauchen wir Wachstumsideen. Und wie schafft man das in einer Welt voller Unsicherheit? Die Antwort lautet Flexibilität. Man muss die Welt strategisch analysieren und die Zukunft planen, aber gleichzeitig flexibel bleiben.

IP: Ein Beispiel?
Kandel: Nehmen Sie unsere Raketenabwehr „Iron Dome“. Wir wussten, dass unsere Nachbarn sich mit verschiedenen Arten von Raketen bewaffneten. Wir wussten, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem sie sie gegen uns richten würden; aber wir wussten nicht wann, und wir wussten nicht von wo. Wie löst man ein solches Problem? Man baut ein Element der Flexibilität in sein System. Man baut einen Iron Dome, eine Eisenkuppel. Das ist ein extrem flexibles System, das gleichzeitig strategisch auf einen sehr langen Zeitraum ausgelegt ist.

IP: Sehen Sie für Deutschlands Wirtschaft, insbesondere den deutschen Mittelstand, Möglichkeiten, an die israelische Innovationsökonomie anzudocken?
Kandel: Das wäre für beide Seiten von großem Nutzen. Kleine und mittlere Unternehmen wie die deutschen sind viel schneller in der Entscheidungsfindung und viel besser darin, neue Technologien aufzugreifen. Und von den Israelis könnten sie lernen, unkonventionell, oder nennen wir es ruhig: „verrückt“ zu denken. Allerdings sehen wir es kritisch, dass israelische Start-ups gar nicht mehr an Israel als ihren potenziellen Markt denken. Die haben nur New York, Berlin, London, Tokio oder Schanghai vor Augen. Aber das ist immerhin ein Zeichen dafür, wie überwältigend das Interesse an Israel und seinen Produkten geworden ist.

IP: Da wir über Exporte sprechen: Wenn Israel seine Exportstrategie ein bisschen wie eine Spinne im Netz betreibt – mit Filialen an verschiedenen Orten, einer Diversifizierung seiner Produkte etc. –, dann stellt sich irgendwann die Frage nach dem Personal. Nun sind ja die menschlichen Ressourcen des Landes letztlich begrenzt, und die Entwicklung von neuen Märkten ist keine ganz einfache Sache; das lässt sich nicht immer auf der Basis von Improvisation bewerkstelligen. Wie bekommen Sie das hin?
Kandel: Die Entwicklung neuer Märkte muss man nicht unbedingt mit Israelis machen; wir arbeiten mit Zehntausenden von Menschen vor Ort zusammen. Das größere Problem ist, dass uns die Entwickler ausgehen, vor allem in Sachen Technologie. Und das, während die Zahl der Technologiefirmen rasant wächst. Zurzeit haben wir etwa 7000 dieser Firmen, die meisten davon eher kleine Unternehmen. Ungefähr 1000 Firmen kommen jedes Jahr dazu, rund 400 gehen Pleite. Dazu kommen noch rund 19 neue multinationale Ideen-Schmieden pro Jahr. Dadurch erwächst ein großer Bedarf nach Humankapital. In den neunziger Jahren hatten wir das Glück, dass über eine Million Menschen aus der früheren Sowjetunion kamen, darunter sehr viele Mathematiker und Ingenieure. Aber auch heute haben wir ein ähnliches Potenzial. Zurzeit rekrutiert sich dieses wirtschaftliche System aus 40 Prozent der Bevölkerung. Wenn wir es schaffen, diejenigen Teile der Bevölkerung, die bislang nicht ausreichend in die Wirtschaft integriert sind – wie die Frauen, die Araber, die Ultraorthodoxen – in Ausbildung und Berufe zu bringen, dann sind wir ein ganzes Stück weiter.

IP: Wie kann das gelingen?
Kandel: Nur über die Technik. Wir können diese Menschen nicht alle in Klassenräumen unterrichten. Das muss größtenteils online geschehen.

Das Gespräch wurde moderiert von der IP-Redaktion

Prof. Dr. Eugene Kandel, geboren 1959 in Moskau, ist ein israelischer Wirtschaftswissenschaftler. Derzeit ist er Vorsitzender des israelischen Nationalen Wirtschaftsrats unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.

Bibliografische Angaben

IP Länderporträt 2, Juli - Oktober 2016, S. 13-17

Teilen

Themen und Regionen