IP Special

04. Nov. 2022

Die Zukunft ist zirkulär

„Von der Wiege zur Wiege“ statt Wegwerfwirtschaft: Weltweit beginnen Start-ups, Großunternehmen und Agrarbetriebe die Abkehr von überkommenen ökonomischen Modellen. Deutschland hinkt da noch ein wenig hinterher.

Bild
Schematische Darstellung von herkömmlicher Wirtschaft, Recycling und Kreislaufwirtschaft
Von der Linear- zur Kreislaufwirtschaft: Eine Grafik von Wasser 3.0, einer gemeinnützigen Organisation, die an Lösungen zur Entfernung von Mikroplastik aus Gewässern arbeitet.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Das weißgetünchte Erdgeschoss eines grauen Plattenbaus in der Landsberger Allee, einer Verkehrsachse im Osten Berlins. Ein breites Ladenfenster. Eine Aluminiumtür mit Glaseinsatz, wie sie für Berliner Plattenbauten nicht unüblich ist. Unscheinbarer könnte die Außenansicht vom C2C Lab nicht sein. Wer sollte vermuten, dass sich hier ein Zukunftslaboratorium befindet? Ein Ort, an dem man sieht, „wie die Welt von morgen aussehen kann“? So stellt Tim Janßen, geschäftsführender Vorstand und Mitgründer der „Cradle to Cradle NGO“, den Sitz der gemeinnützigen Organisation vor. Sie existiert seit 2012, seit 2014 hat sie ein Büro in Berlin, seit 2019 ihren Sitz in der Landsberger Allee 99c. 2018 mieteten die Gründer die Ladenwohnung und ließen die Räume sanieren – nach Cradle-to-cradle-Prinzipien.

Cradle to cradle – von der Wiege zur Wiege – ist die Formel für ein nachhaltiges Design, die der Chemiker Michael Braungart und der amerikanische Architekt William McDonough 2002 in ihrem gleichnamigen Buch entwickelt haben: Produkte sollten künftig so entworfen werden, dass sie entweder in den „biologischen Kreislauf“, die sogenannte Biosphäre, oder in den „technischen Kreislauf“ zurückgeführt werden können. Sprich: Sie sollten entweder biologisch abbaubar oder demontierbar sein. Letztere könnte man nach Gebrauch in Einzelteile zerlegen, neu zusammenstellen und anderweitig nutzen – auf diese Weise würde man die Materialien lange im Wirtschaftskreislauf halten.

Unsere Wirtschaft funktioniere heute nach dem Prinzip „Von der Wiege zur Bahre“, sagt Tim Jan­ßen. Nach dem Gebrauch werde jedes Produkt zum Abfall. Somit gingen die für dessen Herstellung benötigten Rohstoffe für immer verloren, die Umweltverschmutzung durch Schrott und Müll schreite voran. „Es geht darum, mit einer anderen Perspektive auf die Dinge zu schauen. Wir sehen alles um uns herum als Rohstoff, als Nährstoff, und wir wollen in Zukunft Produkte entwickeln, die nie Müll werden, deren Materialien immer wertvoll bleiben und natürlich gesund sind.“

Wandel zum Anfassen

Dass das funktionieren kann, soll im C2C Lab laut Janßen „erlebbar, geradezu anfassbar“ werden. Das Zukunftslaboratorium wartet mit Glaswänden auf, die in komplett demontierbare Aluminiumrahmen eingefasst sind. Glasplatten und Aluminiumstreben können entnommen und woanders eingebaut werden. Der Holzboden ist nicht an den Estrich geklebt, sondern „schwimmverlegt“: Man kann ihn einfach abnehmen und in ein anderes Gebäude einsetzen. So auch der Teppichboden, der überdies Feinstaub bindet. „Der Teppich reinigt unsere Luft hier“, so Janßen. Auch die Elektrogeräte im C2C Lab sind „cradle to cradle“: Die NGO hat sie nicht gekauft, sondern geliehen – sollte man sie nicht mehr brauchen, würde der Hersteller die Geräte zurücknehmen und weiter verleihen. Es geht darum, ein Beispiel zu liefern für die Cradle-to-cradle-Idee.

„Cradle to Cradle“ versteht sich in dieser Hinsicht als Antreiber und Multiplikator. Man arbeitet mit Unternehmen an der Entwicklung von Cradle-to-cradle-Produkten und veranstaltet Seminare, Vorträge und Kongresse rund um Cradle-to-cradle und Circular Economy. Denn „Cradle to cradle ist der Weg“, sagt Janßen. „Circular Economy ist das Ziel.“ Es geht also nicht nur um eine Verfahrensweise zur Entwicklung umweltfreundlicher Produkte, sondern um die komplette Umkehr von unserem auf endlosen Ressourcenverbrauch fixierten Wirtschaftsmodell.

Planetarer Notstand

Dass eine solche Kehrtwende notwendig ist, dürfte heute kaum jemand mehr bestreiten. Hatte 1972 der erste Bericht des Club of Rome mit dem Titel „The Limits to Growth“ davor gewarnt, dass die Menschheit durch ungebremstes Wirtschaftswachstum die physikalischen Grenzen der Erde überschreiten werde, läuten die Autoren des jüngst erschienenen zweiten Berichts „Earth for all – a Survival Guide for Humanity“ bereits die Sturmglocken: „Wir können nicht ausschließen, dass die Erde bereits mehrere Kipppunkte überschritten hat. Aus diesen Gründen können wir unsere derzeitige Situation als einen planetaren Notstand bezeichnen.“

Und glaubt man den vorhandenen Daten und Entwicklungsprognosen, dürfte sich die Lage eher noch verschärfen. Nach einer Studie der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 wird die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2050 auf 9,7 Milliarden Menschen anwachsen. Um unseren derzeitigen Lebensstil und unsere Konsumgewohnheiten aufrechtzuerhalten, würden dann die Ressourcen von drei Erden gebraucht. Bis 2060, so die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), wird sich der weltweite Rohstoffverbrauch verdoppeln, während das Müllaufkommen laut Angaben der Weltbank bis 2050 um 70 Prozent steigen wird. Und da die Förderung und Verarbeitung von Rohstoffen 50 Prozent der globalen Treibhausgas­emissionen und über 90 Prozent des Verlusts der Artenvielfalt verursachen, ist es offensichtlich, dass Ressourcenverbrauch, Klimaerwärmung und Umweltzerstörung Hand in Hand gehen.

Eine Vorahnung von alledem trieb Wissenschaftler schon in den 1960er Jahren um. Damals tauchten in der Fachliteratur Vorschläge für ein nachhaltigeres Wirtschaften auf, die dann in die Idee der Circular Economy einflossen. Als erste wirkliche Ausarbeitung des Konzepts gilt der 1989 erschienene Essay „Economics of Natural Resources and the Environment“ der britischen Wirtschaftswissenschaftler David W. Pearce und Robert Kerry Turner. Durch ein zirkuläres Wirtschaften, das Reststoffe in die Wertschöpfungskette zurückführt, schrieben die Autoren, könnte der Einsatz von neuen Rohstoffen bei der Fertigung von Produkten reduziert und die Umweltverschmutzung durch Müll gestoppt werden.

Die Gebote der Circular Econonmy

Dennoch bleibt der Begriff Circular Economy bis heute unscharf. Die deutsche Übersetzung „Kreislaufwirtschaft“ greift deshalb zu kurz, weil sie seit dem Inkrafttreten des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes 1996 immer auf die Abfallwirtschaft bezogen wurde – wenn auch auf eine Abfallwirtschaft, die nicht nur auf die Beseitigung, sondern auch auf die Vermeidung und Verwertung von Abfällen durch Recycling zielt. Aber in der Circular Economy ist Recycling das letzte Mittel der Wahl. Und Müll – der sollte erst gar nicht entstehen. „Das erste Prinzip der Circular Economy ist, Müll und Umweltverschmutzung zu eliminieren“, heißt es bei der Ellen MacArthur Foundation. 2010 von der Weltumseglerin Ellen Mac­Arthur mit Partnern aus der Wirtschaft gegründet, verfolgt die Stiftung das Ziel, den Wandel hin zu einem zirkulären Wirtschaftssystem zu beschleunigen – und zwar in Zusammenarbeit mit Unternehmen und Konzernen.

Denn das unterscheidet die Befürworter der Circular Economy von anderen Umweltaktivisten: Während diese zum Schutz von Natur und Klima Konsumverzicht einfordern, einschließlich der Drosselung wirtschaftlicher Aktivitäten, geht es den Verfechtern der Circular Economy darum, das Wirtschaftswachstum vom Ressourcen- und Energieverbrauch zu entkoppeln. Dazu sollte man einfach anders wirtschaften als in der linearen Wirtschaft.

„Wir leben in einer Take-make-­waste-Wirtschaft, was man als Wegwerfwirtschaft übersetzen könnte“, erklärt Phoebe Blackburn, Beraterin für Kommunika­tion und Circular Economy. „Das heißt: Da werden Rohstoffe extrahiert, aus diesen Rohstoffen werden Waren hergestellt, vertrieben, genutzt und oft leider schon nach kurzem Gebrauch weggeschmissen.“

In einer Circular Economy würden Rohstoffe und Produkte hingegen so lange wie möglich im Wirtschaftskreislauf gehalten, sodass Ressourcen gespart werden und Müll vermieden wird. Gegenstände würden so hergestellt, dass sie lange halten und repariert werden können. Die sieben Gebote der Circular Economy lauten nämlich: Erhalten, Teilen, Wiederverwenden, Reparieren, Renovieren, Wiederaufarbeiten, und, als allerletztes Mittel, weil es am meisten Energie verbraucht, Recyclen. ­Methoden, durch die sich erhebliche Materialkosten sparen lassen, aus denen aber auch geschäftliche Tätigkeiten resultieren können.

Laut der Studie „Towards the Circular Economy: Economic and Business Ratio­nale for an Accelerated Transition“, die die Ellen MacArthur Foundation 2013 bei Mc­Kinsey in Auftrag gegeben hat, würden durch Circular-Economy-Verfahren allein in der Verarbeitungsindustrie der EU bis zu 380 Milliarden Dollar an Materialkosten in der Übergangsphase gespart, in einem fortgeschrittenen Szenario bis zu 630 Milliarden Dollar. Die Europäische Kommis­sion, die 2020 den „Circular Economy Action Plan“ als zweite Säule des ein Jahr zuvor lancierten European Green Deal vorgelegt hat, rechnet mit der Entstehung von 700 000 neuen Arbeitsplätzen in neuen „zirkulären“ Geschäftsfeldern.

Nachahmung des Naturkreislaufs

Der dritte Grundsatz der Circular Economy ist – laut der Ellen MacArthur Foundation, die den umfassendsten Leitfaden für ein zirkuläres Wirtschaftsmodell erstellt hat – die Regenerierung der Natur. Das bedeutet, zu landwirtschaftlichen Praktiken überzugehen, die die Böden erneuern und die Artenvielfalt fördern, indem sie dem Erdreich intaktes biologisches Material zurückgeben. Also weg von Düngemitteln und Pestiziden und weg von einer intensiven Agrarwirtschaft, die die Böden verseucht und in hohem Maße sauberes Wasser verbraucht. Das wäre die sinnfälligste Umsetzung jener Nachahmung des Naturkreislaufs von Tod und Geburt, die der Circular Economy zugrunde liegt.

Experten zufolge würde die Nahrungsindustrie durch eine solche Umstellung ihre Treibhausgasemissionen bis 2050 halbieren – ein wesentlicher Beitrag zum Klimaschutz, der eben nur zu 55 Prozent durch den Umstieg auf erneuerbare Energien bewältigt werden kann. Circular Economy soll schließlich kein Selbstzweck sein, sondern ein Mittel zur Abwendung der menschengemachten ökologischen Apokalypse.

Verbündete gesucht

Alles Zukunftsmusik, die ohnehin zu spät kommt? Weltweit sind bereits etliche Wirtschaftsakteure dabei, Prinzipien der Circular Economy umzusetzen, von multinationalen Konzernen wie Philips und Renault bis hin zu Agrarbetrieben in São Paulo oder Neuseeland. Deutschland hinkt allerdings noch hinterher.

„Hier hat man unter Kreislaufwirtschaft allzu lange Abfallwirtschaft verstanden“, sagt auch Phoebe Blackburn. Obwohl das Land in punkto Recyclingquoten Vorreiter ist, werden derzeit nur etwa 13 Prozent des Ressourcenverbrauchs durch Sekundärrohstoffe ersetzt. Das ist in der Circular Economy Roadmap für Deutschland zu lesen, die die Circular Economy Initiative Deutschland – eine von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften initiierte Forschungsgruppe – erarbeitet hat.

„Es liegt an der schlechten Qualität der hergestellten Recyclate“, meint Susanne Kadner, die Leiterin der Initiative, aber nicht nur. Das eigentliche Hindernis für eine zirkuläre Wende liege woanders: „Ein einzelnes Unternehmen kann ein zirkuläres Geschäftsmodell entwickeln, aber erst Verbünde von Unternehmen können ein zirkuläres Ökosystem schaffen, in dem diese Geschäftsmodelle in­einandergreifen.“

In der Start-up-Kapitale Berlin scheint ein Kleinunternehmen inzwischen einen Lösungsansatz gefunden zu haben. FixFirst (Repariere es zuerst) heißt die Firma, die Sebastian Daus mit ein paar Mitstreitern 2019 gegründet hat. Dass defekte Haushaltsgeräte heutzutage eher ersetzt als repariert werden, weil Reparaturen zu lange dauern und oft teurer sind als ein Neukauf, ist bekannt. Die FixFirst-Gründer stellten fest, dass lange Wartezeiten und hohe Kosten einen einfachen Grund haben: Hersteller, Zulieferer von Ersatzteilen und Service-Dienstleister arbeiten voneinander getrennt und ohne jeglichen Informationsaustausch.

Um diesem Umstand abzuhelfen, haben die Gründer eine Software entwickelt. Sie dient dazu, Produktdaten zu speichern und sämtliche Schritte eines Reparaturprozesses zu dokumentieren. Die Daten können dann zwischen den Kunden und den an Herstellung und Reparatur beteiligten Unternehmen ausgetauscht werden – ein Werkzeug, um ein zirkuläres Geschäftssystem zu schaffen, in dem mehrere Unternehmen zusammenwirken.

Das sei ihr Beitrag zur Systemwende und zum Klimaschutz, sagt Sebastian Daus: „Es macht einen Unterschied, ob ich ein Produkt zwei oder fünf Jahre nutze, denn 90 Prozent der Emissionen entstehen bei der Herstellung, nicht beim Gebrauch der Produkte. Wir wollen bis 2030 dazu beitragen, das Leben von mindestens einer Milliarde Produkte zu verlängern und über 100 Millionen Tonnen CO2 zu vermeiden.“ Circular Economy wird wohl keine Bio-, sondern eher eine Tech-Wende sein. 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 6, November 2022, S. 59-63

Teilen

Mehr von den Autoren

Aureliana Sorrento lebt und arbeitet als freie Autorin, u.a. für Deutschlandfunk, WDR, SWR und SRF, in Wien.