Titelthema

24. Juni 2024

Die wahre Realpolitik

Feministische Außenpolitik in Zeiten bewaffneter Konflikte: Weder naiv noch illusionär oder utopisch, sondern essenziell und nachhaltig. 

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Bild: Skizze einer Frau mit zugeklebtem Mund
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Kriege, Klimakrise, Bedrohung der Demokratien auf der ganzen Welt durch rechtsextreme Kräfte: Die Welt ist in Unordnung. Was sie jetzt braucht, sind innovative Antworten – traditionelle Außenpolitik hat die Weltgemeinschaft in eine Ära geführt, die durch eine immer größere Anzahl von bewaffneten Konflikten geprägt ist. 

Und doch mag es viele überraschen, dass in einer solchen Lage immer mehr Staaten einen Ansatz der Feministischen Außenpolitik (Feminist Foreign Policy, FFP) verfolgen und damit einen Impuls für einen alternativen internationalen Austausch setzen. Denn die FFP wurde und wird oft kritisiert, weil sie in den Augen ihrer Kritikerinnen und Kritiker blind gegenüber der Realpolitik und ihren Folgen ist. Sie wird als naiv, illusionär und utopisch abgetan. Vor allem vor dem Hintergrund bewaffneter Konflikte ist diese Kritik zuletzt sehr laut geworden. 

Angesichts der Skepsis, die dem vermeintlich idealistischen Ansatz der FFP entgegengebracht wird, wollen wir uns mit dem Potenzial dieser Außenpolitik gerade in Konfliktzeiten befassen. FFP geht über die konventionellen Grenzen einer auf Friedenszeiten zugeschnittenen Soft- ­Power-Strategie hinaus. Sie ist ein unverzichtbares politisches Instrument in Zeiten steigender politischer Spannungen und komplexer multipolarer Konflikte. Das gilt vor allem deshalb, weil die FFP nicht den Anspruch erhebt, absolute oder pauschale Lösungen anzubieten. Stattdessen verkörpert sie ein dynamisches Kontinuum, das kurz-, mittel- und langfristige Perspektiven umfasst und einen flexiblen und entwicklungsfähigen Politikrahmen bietet. All das kann nur Realität werden, wenn die Zivilgesellschaft auf allen Ebenen des Prozesses einbezogen wird. Die FFP und die Zivilgesellschaft beeinflussen sich wechselseitig. Während die FFP die Zivilgesellschaft durch ihren menschenzentrierten Ansatz stärkt, unterstützt die Zivilgesellschaft den transformativen Ansatz der FFP, indem sie als Mittel für einen umfassenden Wandel von unten nach oben dient. 

Dieser Text wurde vor dem Hintergrund verstärkter regionaler und globaler Spannungen nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden bewaffneten Konflikt verfasst. Wir erkennen an, dass sowohl der Terror der Hamas als auch Israels militärische Reaktion im Gazastreifen der Zivilgesellschaft tiefes Leid zugefügt und erhebliche Auswirkungen auf die menschliche Sicherheit haben. Gerade deshalb wollen wir die Rolle der Zivilgesellschaft in Israel näher beleuchten, diese Perspektive mit der FFP zusammenbringen und so das Potenzial der Zivilgesellschaft für die langfristige Friedenskonsolidierung in der Region verdeutlichen.


Konzept der menschlichen Sicherheit

Der traditionelle Sicherheitsansatz basiert auf dem Konzept der staatlichen Sicherheit, das Frieden primär als Abwesenheit von direkter physischer Gewalt definiert. In diesem Sinne stellt auch die Außenpolitik Israels – einer militarisierten Demokratie – die Sicherheit des Staates in den Vordergrund, indem sie sich auf die Schaffung von Sicherheitsbündnissen und den Einsatz von militärischer Gewalt konzentriert. Dieser Ansatz schränkt die multilaterale Zusammenarbeit und die Handlungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft ein. 

Im Gegensatz dazu ist das Konzept der menschlichen Sicherheit deutlich vielschichtiger: Es umfasst etwa das Wohlergehen und den Schutz des Einzelnen vor Bedrohungen, die Achtung der Menschenrechte und eine Ermächtigung der Zivilgesellschaft sowie den Einsatz für einen ganzheitlichen Frieden, der die Beseitigung aller Formen von Gewalt einschließt. Obgleich dieser Ansatz zuweilen als geschlechtsblind kritisiert wird, weil er männliche Erfahrungen in den Vordergrund stelle, bietet er zahlreiche Anknüpfungspunkte zu feministischen Sicherheitsperspektiven. 

Israels Außenpolitik konzentriert sich 
vornehmlich auf die Schaffung von Sicherheitsbündnissen und den Einsatz militärischer Gewalt

Aus dieser Perspektive werden die geschlechtsspezifischen Machtstrukturen und Hierarchien infrage gestellt, die dem Sicherheitsdiskurs innewohnen; Individuen werden als Teil sich überschneidender sozialer Kategorien wie Geschlecht, Ethnie, Klasse und Alter anerkannt. Gewalt wird als vielschichtiges Phänomen gesehen, das physische, strukturelle, kulturelle und psychologische Dimensionen in politischen, wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Bereichen umfasst. 

Die FFP bietet einen alternativen Blickwinkel, mithilfe dessen marginalisierte Stimmen, Erfahrungen und Bedürfnisse besser sichtbar werden. Sie stellt vor diesem Hintergrund Schlüsselfragen wie: Wessen Sicherheit wird gewährleistet, wer definiert Sicherheit, wer wird einbezogen und wer zum Schweigen gebracht? So ermöglicht die FFP ein umfassendes Verständnis von Sicherheit, das verschiedene Gerechtigkeitsperspektiven einschließt und diskriminierenden und unterdrückerischen Machtstrukturen entgegenwirkt. 


Agenten des Wandels

Dass die Bedeutung der Zivilgesellschaft innerhalb des Konzepts der FFP eine zentrale Rolle hat, ist klar. Nicht ganz so klar ist dagegen die Definition des Begriffs selbst. Wir definieren Zivilgesellschaft mit Blick auf die FFP als jene zivilen Gruppen, die sich außerhalb von Regierungsstrukturen und Konzernen bilden und zusammenarbeiten, um gemeinsame Anliegen anzugehen. Wir schließen hier jedoch keine Gruppen ein, die die Demokratie bedrohen oder bewaffnet oder gewalttätig sind. 

Die Zivilgesellschaft ist der Raum, in dem Menschen die gesellschaftliche Dynamik unabhängig von formalen politischen Strukturen aktiv gestalten. Indem wir Zivilgesellschaften als „Agenten des Wandels“ und als „Verbindungsglieder“ innerhalb und zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen definieren, erkennen wir ihre entscheidende Rolle bei der Förderung von gesellschaftlichem Zusammenhalt, Stabilität und Widerstandsfähigkeit an. 

Nach dieser Definition dient die Zivilgesellschaft als wichtige Plattform zur Förderung von Solidarität und kollektivem Handeln gegen Unterdrückung und Diskriminierung. Studien zeigen, dass feministische Ansätze in bewaffneten Konflikten häufig die Lücke füllen, die instabile staatliche Strukturen hinterlassen. Das umfasst die Bereitstellung von Bildungsmöglichkeiten, wirtschaftlicher Hilfe oder psychologischer Unterstützung bei konfliktbedingten Traumata, etwa bei sexueller Gewalt. Im aktuellen israelischen Kontext benötigen Betroffene von sexueller Gewalt psychologische Unterstützung, wie etwa jene, die beim Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober zum Opfer geworden sind.

Zivilgesellschaftliche Teilhabe ist für Frauen und marginalisierte Gruppen, die besonders stark von Konflikten betroffen sind und aufgrund patriarchalischer Systeme von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind, von entscheidender Bedeutung. Hinzu kommt, dass laut Forschung Vereinbarungen, die unter Beteiligung vielfältiger, intersektioneller Akteure aus der Zivilgesellschaft ausgehandelt werden, tendenziell länger Bestand haben. Allerdings kann die Friedensarbeit auch innerhalb der Zivilgesellschaft auf Hürden stoßen, insbesondere aufgrund von ethnisch-nationalen und sozialen Spannungen. Daher ist die Unterstützung der FFP für integrative und intersektionale Dialoge unverzichtbar für die Förderung des Friedens, insbesondere in Zeiten erhöhter sozialer Spannungen und Konflikte.

Trotz der aktuellen Eskalation im Nahost-Konflikt bemühen sich israelische zivilgesellschaftliche Initiativen um die Weiterführung ihrer Projekte und die Förderung von Stabilität und Frieden. Sie tun das, indem sie Geschichten erzählen, Räume für Austausch schaffen und sich dafür engagieren, den Stimmen derjenigen, die vom Krieg betroffen sind, mehr Gewicht zu verleihen. 

Diese Zivilgesellschaft ist breit gefächert und umfasst Jugend-, Frauen- und Bildungsorganisationen, die den zivilen Raum als Raum für Austausch, Debatte und Konfliktlösung verstehen, auch zwischen Israelis und Palästinensern. Die Vertreter einer staatszentrierten und sicherheitsorientierten Innen- und Außenpolitik haben der Zivilgesellschaft jedoch zahlreiche Steine in den Weg gelegt. Seit der Wahl der neuen Regierung im November 2022 hat sich die politische Landschaft in Israel nach rechts verschoben. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Gewaltenteilung und insbesondere auf zivilgesellschaftliche Akteure. 

Die folgenden Fallstudien der Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen in der Region zeigen, dass der zivilgesellschaftliche Ansatz der FFP umfangreicher ist als ein „Mitdenken“ von Frauen oder eine „feminine“ Version“ von Außenpolitik. 


Wie Frauen* Frieden stiften

[*Unter dem Begriff „Frauen“ verstehen wir alle, die sich als Frauen identifizieren, unabhängig von dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht oder ihren biologischen Geschlechtsmerkmalen.]

Women Wage Peace (WWP) ist die größte basisdemokratische Friedensbewegung in Israel. Sie bringt israelische und palästinensische, jüdische und muslimische Frauen zusammen und ist für den Friedensnobelpreis 2024 nominiert worden. WWP wurde 2014 gegründet und setzt sich für eine politische Versöhnung ein, die Frauen in alle Prozesse einbezieht. WWP betrachtet den Frieden als die wesentliche Grundlage für das Leben beider Völker in der Region, die Sicherheit und Freiheit für alle gewährleistet. In einem Interview mit TIME erklärte die WWP-Mitbegründerin und -Leiterin Yael Admi: „Wir haben immer gesagt, dass wir diesen Konflikt so schnell wie möglich lösen müssen, weil er eine tickende Bombe ist – er wird uns alle töten.“

Beim Versuch, friedliche Lösungen zu finden, verfolgt WWP den Ansatz, traditionelle politische Debatten durch die Prinzipien der Gewaltlosigkeit, der Intersektionalität und der Überparteilichkeit zu unterwandern. So organisierte die Bewegung ein Treffen zwischen israelischen und palästinensischen Frauen am Toten Meer, bei dem sie an einem gemeinsam gedeckten Tisch Platz nahmen. Diese Aktion symbolisiert den Willen, die politischen Verhandlungen trotz aller Diskrepanzen wiederaufzunehmen. 

Obwohl nur die Hälfte der Israelis eine Zwei-Staaten-Lösung unterstützen würde und obwohl den Menschen in den palästinensischen Gebieten oft von klein auf beigebracht wird, die israelische Souveränität zu negieren, organisiert WWP Aktionen, die der gemeinsamen Wut und der Trauer um verlorene Angehörige Ausdruck verleihen. So auch bei einer Gedenkveranstaltung für Vivian Silver, einem Gründungsmitglied von WWP, die am 7. Oktober in ihrem Kibbuz von der Hamas getötet wurde. 

Um den Dialog zwischen Lokalpolitikerinnen und -politikern und zivilgesellschaftlichen Gruppen an der Grenze zum Gazastreifen zu fördern, richtete WWP 2021 ein sogenanntes Ziviles Kabinett mit dem Titel „Von Worten zu Taten“ ein. Bei ihren Treffen, an denen auch Knessetmitglieder teilnahmen, stellten WWP und andere Organisationen Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppen in der Region fest. In ihrem Abschlussbericht mahnte WWP die israelische Regierung, die Situation an der Grenze zu Gaza zur Kenntnis zu nehmen und dafür zu sorgen, dass die Not der Menschen dort sichtbar wird: Man vertrete „die schweigende Mehrheit, die sich eine bessere Zukunft und nicht eine weitere Runde des Krieges wünscht“. 

Angesichts der Angriffe der Hamas am 7. Oktober und der Reaktion des israelischen Militärs wich WWP nicht zurück, sondern erklärte eindringlich: „Wir setzen unsere Arbeit fort – wir arbeiten zusammen, und wir verstecken es nicht.“ Bei WWP setzen sich palästinensische und israelische Gruppen gemeinsam für die Freilassung der von der Hamas festgehaltenen Geiseln ein. Das zeigt, wie man trotz anhaltender Gewalt Differenzen überwinden und für den Frieden kämpfen kann. 

Um ihren Einsatz für eine Politik zu artikulieren, die dem Dialog und der Versöhnung Vorrang einräumt, wenden sich WWP-Mitglieder immer wieder aktiv an Knessetvertreter – schriftlich, in Petitionen und in persönlichen Treffen. Ihre gemeinsamen Bemühungen dienen dazu, den Diskurs über den israelisch-palästinensischen Konflikt zu beeinflussen und das Gebot des Friedens in legislative Beratungen und Entscheidungs­prozesse einzubringen. 

Der Einfluss von WWP geht jedoch über die individuellen Bemühungen seiner Mitglieder hinaus; die Organisation weiß um die Kraft der Kooperation. Durch strategische Partnerschaften und den Aufbau von Koalitionen mit anderen Organisationen, die sich ebenfalls für die Friedensarbeit einsetzen, festigen sie ihren Einfluss und verstärken ihre Lobbyarbeit. Diese kollektive Stärke unterstreicht ihre Fähigkeit, den politischen Diskurs zu beeinflussen und substanzielle politische Reformen zu erzwingen. 

An der öffentlichen Front orchestriert WWP eine Symphonie des Aktivismus und nutzt Kundgebungen, Demonstrationen und Sensibilisierungskampagnen, um die Öffentlichkeit zu mobilisieren und Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben. Mit Kampagnen wie diesen wird immer wieder an den menschlichen Tribut erinnert, den der langwierige Konflikt fordert. Gesetzgeber sowie Bürgerinnen und Bürger werden gleichermaßen gezwungen, sich mit friedensschaffenden Initiativen auseinanderzusetzen. 

WWP übernimmt in gewisser Weise die Rolle einer Bildungsinstitution, indem sie differenzierte Perspektiven zum israelisch-palästinensischen Konflikt liefert und für einen informierten, einfühlsamen Diskurs eintritt. Durch gezielte Aufklärungskampagnen versucht WWP, ein differenzierteres Verständnis für die Dynamik des Konflikts zu entwickeln und ein Klima zu schaffen, das einen konstruktiven Dialog und Verhandlungen begünstigt. Indem sie sich internationale Unterstützung zunutze macht und ihre Botschaft auf der Weltbühne verbreitet, übt WWP zusätzlichen Druck auf die israelische Regierung aus, damit diese friedensfördernden Maßnahmen Vorrang einräumt und einen nachhaltigen Dialog mit palästinensischen Vertreterinnen und Vertretern führt.

Women Wage Peace übernimmt in gewisser 
Weise die Rolle einer Bildungsinstitution, indem die Organisation differenzierte Perspektiven zum 
israelisch-palästinensischen Konflikt 
liefert   

Darüber hinaus ist es entscheidend, das unschätzbare Reservoir an Wissen, Problemlösungskompetenz und gemeinschaftsorientierten Initiativen der Zivilgesellschaft mit ihren spezifischen Fachkenntnissen und ihrem Verständnis für lokale Dynamiken, Missstände und Potenziale zu nutzen. Dieser kollaborative Ansatz befähigt die Gemeinschaften, gemeinsam Lösungen zu entwickeln, die auf die eigentlichen Konfliktursachen abzielen. WWP stützt sich vor diesem Hintergrund auf das kollektive Wissen und die Erfahrung israelischer und palästinensischer Frauen, um einen gangbaren Weg zum Frieden zu finden. Die Frauen sind sich der tiefgreifenden Auswirkungen des Konflikts auf das Leben der Menschen bewusst und nutzen ihr Know-how, um integrative Friedensstrategien zu entwickeln, die auf Dialog, Empathie und Vielfalt basieren. 

Der Ansatz von WWP, sich für eine respektvolle, gewaltfreie und von beiden Seiten akzeptierte Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu engagieren und dabei auch eine geschlechtsspezifische Sichtweise einzubeziehen, ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich und innovativ.


Die Macht der Bildung

Die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai sagte einmal: „Lasst uns unsere Bücher und Stifte in die Hand nehmen, unsere mächtigsten Waffen.“ Auch Givat Haviva (GH), eine der größten und ältesten nichtstaatlichen Bildungsorganisationen Israels, weiß um die Macht der Bildung. Sie ist mit ihren innovativen Programmen zur jüdisch-arabischen Verständigung und zur Förderung von Frieden und Demokratie international bekannt. Mit ihren Initiativen zur Erziehung für den Frieden bietet GH ein Modell für eine nachhaltige Friedenskonsolidierung auf der Grundlage gegenseitigen Respekts und gemeinsamer sozialer Werte, insbesondere in von Konflikten betroffenen Regionen. 

Anstatt ungleiche Beziehungen unter dem Deckmantel der Koexistenz aufrechtzuerhalten, konzentriert sich GH auf den Aufbau einer Infrastruktur für eine gemeinsame und gleichberechtigte Gesellschaft, in der alle Bürgerinnen und Bürger – unabhängig von Nationalität, Religion oder Geschlecht – ein echtes Gefühl der Zugehörigkeit und der Eigenverantwortung entwickeln. Dieser Shared-Society-Ansatz kombiniert basisdemokratische Anstrengungen mit Lobbyarbeit.

Die Biografie und die Arbeit von Mohammed Darawshe, dem strategischen Direktor von GH, bieten tiefe Einblicke in das Leben arabischer Israelis, in die turbulenten Veränderungen der soziopolitischen Landschaft Israels und in die transformative Kraft von Nichtregierungsorganisationen. Geboren und aufgewachsen in Iksal, einer Stadt im Norden Israels mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, hat sich Darawshe immer wieder mit der arabischen Identität innerhalb eines überwiegend jüdischen Staates auseinandergesetzt. In seinen frühen Jahren fühlte er sich als „politisches Waisenkind“ einsam und vom Rest der Gesellschaft ausgegrenzt. Das Ende der Militärherrschaft in Israel im Jahr 1966 und die Modernisierungsprogramme zur Förderung arabischer Gemeinschaften lösten jedoch viel Optimismus aus und waren für Darawshe der Beginn einer Reise, auf der er sich konsequent für das Zusammenleben von Muslimen und Juden in Israel einsetzen sollte und die schließlich in seiner Führungsposition bei GH gipfelte. 

Unbeeindruckt von den großen politischen Herausforderungen in Israel machten sich die Verantwortlichen von GH ans Werk, um Sport- und Musikprogramme aufzusetzen, Stereotypen zu zerstreuen und der Entmenschlichung der „Anderen“ entgegenzuwirken. Dass der Schatten des Konflikts dennoch über den Aktivitäten lag, zeigte der starke Rückgang der Teilnehmerzahlen während der Zweiten Intifada im Jahr 2000. 

Angesichts solcher Herausforderungen wählt Darawshe oft den pragmatischen Weg statt des idealistischen, um spaltende Narrative zu überwinden. So plädiert er in der Versöhnungsarbeit für die Festlegung übergeordneter Ziele und gemeinsamer Programme, die das kollektive Wohlergehen fördern, aber schon umsetzbar sind, wenn nur zwei oder wenig mehr gesellschaftlichen Gruppen beteiligt sind. Etliche Untersuchungen belegen die Wirksamkeit des Shared-Society-Ansatzes von GH zur Förderung von Frieden und Versöhnung. Nicht umsonst hat er sich mittlerweile zu einer ­Blaupause für friedensfördernde Bemühungen weltweit entwickelt. GH-Initiativen wie die Einrichtung gemeinsamer jüdisch-arabischer Schulen, in denen arabische Lehrer und Lehrerinnen jüdische Kinder unterrichten und umgekehrt, helfen dabei, durch Kulturaustausch soziale und politische Gräben zu überbrücken. 

Indem GH Raum für eine Debatte schafft, ermöglicht die Organisation es jüdischen und arabischen Schülerinnen und Schülern, in einen Dialog über ihre gemeinsame Geschichte zu treten, und sie zeigt auf, wie ein offener Austausch historische Missstände dekonstruieren und Empathie, Toleranz und gegenseitiges Verständnis fördern kann. In einem Interview hat Darawshe 2018 den Vergleich angestellt, dass die bescheidene Ziege – Symbol für eine kooperative Zivilgesellschaft, die nach Einheit strebt – in politischen Prozessen oft an den Rand gedrängt wird, während größere und lauter auftretende Tiere (die staatlichen Akteure) sich in den Vordergrund drängen und immer wieder die gleichen historischen Fehler wiederholen. 

Der Shared-Society-
Ansatz von Givat 
Haviva ist mittlerweile zu einer Art Blaupause für friedensfördernde Bemühungen weltweit geworden

Nach den jüngsten durch die Regierung erlassenen Einschränkungen nahm GH an Demonstrationen wie „Dead for Life“ teil, bei denen sich die Organisation gegen die Diskriminierung arabisch­stämmiger Menschen einsetzte. GH kämpft auch für die Meinungsfreiheit an israelischen Schulen, um ein diskriminierungsfreies Umfeld zu gewährleisten. Nach dem 7. Oktober nahm GH ihre Bildungsprogramme wieder auf, zu denen auch die Bereitstellung von psychologischer Unterstützung und Unterkünften für die Bewohnerinnen und Bewohner – unabhängig von Religion oder ethnischer Zugehörigkeit – des Gazagürtels zählen, jenem besiedelten Gebiet im Süden Israels, das sich innerhalb von sieben Kilometern um den Gazastreifen erstreckt. GH setzt sich für sichere Räume und für friedliche Koexistenz ein.


Das Schweigen brechen 

Die im September 2000 gegründete Nichtregierungsorganisation Breaking the Silence (BtS) sammelt und veröffentlicht die Berichte ehemaliger israelischer Soldaten, die im Westjordanland, im Gazastreifen und in Ostjerusalem gedient haben. So zeichnet BtS ein Bild von Misshandlungen, Plünderungen und der Zerstörung von Eigentum und stellt das offizielle israelische Narrativ infrage, wonach solche Vorfälle lediglich Einzelfälle seien. Mit dieser Arbeit will BtS die Kluft zwischen der Realität der Soldaten in den besetzten Gebieten und dem breiten gesellschaftlichen Schweigen über diese Realität überbrücken. 

So berichtet ein Leutnant der israelischen Zivilverwaltung, der in der Region Hebron eingesetzt war, von einer beunruhigenden Begegnung mit einem zivilen Sicherheitskoordinator bei der Oliven­ernte. Während sich die Soldaten zusammen mit palästinensischen Bauern um die Ernte kümmerten, beauftragte der Koordinator ein Einsatzteam damit, die Palästinenser gewaltsam vertreiben zu lassen – eine eindeutige Überschreitung der Befugnisse des Mannes, der eigentlich nicht in Angelegenheiten eingreifen durfte, die über den Schutz der Sicherheit der jeweiligen Siedlung hinausgingen, und sich nicht direkt mit den Palästinensern hätte befassen dürfen. Gerade dieser Koordinator war dafür berüchtigt, seine Befugnisse zu überschreiten, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. 

Ein Oberfeldwebel des Haruv-Bataillons erinnert sich, dass jeder Tag in der Armee seine eigenen moralischen Dilemmata mit sich brachte, zu denen auch die quasi routinemäßige Misshandlung von Zivilistinnen und Zivilisten gehörte. Er lässt im Gespräch mit BtS mit einer Mischung aus Bedauern und Unbehagen seine Arbeit an einem Checkpoint Revue passieren: „Die Lage war sehr volatil und es war einfach, Leute zu finden, an denen man seine Frustration und seine Wut auslassen konnte.“ Ein Vorfall ist ihm dabei besonders im Gedächtnis geblieben: der Tag, an dem ein anderer Soldat einen älteren Mann vor den Augen seiner Familie einer demütigenden Tortur unterzog. Als stummer Zeuge dieses Machtmissbrauchs musste er mit ansehen, wie der Mann willkürlich angegriffen und körperlich misshandelt wurde. 

Die israelische Militärkultur ist durch historische Konflikte und ständige geopolitische Bedrohungen geprägt. Sie stellt den Soldaten als Beschützer des Staates dar und preist den Militärdienst als patriotischen Akt. Dissens in den eigenen Reihen oder Kritik an militärischen Vorhaben wird in Israel oft als Unterwanderung der nationalen Sicherheit oder als Verrat an den kollektiven Verteidigungsbemühungen gesehen.

Folglich ist BtS in ganz Israel und insbesondere innerhalb der israelischen Regierung umstritten. Manche betrachten die Organisation sogar als kriminelle Vereinigung. BtS selbst hält jedoch an seiner Strategie fest, die Konsequenzen der militärischen Besatzung hervorzuheben, alternative sicherheitspolitische Ansätze zu fördern und für einen nuancierten Patriotismus einzutreten. Einen Patriotismus, der Rechenschaftspflicht, Empathie und ein Engagement für die Menschenrechte einschließt, selbst im Angesicht anhaltender Bedrohungen von außen. Im israelischen Menschenrechtssektor und in der Friedensforschung genießt BtS hohes Ansehen, weil es einen Diskurs ermöglicht, der die kritische Selbstreflexion und Meinungsbildung in Israel unabhängig von der politischen Zugehörigkeit fördert.

Beobachtungen wie die geschilderten sind kein Einzelfall. Vielmehr sind Übergriffe dieser Art symptomatisch für eine Kultur der unkontrollierten Gewalt und der Frustration. Die Atmosphäre an israelischen Checkpoints ist angespannt, insbesondere vor dem Hintergrund wiederholter Terroranschläge; und bei vielen Soldaten gibt es das unausgesprochene Bedürfnis, ein Ventil für aufgestaute Wut und Angst zu finden. Die Erinnerungen, die Soldaten im Rahmen von BtS teilen, sind ein eindringliches Gedenken an den Schaden, den das Streben nach Kontrolle und Sicherheit unschuldigen Menschen zufügt. Und obwohl der oben beschriebene Oberfeldwebel die Vergangenheit nicht ändern kann, ist er nun entschlossen, seine Rolle anzuerkennen und auf eine gerechtere Zukunft hinzuarbeiten.

Die Arbeit von BtS bietet die Möglichkeit, das Zusammenspiel von Militarismus und Männlichkeit in Israel kritisch zu untersuchen und speziell aus einer feministischen Perspektive zu beleuchten. Laut der Forscherin Cynthia Enloe kann man unter „militarisierter Männlichkeit“ die Verstärkung, Zelebrierung und oft auch Übertreibung bestimmter Eigenschaften und Verhaltensweisen verstehen, die in Militärkulturen traditionell mit Männlichkeit verbunden werden. 

Diese Versionen von Männlichkeit verherrlichen oft Eigenschaften wie Aggression, Härte, Dominanz und emotionale Zurückhaltung, die die Identität einzelner Soldaten prägen und die die breitere gesellschaftliche Wahrnehmung von Geschlechterrollen und Machtdynamiken – sowohl innerhalb als auch außerhalb militärischer Einrichtungen – beeinflussen. Geprägt durch die konfliktreiche Geschichte des Landes und ständige Bedrohungen nimmt das israelische Militär eine zentrale Rolle in der Gesellschaft ein und ist durchdrungen von militarisierter Männlichkeit. Die Verteidigung der Nation und ihrer Bürgerinnen und Bürger beeinflusst auch die gesellschaftliche Haltung fernab der Truppe. 

BtS bietet darüber hinaus auch Führungen in Hebron an, einer Stadt im Westjordanland, die zeigen sollen, dass die besetzten Gebiete mehr sind als nur eine Konfliktzone. Diese Touren richten sich an israelische Zivilisten und liefern ihnen eine Art „zweite Perspektive“ auf die komplexen Realitäten der Besatzung und den Wert einer multi­kulturellen Gesellschaft. 


Zivilgesellschaft als Herzstück der FFP

Anhand der geschilderten Beispiele haben wir gezeigt, dass die Zivilgesellschaft auch im Kontext bewaffneter Konflikte dazu fähig ist, sich zu organisieren und ihre Stärke und Widerstandsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Die genannten Organisationen haben trotz der Wut und des Hasses auf beiden Seiten Solidarität gelebt, sie haben zusammengearbeitet, um konfliktträchtige Strukturen und Konfliktlinien abzubauen, und sie sind mutig vorangegangen, um alte Wunden im gemeinsamen Streben nach Frieden zu heilen. So verdeutlichen sie das Potenzial der Zivilgesellschaft als eines außenpolitischen Akteurs. Das unterstreicht gleichzeitig die Fähigkeit der FFP, traditionelle Paradigmen zu durchbrechen, den Frieden zu fördern und die Demokratie zu stärken.

Die Anerkennung der Zivilgesellschaft als Mittel zur Förderung von nachhaltigem Frieden und Demokratie – und damit zur Ermöglichung von Versöhnung – ist das Herzstück des FFP-Ansatzes. Im Gegensatz zu traditionellen sicherheitspolitischen Maßnahmen, die staatszentrierten Ansätzen den Vorrang geben, erweitern Zivilgesellschaften den Spielraum der Außenpolitik radikal. Zivilgesellschaftliche Organisationen dienen als Bindeglieder, die die Friedens- und Vertrauensbildung fördern und Vorurteile von unten nach oben abbauen. Solche Bottom-up-Ansätze beziehen nicht nur die Erfahrungen und Handlungen Einzelner ein, sondern zeigen auch, dass ein Staat mehr ist als seine Regierung und seine Konflikte. 

Wenn alternative Perspektiven vorgestellt werden, wie es BtS mit den Führungen durch Hebron macht, dann stellt dies traditionelle staatszentrierte Sicherheitsmodelle infrage, in diesem Fall Israels Selbstverständnis als militarisierte Demokratie. Die von der FFP priorisierte menschliche Sicherheit gerät so in den Fokus. Kollektive Initiativen wie Proteste und gemeinsame Aktionen, etwa die WWP-Friedensaktion am Toten Meer, wirken spaltender Regierungspolitik entgegen, indem sie Menschen zu solidarischem Handeln zusammenbringen – ebenfalls ein zentraler Pfeiler der FFP. Sowohl der Shared-Society-Ansatz von GH als auch der dialogische Ansatz von WWP unterstützen die FFP, indem sie aktuelle Debatten aufbrechen und neue Möglichkeiten für Friedensverhandlungen und -lösungen in der Region bieten.


Empathie und kollektive Versöhnung 

Diese Beispiele machen deutlich, dass alle Menschen in einem sicheren Umfeld leben müssen, damit Frieden gelingt; niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind. Traditionelle Methoden des politischen Dialogs werden stets nur konventionelle Ansätze für Frieden und Sicherheit produzieren. Darüber hinaus zeigen GH und WWP, wie wichtig es ist, die Zivilgesellschaft in das Streben nach einem nachhaltigen Frieden einzubeziehen. 

Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass von Eliten gesteuerte Friedensabkommen weniger nachhaltig sind als Abkommen, die von zivilgesellschaftlichen Akteuren mitgetragen werden. Inklusive Friedensprozesse, die auf Empathie und kollektiver Versöhnung beruhen, sind effektiver, weil sie Individuen hervorbringen, die den Frieden innerhalb ihrer Gesellschaft tragen können. Die überzeugende Friedensarbeit der Zivilgesellschaft unterstreicht die Notwendigkeit, dass die Sicherheitspolitik dem Wohlergehen und der Sicherheit aller Menschen Vorrang einräumt. 

Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass von Eliten gesteuerte Friedensabkommen weniger nachhaltig sind als solche, die von zivilgesellschaft­lichen Akteuren mitgetragen werden

Feministische Ansätze der Hilfs- und Friedensarbeit unterstreichen die Handlungsfähigkeit der Zivilgesellschaft und ihre Fähigkeit, geschlechtsspezifische Schwachstellen in Gesellschaften zu sehen und die wichtige Rolle von Frauen in Konfliktsituationen zu betonen. Damit wird auch die Verflechtung der sozialen, psychologischen und wirtschaftlichen Dimensionen von Erfahrungen in Konfliktsituationen anerkannt. Da sie nicht nur die unmittelbare physische Sicherheit, sondern auch das ganzheitliche Wohlbefinden in den Vordergrund stellen, stehen sie für einen Paradigmenwechsel innerhalb humanitärer Bemühungen. 

Ein Ausdruck solcher feministischen Ansätze ist die Schaffung spezieller Schutzräume, die auf die Bedürfnisse von Frauen, Kindern und marginalisierten und gefährdeten Gesellschaftsmitgliedern zugeschnitten sind. Diese Räume dienen als vielseitige Zentren, die eine Reihe von Dienstleistungen anbieten, darunter medizinische Versorgung, psychosoziale Unterstützung, Rechtshilfe und Bildungsmöglichkeiten. Die psychologische Unterstützung, die GH dort anbietet, stellt die traditionellen humanitären Ansätze infrage, bei denen die Perspektive der Frauen und ihre spezifischen Erfahrungen während eines bewaffneten Konflikts oft außer Acht gelassen werden. Das geschieht, indem ihnen ein Ort zur Verfügung gestellt wird, an dem sie sich von ihrem Trauma erholen und sich aktiv an der Friedenskonsolidierung beteiligen können. 

Israelische feministische Nichtregierungsorganisationen haben Israels Außenpolitik beeinflusst, indem sie sich für die innerstaatliche Umsetzung der UN-Resolutionen im Themenfeld „Frauen, Frieden und Sicherheit“ (WPS) eingesetzt haben. Diese Resolutionen sind insofern bahnbrechend, als dass sie die geschlechtsspezifischen Dimensionen von Konflikten und sexualisierter Gewalt im Krieg anerkennen. Als erste Resolutionen, in denen ein internationales Sicherheitsgremium wie der UN-Sicherheitsrat die besondere Verwundbarkeit von Frauen in Konfliktsituationen und ihr geschlechtsspezifisches Sicherheitsrisiko anerkennt, werden sie als entscheidende Bestandteile der FFP angesehen. 

Die Agenda wurde maßgeblich von der transnationalen feministischen Zivilgesellschaft und ihrer Lobbyarbeit geprägt. Im Laufe der Jahre haben die Resolutionen an Substanz gewonnen; in ihnen wurde immer wieder der Ansatz der menschlichen Sicherheit und die Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Akteuren an Friedensprozessen betont. Aufbauend auf der WPS-Agenda waren die zivilgesellschaftlichen Organisationen auch eine treibende Kraft dabei, die Zurückhaltung der israelischen Regierung mit Blick auf eine feministischere (Außen-)Politik zu überwinden.


Neue Prioritäten

Um das Potenzial der FFP voll ausschöpfen zu können, ist eine breite Unterstützung der Zivilgesellschaft unabdingbar. In den vergangenen Jahren wurden Rekordsummen für die Rüstungsindustrie bereitgestellt, während zivilgesellschaftliche Projekte große Schwierigkeiten hatten, ihre Finanzierung zu sichern. Dabei handelt es sich um einen globalen Trend, der in Israel in den vergangenen zwei Jahren aufgrund der von der Regierung verhängten Beschränkungen für die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen besonders ausgeprägt war. Die Unterstützung der Zivilgesellschaft erfordert daher eine neue Priorisierung des israelischen Haushalts. 

Traditionelle staatszentrierte Ansätze haben keine Antworten auf vergangene und gegenwärtige Krisen geliefert 

Trotz dieser Hindernisse ist die israelische Zivilgesellschaft bereit, den politischen Diskurs zu gestalten und sozialen Wandel zu fördern. Wenn es die FFP versteht, lokale zivilgesellschaftliche Aktivistinnen und Aktivisten für den Frieden zu mobilisieren, dann könnte das einen nachhaltigen Wandel der gesellschaftlichen Einstellungen und Werte in Israel begünstigen. Folglich sollte die FFP nicht als naiv und unrealistisch abgetan, sondern vielmehr als effektiver Ansatz für politisches Engagement angesehen werden.

Funkelnder Frieden

Meine arabische Schwester, 
lass uns eine stabile Brücke bauen [...]
Über dem kochenden Schmerz 
der Vorurteile, die saurem Regen gleichen – 
und menschliche Hände hochhalten 
voller freier Sterne 
des funkelnden Friedens
(Ada Aharoni, „Eine Brücke des Friedens“)

Zivilgesellschaftliche Organisationen bauen Brücken zwischen verschiedenen Gruppen und Individuen. Sie bieten Raum für die Entwicklung gegenseitigen Vertrauens, für Respekt und Verständnis durch Dialog und gemeinsames Lernen. Daher ist die Zivilgesellschaft für einen nachhaltigen Frieden von entscheidender Bedeutung. Die Friedens- und Konfliktforscherin Mary Kaldor nennt es so: „Die globale Zivilgesellschaft war schon immer mit der Idee der Minimierung von Gewalt in sozialen Beziehungen verbunden.“

Die israelische Dichterin Ada Aharoni beschreibt in ihrem hier zitierten Werk eindrucksvoll, wie die Brücken, die innerhalb der Zivilgesellschaft gebaut werden, nicht nur zu „stabilen“ Beziehungen unabhängig von Herkunft, Religion oder ethnischer Zugehörigkeit führen, sondern auch zu einem wahrhaft „funkelnden Frieden“. 

Die hier angeführten Beispiele zeigen auch, dass die Verwirklichung des Friedens eine gemeinsame Anstrengung erfordert. Alle müssen lernen, friedlich zusammenzuleben, das Leid aller anzuerkennen, den Dialog auch in schwierigen Situationen aufrechtzuerhalten und Solidarität zu zeigen, indem sie auf das Leid der anderen hinweisen, auch wenn niemand hinschaut. 

Die Integration der Zivilgesellschaft in die FFP ist ein Weg zu einem Wandel in den internationalen Beziehungen. Indem sie die Stimmen der Basisgemeinschaft verstärkt, die vorherrschenden Diskurse infrage stellt und globale Verbindungen fördert, wird die Zivilgesellschaft zu einer unverzichtbaren Partnerin bei der Förderung von Geschlechtergleichheit, Frieden und Demokratie auf der Weltbühne. Die FFP-Länder müssen die entscheidende Rolle der Zivilgesellschaft anerkennen und ihrer Unterstützung bei der Gestaltung einer gerechteren und ausgewogeneren Weltordnung Vorrang einräumen.

Israels Zivilgesellschaft ist ausgesprochen gut darin, ihre Situation einzuschätzen und wirksame Ideen für den Aufbau des Friedens zu entwickeln. Die hier geschilderten Projekte, die seit Jahrzehnten erfolgreich umgesetzt werden, sind der Beweis dafür, dass sich auch eine Gesellschaft, die mit dem ständigen Risiko eines Angriffs lebt, jeden Tag für den Frieden entscheiden kann. Man stelle sich nur vor, wie die Situation aussehen würde, wenn die Zivilgesellschaft mehr Geld und mehr Anerkennung erhalten würde. 

Traditionelle staatszentrierte Ansätze haben keine Antwort auf vergangene und gegenwärtige Krisen gegeben. Wenn wir jedoch auf die mutige, inspirierende Arbeit der Zivilgesellschaft in Israel schauen, dann sehen wir, dass es durchaus Lösungen gibt, die dieses Vakuum füllen können, sei es durch Bildung, Demonstrationen, Dialogforen, gezielte Lobbyarbeit oder Stadtführungen im Westjordanland. All diese Ideen werden bereits erfolgreich umgesetzt – und einige von ihnen werden schon heute als inspirierende Beispiele in der Wissenschaft und in der Friedensförderung genutzt. Andere sind kontroverser, lösen neue Debatten aus und erzwingen so neue Lösungsansätze. 

Die FFP ist ein mutiger Ansatz, um alte außenpolitische Gewissheiten zu überdenken. Natürlich kann es hin und wieder beängstigend sein, vom bisherigen Kurs abzuweichen. Nehmen wir uns jedoch den Mut zum Vorbild, den die israelische Zivilgesellschaft immer wieder an den Tag legt, dann müssen wir uns die Frage gefallen lassen: Warum sollten wir nicht so mutig sein?!  

Aus dem Englischen von Kai Schnier 

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 3, Juli/August 2024, S. 42-53

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Sophie Domres arbeitet als Policy Advisor im Bundestag mit den Schwerpunkten Chancengleichheit, Wissenschaftsdiplomatie und Wissenschaftspolitik. Studium der Internationalen Beziehungen in Kleve, Berlin und Potsdam, Praktika bei den UN, dem Goethe-Institut Chile und dem Auswärtigen Amt in Berlin. Zusatzstudium der Interdisziplinären Geschlechterstudien in Potsdam. Neben und nach dem Studium arbeitete Sophie für internationale NGOs und die DGAP.

Lena Wittenfeld  hat einen Master-Abschluss in „Democratic Governance and Civil Society“ von der Uni Osnabrück und ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Bielefeld tätig, wo sie an einer Dissertation zur Feministischen Außenpolitik schreibt. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Politischer Theorie, Internationalen Beziehungen, Gender und Queer Studies. Darüber hinaus ist Lena Co-Leiterin des Programms „Gender und Internationale Politik“ beim Thinktank Polis180. tätig.