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02. März 2018

„Die Welt wird eurasisch“

Interview mit dem früheren portugiesischen Europa-Minister Bruno Maçães

In Zeiten des Kolonialismus war das Verhältnis zwischen dem Westen und Asien zu ungleich, nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man sich wegen des Eisernen Vorhangs Eurasien nicht als integrierten Raum vorstellen. Das ändert sich rapide und hat Folgen für Europa. Der „alte“ Kontinent täte gut daran, sich stärker damit zu beschäftigen, was östlich von ihm passiert.

IP: Herr Maçães, Sie sagen voraus, dass sich Europa in Zukunft an Asien ausrichten wird. Warum?
Bruno Maçães: Die vergangenen 500 Jahre hat sich Europa als das Zentrum der Welt betrachtet. Als die transatlantische Gemeinschaft begründet wurde, war dies ein Konstrukt, das in den politischen Traditionen Europas stand und von europäischen Werten geprägt war. Nun aber kommen wir meiner Auffassung nach an den Punkt, an dem die Idee des europäischen Exzeptionalismus verlischt. Diese besagte, dass wir Modernität – moderne Gesellschaften, moderne Technologien – gemeistert hätten und der Rest der Welt nicht. China beweist gerade, dass das nicht stimmt. Wir treten in eine Welt ein, die im Grunde bipolar ist; auf der einen Seite der westliche Pol, oder die europäische politische Tradition, und auf der anderen Seite der asiatische Pol, der mindestens genauso mächtig ist. Meine These ist nicht, dass die transatlantische Welt verschwindet – diese Frage ist offen, und wir werden sehen, was passiert. Meine These ist vielmehr, dass die Welt keine westliche mehr ist, deren Machtzen­trum, insbesondere in ökonomischer Hinsicht, inmitten des Atlantiks liegt. Das ist vorbei. Die Welt wird eurasisch.

IP: Beruht diese Sicht nicht doch sehr auf geografischem Determinismus?
Maçães: Sie beruht auf verschiedenen Faktoren, insbesondere auf Entwicklungen der Infrastruktur und des globalen Kapitalismus. Es entstehen neue Verbindungen zwischen Europa, oder dem Westen allgemein, und Asien, die es zuvor nicht gab, aus zwei Gründen. In Zeiten des Kolonialismus gab es sie nicht, weil das Verhältnis vollkommen unausgeglichen war. Manche Teile Asiens wurden europäisch, andere wurden tiefste Provinz, abgeschnitten vom Rest der Welt. Für ein paar Jahrhunderte verschwand Asien gewissermaßen aus der Geschichte. Und als sich die Dinge im 20. Jahrhundert zu ändern begannen, gab es diese Verbindungen auch nicht, weil wir den „Eisernen Vorhang“ und den „Bambus-Vorhang“ hatten und es schlicht unmöglich war, sich Eurasien als zusammenhängendes Gebilde zu denken. Nun haben wir eine Konstellation, die es vielleicht zu Zeiten von Dschingis Khan schon einmal gab; mehr spricht allerdings dafür, dass wir in eine völlig neue Welt eintreten, mit ganz neuen Variablen.

IP: Die Führung in Peking beruft sich heute gern auf die Seidenstraße des Mittelalters …
Maçães: … die in der Form, wie heute gedacht wird, nie existiert hat. Sie ist eine romantische Erfindung des 19. Jahrhunderts. Niemand reiste die ganze Strecke von Europa bis an die Pazifik-Küste, mit wenigen Ausnahmen wie Marco Polo, der eben genau aus diesem Grund berühmt geworden ist und in unserer Vorstellungswelt weiterlebt. Tatsächlich war das Volumen des Handels sehr gering, er verlief über eine lange Kette mit vielen, vielen Zwischenstationen. Es gab damals schlicht kein integriertes Eurasien. Die „alte“ Seidenstraße ist ein Fall von „Erfindung von Vergangenheit“. Wenn wir Menschen eine neue Welt schaffen, suchen wir immer in der Vergangenheit nach Fundamenten. Oft sind sie imaginär.

IP: Was macht diese neue eurasische Welt aus? Was definiert sie?
Maçães: Da ist einmal die immense Intensität des heutigen Handels, dann die Rolle der chinesischen Ökonomie für die Weltwirtschaft und die neue Infrastruktur, die bereits geschaffen worden ist. Der Wettbewerb, der von China ausgeht, wird immer bedeutender. Hinzu kommt die Russland-Frage. Russland wendet sich völlig von Europa ab, zum ersten Mal in seiner Geschichte …

IP: … viele in Europa, gerade in der Ukraine, dürften das anders sehen …
Maçães: Ja, aber die russische Intervention in der Ukraine war gewissermaßen der letzte Atemzug des Russlands, das mit Europa verbunden bleiben will. Das Eingreifen dort ist doch ein Desaster für den Kreml – im Gegensatz zu dem in Syrien. Mein Eindruck ist, dass die Lehren, die die russische Führung daraus gezogen hat, eine Tendenz verstärken, die schon vorher da war, dass sich nämlich Russland nach Osten ausrichtet – auf den Mittleren Osten, auf China und Südostasien einschließlich Japans. Ich bin überzeugt, dass das gerade passiert.

Wichtiger noch: Wir leben heute in einer integrierten Welt, die aber keine Konvergenz aufweist. Das hat uns, denke ich, alle überrascht, denn wir im Westen haben immer angenommen, dass je stärker wir integriert sind, je stärker der Rest der Welt zu uns aufholt, er sich umso stärker dem Westen angleichen würde. Aber die anderen haben aufgeholt, ohne sich anzugleichen.

Und so haben wir es mit einer Welt zu tun, deren beide Pole wirtschaftlich und technologisch ähnlich hoch entwickelt sind, wo aber jeweils sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber herrschen, wie Politik und Gesellschaften organisiert sein sollten. Das heißt: Wir leben in einer ziemlich gefährlichen Welt. Zum ersten Mal in der Geschichte sind wir tief miteinander verwoben und zugleich äußerst verschieden.

IP: In China herrscht die Kommunistische Partei, und der Kommunismus ist an sich ja auch ein Import. Ist das Denken dort nicht im Grunde auch westlich durchsetzt, oder haben wir es mit einer ganz anderen Vorstellung von der Welt zu tun?
Maçães: Die chinesische Vorstellung ist sehr verschieden von der unseren. Ja, sie ist modern – aber was meinen wir damit? Sie gründet auf technologischem Fortschritt, auf sozialem Wandel, auf einer permanenten Transformation der Zukunft. Wir haben es mit einer modernen Gesellschaft zu tun, deren Modernität aber eine ganz andere ist als unsere. Der offensichtlichste Unterschied ist das Denken im Kollektiv, das man überall findet – interessanterweise sogar bei der Entwicklung neuer Technologien in China. Wenn man Facebook mit WeChat vergleicht, merkt man, dass WeChat viel kollektiver aufgebaut ist, ab einem gewissen Punkt kann man gar nicht mehr nachvollziehen, wer was sagt; wohingegen bei Facebook viel Wert auf das jeweilige Profil, das eigene Bild gelegt wird. WeChat ist mehr ein kollektiver Bewusstseinsstrom. Deshalb gehe ich davon aus, dass wir verschiedene Arten von Technologie sehen werden, geprägt von einer unterschiedlichen Tradition und Kultur. Und politisch ist China für viele von uns immer noch ein Mysterium. Es ist kein Ort, wo Menschen politische Freiheit genießen, da sollten wir nicht naiv sein. Aber auf der anderen Seite begehen wir einen Fehler, wenn wir nur einfach unser westliches Bild von Autoritarismus und Diktatur auf China projizieren und denken – so ist China. China ist eine andere Realität; das zu verstehen, wird uns einige Zeit kosten. Tatsächlich fangen wir gerade erst an, China zu begreifen.

IP: Viele im Westen überrascht, dass die chinesische Wirtschaft und Gesellschaft trotz der Einschränkung von Freiheiten innovativ sein können.

Maçães: Das stimmt. Dort gibt es Dinge, über die man nicht reden kann. Aber über die Dinge, über die man es kann, ist der Austausch sehr intensiv. Die gesellschaftliche Entwicklung schreitet schnell voran, und es gibt einen Geist, Regeln zu brechen – wohlgemerkt in den Bereichen, die nicht tabu sind. In diesen Kanälen werden Wettbewerb und Austausch ermutigt. Das weicht stark ab von unserer westlichen Vorstellung einer autoritären Gesellschaft. Gerade im ökonomischen Bereich fällt die Geschwindigkeit, mit der alte Regeln gebrochen werden, stark auf; wir im Westen setzen dagegen sehr darauf, dass alles nach bekannten Regeln abläuft, und wir hängen sehr an der Idee der Perfektion.

IP: Was bedeutet das für Europa?
Maçães: Europa findet sich in einer sehr delikaten Lage wieder. Es wird den Druck, der aus China oder dem Osten allgemein kommt, immer stärker spüren. Zugleich ist das Bündnis mit den USA nicht mehr das, was es einmal war. Natürlich hat Europa weiterhin enorme Ressourcen an Wohlstand, Kreativität und Wissen. Aber Europa muss sich stärker der übrigen Welt zuwenden, und ganz besonders Asien. Es muss seine Macht stärker ausspielen. Es muss definieren, welche Ziele es gegenüber Russland und China verfolgt, was es von diesen Staaten will und was nicht. Es muss sich überlegen, in welchen Fragen es eine Auseinandersetzung riskieren will. Und schließlich muss Europa viel mehr darüber nachdenken, was im Osten passiert. Deshalb bin ich sehr skeptisch, was das Vorhaben angeht, in den kommenden zehn Jahren die Vereinigten Staaten von Europa zu bauen. Wir sollten zumindest die Hälfte unserer Zeit darauf verwenden, uns mit dem zu beschäftigen, was östlich von uns passiert.

IP: Wäre Europa dazu nicht besser in der Lage, wenn es stärker integriert wäre?
Maçães: Wir haben die Ressourcen doch bereits. Sie werden nur einfach nicht genutzt. Wir brauchen eine stärkere europäische Außenpolitik – die institutionellen Strukturen dafür sind doch da. Wir sind uns dessen nur nicht bewusst und daher nicht in der Lage, darüber Macht auszuüben. Und wir sind einfach zu selbstfixiert.

IP: Deutschlands Außenminister Sigmar Gabriel hat in einer Rede im Dezember 2017 darauf verwiesen, dass derzeit nur China so etwas wie eine Großstrategie habe, während sie den USA abhandengekommen sei und die Europäer eine solche nie entwickelt hätten. Sehen Sie das auch so?
Maçães: Ich glaube, da schwingt eine gewisse China-Faszination mit. Außenpolitisch war 2017 für Peking ein ziemlich schlechtes Jahr, es hat Fehler über Fehler begangen, vielleicht noch mehr als Washington. Es ist nicht nur so, dass wir wenig über China wissen. Hinzu kommt, dass wir diesem Bild anhängen, dass dort alles mysteriös ablaufe. Alles, war wir nicht verstehen, überschätzen wir deshalb. Mir ist die Gabriel-Rede auch aufgefallen, aber stärker deshalb, weil danach nichts kam – keinerlei Beitrag dazu, wie eine europäische Strategie aussehen könnte; eine einzige Leerstelle. Das scheint mir davon zu zeugen, dass wir lediglich Vorahnungen haben, dass da etwas Wichtiges passiert, dass unsere Beziehungen zu China ziemlich intensiv und ungemütlich werden könnten. Aber klare Vorstellungen davon, was wir tun wollen, die gibt es nicht. Wollen wir die Entwicklungen einfach hinnehmen und uns selbst verändern? Oder wollen wir ihnen widerstehen? Sie gar bekämpfen? Keiner weiß es.

IP: Sie setzen vor allem auf eine europäische Hinwendung nach Asien?
Maçães: Ja. Wir sollten uns viel stärker mit Asien beschäftigen – mit einer halb kooperativen, halb kompetitiven Geisteshaltung. Das wird typisch für die neue, eurasische Welt. Die Lebenswirklichkeit wird immer von einem Hybrid zwischen Zusammenarbeit und Konnektivität auf der einen Seite und Konflikten und Wettbewerb auf der anderen geprägt sein. Selbst die Dinge, die uns zusammenbringen – das Internet, Informationsströme, Migration –, können als Waffen eingesetzt werden. Das ist die Welt, in der wir heute leben.

Das Interview führte Henning Hoff

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2018, S. 14 - 17

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