Die Wiederentdeckung der Führung
Gute Führung scheint dieser Tage eine seltene Tugend zu sein. Dabei sollte sie vor dem Hintergrund aktueller strategischer Herausforderungen eine zentrale Rolle spielen, insbesondere innerhalb der NATO. Was macht eine gute Führungspersönlichkeit aus? Perspektiven aus der Praxis.
Während Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, leistet der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hervorragende Führungsarbeit für seine bedrohte Heimat. Doch wo sonst auf der Welt sind Führungsfiguren wie Selenskyj? Momentan ist das schwer zu sagen. Und wenn man internationale Organisationen wie die NATO betrachtet, zeigt sich in der Beurteilung von Führungsqualität ein doch eher gemischtes Bild.
Im Folgenden möchte ich meine Erfahrungen mit dem Thema Führung darlegen und zehn Erkenntnisse teilen, die ich in den vergangenen drei Jahrzehnten im Rahmen meiner Arbeit in der NATO und der EU gesammelt habe.
Ein guter Anfang – und auch eine gute Möglichkeit, einen Raum mit Führungskräften zum Schweigen zu bringen – ist die Frage: „Warum sollte jemand von Ihnen geführt werden?“ Das ist nicht nur eine ziemlich ernüchternde Frage, sondern auch der Titel eines meiner Lieblingsbücher zum Thema Führung. Und wie viele andere Fragen ist auch diese Frage leichter zu stellen als zu beantworten. Versuchen wir es trotzdem einmal. Was macht also eine gute Führungskraft aus?
Authentisch sein
Um eine Führungspersönlichkeit zu sein, muss man Anhängerinnen und Anhänger haben. Und diese wollen von Menschen geführt werden, nicht von Robotern, Titeln oder Urkunden. Auch scheinen viele Politikerinnen und Politiker sich heutzutage gerne in schier endlosen Monologen und nichtssagendem Gefasel zu verlieren. Opportunismus scheint häufig ein Schlüsselmerkmal für das berufliche Fortkommen zu sein.
Um authentisch zu sein, müssen Führungskräfte aber vor allem mutig und verantwortungsbewusst sein. Und sie sollten in der Lage sein, ihre individuellen Eigenschaften, inklusive ihrer Schwächen und Stärken, zu zeigen. Authentische Führungskräfte sind konsequent. Ihre Worte stimmen mit ihren Taten überein – und ihre Taten sagen mehr als ihre Worte.
Führungskräfte können versuchen, eine Zeit lang so zu tun, als wären sie „jemand anderes“, aber früher oder später fliegen sie damit auf. Trotzdem ist das Streben nach Authentizität nicht immer einfach. Die Kultur vieler Organisationen fördert das Rollenspiel und die Konformität, was der Authentizität eindeutig im Wege steht. Bei NATO-Gipfeln oder Ministertreffen lesen die meisten nationalen Vertreter – oft in schlechtem Englisch – ihre vorbereiteten, verklausulierten Erklärungen ab. Eine echte Diskussion findet bestenfalls außerhalb der eigentlichen Sitzung statt.
Mutig sein
In der Führung geht es darum, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen, und das bedeutet immer auch, Risiken einzugehen. Churchill sagte: „Mut wird zu Recht als die erste der menschlichen Qualitäten angesehen, weil diese Qualität alle anderen garantiert.“ Heutzutage scheint uns jedoch gerade diese Tugend etwas abhandengekommen zu sein. Es herrscht eine Mischung aus Angst, Zaudern und Feigheit vor.
Angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine leistet die Welt weiterhin zu wenig und zu spät Unterstützung – nur um sich später darüber zu beschweren, dass die Ukrainer und Ukrainerinnen bei der Verteidigung ihres Landes nicht die gewünschten Fortschritte machen. Das Hauptargument, das üblicherweise angeführt wird, ist, dass mehr Unterstützung für die Ukraine eine dramatische Reaktion Russlands nach sich ziehen könnte. Dies ist jedoch ein grundlegendes Missverständnis. Präsident Putin agiert nicht auf Basis einer Eskalations- oder Deeskalationsspirale. Vielmehr respektiert er Stärken und nutzt Schwächen aus. Wo immer er kann, schürt er Ängste, Zaudern und Feigheit, um sie zu seinem Vorteil zu nutzen. Viele Menschen in Europa und weltweit sind nur allzu bereit, immer wieder in diese Falle zu tappen.
Wie es der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid kürzlich formulierte: „Wer sich jetzt nach Frieden sehnt, unterstützt diejenigen mit Waffen, die überfallen worden sind. Denn das ist die einzige Sprache, die Gewaltmenschen verstehen. Gewaltmenschen fallen nicht um, weil ihnen jemand Friedensappelle ins Ohr flüstert.“
Bei der Bewältigung von Risiken ist Situationsbewusstsein ein wichtiger Schlüssel. Führungspersönlichkeiten verlassen sich auf ihre Intuition, um den richtigen Zeitpunkt und die richtige Vorgehensweise abzuschätzen. Sie spüren, was vor sich geht oder was auf sie zukommen wird, ohne dass sie alle Aspekte genau kennen. Albert Einstein wusste dies, als er sagte: „Der intuitive Geist ist ein göttliches Geschenk und der rationale Verstand ein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat.“
Bedeutung vermitteln und Begeisterung wecken
Menschen wollen glauben, dass ihre Bemühungen von Bedeutung sind. Dass die Energie und Zeit, die sie in etwas investieren, einen Unterschied machen. Führungskräfte müssen geleistete Beiträge deshalb auf sinnvolle Art und Weise anerkennen und würdigen. Menschen wollen sich als Teil eines größeren Ganzen, einer Gemeinschaft fühlen, und Führungskräfte müssen ihnen helfen, eine Verbindung mit dem übergeordneten Ziel aufzubauen, ihnen den Funken zu geben, der sie zu Leistung anspornt. Führungskräfte, die ihre eigene klare Vision, ihre Leidenschaft und ihre Werte zum Ausdruck bringen, vermitteln Energie und Begeisterung.
Die NATO hat es hier vergleichsweise einfach: Ihre Ziele sind Frieden und Sicherheit – und die Mittel zur Erreichung dieser Ziele sind Abschreckung und Verteidigung, Krisenprävention und -bewältigung sowie kooperative Sicherheit. Und ich kann nach wie vor leidenschaftlich sagen: Frieden zu schaffen, ist von zentraler Bedeutung!
Eine klare Richtung vorgeben
Ich erinnere mich noch genau daran, dass der ehemalige NATO-Generalsekretär Lord Robertson uns an seinem ersten Tag im Amt seine drei wichtigsten Prioritäten nannte: Fähigkeiten, Fähigkeiten und Fähigkeiten. Das war eine klare und wichtige strategische Ausrichtung. Und Robertson hat damals nicht nur geredet, sondern sich während seiner Amtszeit bei der NATO auch an seine Worte gehalten. Nicht alle Staaten haben diesen selbstbewussten Stil geschätzt. Einige witzelten damals, er solle sich daran erinnern, dass seine Berufsbezeichnung „Generalsekretär“ lautet – nicht „General“.
Stereotypen und allgemeingültige Lösungen vermeiden
Wie bei vielen Dingen im Leben gibt es auch bei Führungsaufgaben kein Einheitsrezept. Es gibt kein „Führungskochbuch“, das man einfach anwenden muss, und schon ist alles gut. Führung hängt von der jeweiligen Situation und den Menschen ab, mit denen man zu tun hat – und da sie oft stark vom Kontext abhängt, ist es von grundlegender Bedeutung, ein gutes Gefühl für die Situation zu bekommen. Wenn sich das Umfeld ändert, muss eine gute Führungskraft die neuen Umstände verstehen.
Für Frauen ist es zudem wichtig, das Führungsvorurteil „Frauen kümmern sich und Männer übernehmen die Verantwortung“ zu vermeiden. Denn in Wirklichkeit ist sowohl für Männer als auch für Frauen beides erforderlich. Leider geraten Frauen immer noch zu oft in die sogenannte Einflussfalle: Wenn sie einen eher „fürsorglichen“ Stil pflegen, werden sie oft gemocht, aber nicht als Führungspersönlichkeit angesehen. Umgekehrt werden Frauen, die mehr Bestimmtheit und Durchsetzungsvermögen zeigen, eher als kompetent angesehen, aber nicht als sympathisch oder beliebt.
Eine Führungskraft sollte dementsprechend auch „hartes Einfühlungsvermögen“ an den Tag legen, also den Menschen geben, was sie brauchen, und nicht unbedingt, was sie wollen. Führungspersönlichkeiten müssen sich leidenschaftlich und realistisch in ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder ihre Wählerschaft einfühlen und sich ihnen gegenüber aufrichtig verhalten.
Führung nicht hierarchisch denken
Dies mag zunächst wie eine kleine Provokation klingen, da es von jemandem kommt, der in einer Organisation wie der NATO arbeitet. Doch in dieser Einsicht liegt eine große Chance. Denn im Wesentlichen bedeutet sie, dass es auf jeder Ebene Führungskräfte geben kann. Und sie bedeutet, dass Führung und Führungskräfte auf allen Ebenen einer Organisation zur Stärkung ihrer Leistungsfähigkeit beitragen können. Menschen dazu zu bringen, in ihrem jeweiligen Bereich zu führen, ist ein großer Vorteil.
Mit gutem Beispiel vorangehen
Was vielleicht etwas altmodisch klingt, ist deshalb noch lange nicht weniger relevant. Denn man kann von anderen nicht erwarten, dass sie sich zu großen Leistungen verpflichtet fühlen und bei ihrer Arbeit verantwortungsbewusst und transparent sind, wenn man diese Standards selbst nicht einhält. So verlieren Führungskräfte ihre Glaubwürdigkeit – und eine Führungskraft ohne Glaubwürdigkeit ist schon bald keine echte Führungskraft mehr.
Ein Blick auf die NATO ergibt hier in Sachen Führungsqualität ein eher gemischtes Bild. Denn vor allem die Spitzenpositionen werden oft von nationalen Quoten und Interessen bestimmt und Qualifikationen gelten bestenfalls als zweitrangiges Kriterium. Dies hat im Laufe der Jahrzehnte dazu geführt, dass zu viele Personen mit unzureichenden Führungs- und oft auch mit schlechten Managementqualifikationen in Spitzenpositionen berufen wurden.
Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, sich stets an drei Grundprinzipien zu halten: Behandle die Menschen so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest. Beherzige im Sinne von Immanuel Kant den Grundsatz, Menschen stets als Zweck an sich und niemals nur als Mittel zum Zweck anzusehen. Außerdem gilt, dass Loyalität keine Einbahnstraße ist. Wer will, dass die Menschen ihm gegenüber loyal sind, der muss ihnen gegenüber loyal sein.
Führung ist nicht gleich Management
In der Führung geht es darum, die Richtung vorzugeben und die Menschen zu befähigen, dieser Richtung zu folgen, indem man sie motiviert und inspiriert. Es gilt, „das Richtige zu tun“. Beim Management lautet die Handlungsmaxime wiederum, „die Dinge richtig zu tun“, etwa durch gute Planung und Budgetierung, durch Organisation und Personaleinsatz sowie durch Steuerung und Problemlösung. Führung und Management sollten zwar stets Hand in Hand gehen, aber es gibt keine Garantie dafür, dass dem auch so ist: Es gibt großartige Führungskräfte, die schlechte Manager sind, und ebenso großartige Manager, die schlecht führen.
Sich selbst kennen
Führung beginnt immer im Inneren, das heißt, Führungskräfte können nur dann erfolgreich sein, wenn sie wissen, wer sie sind. Dazu gehört, dass sie ihre Stärken und Schwächen kennen. Und insofern die Schwäche keine fatale Dimension annimmt, kann das Akzeptieren dieser Schwäche oder eines bestimmten Fehlers anderen zeigen, dass jemand menschlich und nahbar ist. Das kann wiederum dabei helfen, Vertrauen aufzubauen und das Engagement zu stärken.
Sich selbst zu kennen, bedeutet gleichzeitig auch, die Faktoren zu kennen, die einen von anderen unterscheiden, und zu verstehen, wie man einige dieser Unterschiede wirksam zur Geltung bringen kann. Es gibt viele Möglichkeiten, dies zu erreichen: Führungspersönlichkeiten können lebhaft und freimütig sein oder das Gegenteil; sie können legere oder elegante Kleidung tragen; oder sie können sich mit einem Slogan oder einer Schlüsselbotschaft in Verbindung bringen. Wichtig ist es, ein individuelles Profil zu haben.
Es geht also darum, die „natürliche“ Spannung zwischen Individualismus auf der einen und Konformismus auf der anderen Seite zu bewältigen. Um sich selbst zu verstehen, sollten deshalb immer Feedback und konstruktive Kritik eingeholt werden. Ein 360-Grad-Feedback und Freunde oder Familienmitglieder, die ab und zu ihre eigenen Einschätzungen abgeben, können enorm hilfreich sein – auch (oder gerade), wenn dabei nicht nur lobende Worte fallen.
Die Stärke des Netzwerks und der Kommunikation nutzen
Alle Organisationen sind Netzwerke und bestehen aus formellen und informellen Systemen. Die beste Führungskraft lernt deshalb, sowohl die formellen als auch die informellen (also die „versteckten“) Strukturen zu nutzen, um Feedback einzuholen und positiven Wandel voranzutreiben. Gute Mitglieder in einem Netzwerk sagen die Wahrheit, egal wie unangenehm sie ist. Denn nur ein breites und vielfältiges Netzwerk ermöglicht eine umfassendere Situationswahrnehmung.
Führung hängt also von Beziehungen ab, die wiederum von der Kommunikation abhängen. Führungspersönlichkeiten müssen deshalb den richtigen Kommunikationskanal, den richtigen Inhalt und den richtigen Ton wählen. Manche kommen in einem formellen Rahmen besser zurecht, andere bevorzugen den informellen Austausch.
Logik und Vernunft sind zwar wichtig für die Entwicklung von Strategien – was mehr motiviert, sind jedoch Geschichten und Erzählungen. Gute Narrative involvieren Menschen in eine Herausforderung, in die Verfolgung eines Zieles. Dabei können Führungskräfte Humor, persönliche Erfahrungen oder bestimmte andere Ereignisse verwenden, die Emotionen hervorrufen.
Führung ist weder einfach noch einfach zu beschreiben. Sie kann aus den am wenigsten erwarteten Quellen kommen oder dort fehlen, wo sie am dringendsten gebraucht wird. Heute werden Führungskräfte im Westen in vielerlei Hinsicht auf die Probe gestellt. Noch beunruhigender ist, dass dasselbe auch mit unseren Werten geschieht. Wir leben in Zeiten, die nach mutigen Führungspersönlichkeiten verlangen, die für unsere Werte eintreten.
Die in diesem Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind die der Verfasserin und spiegeln nicht unbedingt die der NATO oder der NATO-Verbündeten wider.
Internationale Politik, online Exklusiv, 27. März 2024
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