Weltspiegel

28. Okt. 2024

Die Vermessung der Welt

Konflikte und veränderte Kräfteverhältnisse bedeuten nicht das Ende der regelbasierten internationalen Ordnung, sie markieren den Anfang ihrer Transformation. 

Bild
Bild: Szene vom Washingtoner NATO-Gipfel im Juli 2024
Die internationale Ordnung im Wandel, in Auflösung – oder erst auf dem Weg zu etwas ganz Neuem? Szene vom Washingtoner NATO-Gipfel im Juli 2024.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Seit der großflächigen russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 warnen westliche Regierungen vor einer Unterwanderung der „regelbasierten internationalen Ordnung“ (RBIO). Angesichts der eklatanten Verletzung des Völkerrechts durch Moskau ist das durchaus verständlich, führt Russland doch einen Angriffskrieg gegen sein ukrainisches Nachbarland und verletzt dessen territoriale Integrität.

Doch so berechtigt die Aufrufe zur Verteidigung der RBIO auch zunächst scheinen: Der Westen verschwendet damit seine Energie. Das liegt zum einen daran, dass zuletzt mehr als deutlich geworden ist, wie inkonsequent er sich mit Blick auf die RBIO selbst verhält. Im Konflikt mit Russland werden Forderungen nach Dialog und Kompromiss selbstbewusst abgelehnt, während man gleichzeitig weiterhin herzliche Beziehungen zu Israel unterhält, das derzeit vor allem durch Besatzung, Annexionen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht auffällt. 

Zum anderen ist die RBIO selbst ein fehlerbehaftetes Konzept. Der Begriff „regel­basierte Ordnung“ existiert ja gerade deshalb, weil er nicht deckungsgleich mit dem Völkerrecht ist – und so macht sich der Westen mit der Verwendung dieses Begriffs wissentlich oder unwissentlich eine Art Blockdenken zu eigen, das die Welt in Freunde und Feinde der RBIO einteilt. 

Deutlich wird diese Logik unter anderem in der Nationalen Sicherheitsstrategie der Biden-Regierung aus dem Jahr 2022. Darin heißt es: „[Russland und China] sind zu dem Schluss gekommen, dass der Erfolg einer freien und offenen, auf Regeln basierenden internationalen Ordnung eine Bedrohung für ihre Regime darstellt und ihre Ambitionen im Keim erstickt. Auf ihre Weise versuchen sie nun, die internationale Ordnung umzugestalten, um eine Welt zu schaffen, die ihrer hochgradig repressiven Art von Autokratie zuträglich ist. [...] Die große Mehrheit der Länder wünscht sich eine stabile und offene, auf Regeln basierende Ordnung, die ihre Souveränität und territoriale ­Integrität ­respektiert, faire Möglichkeiten des wirtschaftlichen Austauschs mit anderen bietet, den gemeinsamen Wohlstand fördert und die Zusammenarbeit bei gemeinsamen Herausforderungen ermöglicht.“

In diesem Sinne ist die RBIO für viele weitaus mehr als eine neutrale Beschreibung der auf internationalem Recht und Institutionen basierenden Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg; man muss nicht einmal der binären Logik des Wettbewerbs zwischen Demokratien und Autokratien folgen, um zu verstehen, dass einige Staaten mehr Einfluss auf die Gestaltung der internationalen Ordnung haben als andere. Die internationale Ordnung von heute ist mehr als nur die Institutionen, Normen und Standards, die von den westlichen Ländern in den letzten 30 Jahren geschaffen wurden. Indem sie davon ausgehen, dass die internationale Ordnung selbst zu einer Verschärfung des Wettbewerbs mit konkurrierenden Staaten führt, berauben sich westliche Länder jedoch in gewisser Weise ihrer Fähigkeit, die Zukunft dieses Systems zu gestalten. Das ist eine Dynamik, die gerade auch die nächste US-­Regierung im Auge behalten sollte. 


Hegemonie der Vergangenheit

Die politische und intellektuelle Avantgarde des Westens hat unterschiedlich auf das Wiederaufflammen des Großmächtewettbewerbs reagiert. Manche glauben, dass die unipolare Struktur der internationalen Ordnung einfach beibehalten werden kann, während andere auf eine Strategie dringen, die der Herausforderung eines aufstrebenden Chinas gerecht wird und dieses Problem priorisiert. Diese eher „realistischen“ Ansätze stehen im Gegensatz zu Stimmen, die eine Beibehaltung der existierenden regelbasierten Zusammenarbeit fordern. Dabei verteidigen selbst letztere Experten in den meisten Fällen die hegemoniale Ordnung der Vergangenheit.

Was beispielsweise die transatlantische Sicherheitsordnung betrifft, so ­haben die westlichen Staaten zuletzt kompromisslos den Grundsatz verteidigt, dass die Ukraine selbst über ihre Sicherheitsallianzen entscheiden kann. Ein Prinzip, das offensichtlich nicht für Russland gilt, dem nie eine NATO-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt worden ist. Gleichzeitig hat der Westen weniger Bereitschaft gezeigt, seine Grundsätze zu verteidigen, wenn das freie Entscheidungsrecht eines Staates dazu führt, dass die Sicherheit eines anderen Staates untergraben wird. Die Verteidigung von „Regeln“ wirkt in diesem Sinne oft wie ein Deckmantel für die Aufrechterhaltung von Strukturen, von denen der Westen selbst profitiert. 

Eine ähnliche Dynamik zeigt sich in der mangelnden Bereitschaft, bestimmte multilaterale Institutionen zu reformieren, insbesondere dann, wenn diese Reformen auf Kosten des westlichen Einflusses gehen könnten. Es ist klar, dass viele dieser Institutionen ihren Zweck ohne Reformen in Zukunft kaum erfüllen können und ein Schwenk zu mehr Multilateralismus und weniger Hegemonialdenken notwendig wäre. Im Westen wird stattdessen jedoch gerne argumentiert, dass die hegemoniale Struktur des Systems eine wichtige Voraussetzung für das Überleben des Multilateralismus ist, da viele der heutigen multilateralen Vereinbarungen unter hegemonialen Bedingungen geschaffen wurden.

Die Verteidigung von „Regeln“ zielt oft auf die Aufrechterhaltung von Strukturen, die dem Westen dienen

Aus genau diesem Grund ist das westliche Pochen auf die RBIO für viele Menschen außerhalb des Westens gleichbedeutend mit dem Versuch, einen globalen Status quo zu verteidigen, den sie selbst nie mitgestalten durften. Abgesehen von diesen Unstimmigkeiten in der subjektiven Wahrnehmung der RBIO weist das Konzept jedoch auch einige objektive Mängel auf.

Erstens sind die „Regeln“, die der RBIO zugrunde liegen, oft unklar. Zugegebenermaßen ist es gerade diese Undurchsichtigkeit, die viele Befürworter des Konzepts als zentralen Vorteil wahrnehmen: Es ist bequem, behaupten zu können, dass man im weiteren Sinne eine übergreifende „regelbasierte“ Ordnung verteidigt, auch wenn man dabei gelegentlich die Grenzen des Völkerrechts überschreitet. Langfristig führt diese Intransparenz jedoch dazu, dass sich die Maßstäbe für die Festlegung der sogenannten Regeln ständig verschieben, was wiederum selektive Anwendung und doppelte Standards zur Folge hat. Dabei ist es unerheblich, ob eine Ungerechtigkeit real oder gefühlt ist, da das Klima in der internationalen Politik nicht selten von Wahrnehmungen statt Fakten geprägt wird. In einer Welt, in der Russland und China den Anspruch erheben, dem Westen ebenbürtig und nicht dessen ­Juniorpartner zu sein, führen diese Ungerechtigkeiten zu dem Wunsch, die gleichen Privilegien wie die westlichen Länder zu genießen und selbst das Recht zu beanspruchen, die Regeln zu beugen oder zu brechen, wenn es den eigenen Interessen entspricht.

Leider führt die selektive Anwendung unklarer Regeln tatsächlich unweigerlich zu Schuldzuweisungen, die ihrerseits die internationale Ordnung gefährden. Diese Dynamik macht sich schon heute bemerkbar und hat zu einer politischen Atmosphäre beigetragen, die der Bewältigung der großen internationalen und transnationalen Herausforderungen unserer Zeit im Wege steht. Schließlich ist es schwierig, einen anderen Staat als Bedrohung für das Überleben der RBIO zu bezeichnen und ihn gleichzeitig um Unterstützung bei der Zusammenarbeit in Bereichen von gemeinsamem Interesse zu bitten. 

Erst heute entsteht eine ­globale Ordnung mit den Paradigmen Souveränität und Gleichheit

Zweitens wird die RBIO vom Westen einerseits als ein festes Konzept dargestellt, das es zu verteidigen gilt, und andererseits als Idee, die gemeinsam ausgearbeitet werden kann. Geht es darum, die bestehende internationale Ordnung zu verteidigen, dann bleibt jedoch wenig Spielraum für Reformdiskussionen – und entsteht wirklich einmal eine Diskussion zum Thema Global Governance, dann entbrennt meistens ein Streit über die Frage, wie diese in Zukunft aussehen könnte und wer an der Ausarbeitung beteiligt sein sollte. Die daraus resultierende Ungewissheit darüber, wie die künftigen „Regeln“ aussehen werden, führt bei vielen Staaten zu Unentschlossenheit und Passivität. 

Schließlich sind Regeln nur eine Facette der internationalen Beziehungen. Zum einen gibt es Merkmale des internationalen Lebens, wie das Mächtegleichgewicht, die nicht unbedingt in ein „­regelbasiertes“ Verständnis der zwischenstaatlichen Beziehungen passen. Zum anderen existieren neben Regeln auch tieferliegende Normen, die das Verhalten von Staaten beeinflussen und der internationalen Ordnung zugrunde liegen, wie etwa Souveränität, territo­riale Integrität und Menschenrechte. 

Auch wenn diese Normen nicht unumstritten sind, so werden sie doch allgemein als legitime Grundsätze angesehen und unterscheiden sich damit von ­konkurrierenden (und oft amorphen) Regelwerken. Viele dieser Normen haben sich trotz gewisser Grenzüberschreitung über Jahrzehnte gehalten. Obwohl die USA in den Irak einmarschiert sind und Russland die Ukraine angegriffen hat, stellen bis heute nur wenige Regierungen die Vorstellung infrage, dass die internationale Ordnung auf dem Prinzip der staatlichen Souveränität beruhen sollte.

Trotz wachsender Spannungen und veränderter Kräfteverhältnisse bleiben die Grundpfeiler der internationalen Ordnung also weitgehend erhalten. Anders ausgedrückt: Die heutige internationale Ordnung befindet sich womöglich eher in einer Phase des Wandels als in einer existenziellen Krise.


Eine Ordnung im Wandel

Indem sie behaupten, die RBIO zu verteidigen und Russland und China als Gegner dieser Ordnung beschreiben, stellen sich westliche Regierungen selbst als Wächter des Status quo dar und ihre Gegner als ­reine Revisionisten. Auf einigen Ebenen trifft diese Beschreibung sicherlich zu. Mit Blick auf die europäische Sicherheits­ordnung versucht Russland beispielsweise zweifellos, den Status quo nach dem Kalten Krieg zu revidieren, in dem ihm ein Mitspracherecht in seiner direkten Nachbarschaft verwehrt wurde.

Global gesehen ist das Bild jedoch vielschichtiger, denn man kann die Welt nicht so einfach in Befürworter und Gegner etablierter Normen, in den menschenrechtsorientierten Westen und den autokratischen Rest einteilen. Die Legitimität der Menschenrechte wird beispielsweise nicht prinzipiell infrage gestellt; vielmehr neigen die westlichen Länder dazu, die politischen und bürgerlichen Rechte zu betonen, während im Globalen Süden eher ein Diskurs über wirtschaftliche und soziale Rechte vorherrscht. Die USA sind ihrerseits dafür bekannt, ihre Souveränität bis aufs Äußerste zu verteidigen und sich zu weigern, zahlreichen internationalen Verträgen beizutreten: vom Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs bis hin zum UN-Seerechtsübereinkommen. 

Die Tatsache, dass die Grundpfeiler der internationalen Ordnung relativ ­stabil ­geblieben sind, deutet darauf hin, dass die wichtigsten politischen Akteure keine großen Änderungen bzw. Revisionen vorgenommen haben – und in gewisser Weise zählen zu diesen Akteuren alle heutigen Großmächte: Washington ist bestrebt, seine vorteilhafte Stellung in der globalen Hierarchie zu bewahren, Peking möchte den Zugang zu den internationalen Handelsmärkten behalten, die seinen Aufstieg begünstigt haben, und Moskau will die Privilegien seines Großmachtstatus – wie etwa sein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat und sein Atomwaffenarsenal – behalten und so seine Einflusssphäre verteidigen. 

Trotzdem sind sowohl die USA als auch Russland und China mit bestimmten Aspekten der internationalen Ordnung unzufrieden. Das mag auch daran liegen, dass die heutige RBIO in gewisser Weise noch im Entstehen begriffen ist. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert, das durch hierarchische Beziehungen zwischen einem imperialen Kern und einer souveränen Peripherie gekennzeichnet war, zum Kalten Krieg, der zwei quasi getrennte internationale Ordnungen rund um den kommunistischen und den kapitalistischen Block aufwies, und zur Ära nach dem Kalten Krieg, in der liberaler Interventionismus und Hyperglobalismus unter westlicher Führung das Geschehen bestimmten, tritt die Welt derzeit in die erste internationale Ordnung von globaler Tragweite ein, in der Souveränität und Gleichheit die dominierenden Paradigmen sind.

Um es mit Barry Buzan und Laust Schouenborg zu sagen: „Nach nur zwei Jahrhunderten moderner Entwicklung sehen wir vor allem noch Turbulenzen und haben bislang kaum verlässliche Muster.“ Natürlich konnten die (hauptsächlich westlichen) Staaten, die zuerst in die Moderne eingetreten sind, die internatio­nale Ordnung bisher besser gestalten. Doch erst jetzt beginnen sich die Konturen einer wirklich globalen Ordnung ­abzuzeichnen. Der Globale Süden mag eine lange Liste von Beschwerden vorbringen, um dieses historische Ungleichgewicht zu korrigieren; aber die daraus resultierende Auf­gabe, internationale Institutionen zu reformieren, stellt die Grundlagen der heutigen Ordnung nicht grundlegend infrage.

Einige Aspekte der internationalen Ordnung, wie die staatliche Souveränität, sind ein jahrhundertealtes Erbe. Andere, wie die internationalen Institutionen, sind noch vergleichsweise neu und wurden bewusst ausgearbeitet. Betrachtet man die internationale Ordnung aus dieser Per­spektive, dann gibt es trotz der allgemeinen Unsicherheit und der Dysfunktionalität vieler Institutionen kaum Anzeichen für eine existenzielle Krise. Immerhin beschreibt die Polarität des Systems nur, wie die Macht verteilt ist und nicht, wie die Mechanismen und Prinzipien aussehen, nach denen die zwischenstaatlichen Beziehungen geordnet sind.

Der relative Niedergang des Westens mag die Zukunft des Universalismus in mancher Hinsicht bedrohen, aber er bedeutet nicht das Ende der globalen Ordnung. Tatsächlich liegt diese Ordnung nicht im Sterben, sondern ist gerade erst im Entstehen begriffen. Damit es innerhalb der internationalen Ordnung jedoch reibungsloser zugeht, werden Staaten es sich in Zukunft verkneifen müssen, auf der Basis abweichender Wertvorstellungen gegeneinander zu arbeiten. Geht es stets nur darum, einerseits die Regeln infrage zu stellen oder andererseits den Status quo zu verteidigen, dann läuft das der internationalen Koopera­tion zuwider – und es bedeutet auch, dass westliche Regierungen Gefahr laufen, ihre Energie auf kleinteilige Regelfragen zu verschwenden statt auf die Gestaltung der globalen Ordnung selbst. 

Aus dem Englischen von Kai Schnier              

Dieser Text fußt maßgeblich auf einem Symposium 
der Friedrich-Ebert-
Stiftung „Crisis of Liberalism – World Order in the 21st Century“, New York City 2024.

 

Für Vollzugriff bitte einloggen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2024, S. 83-87

Teilen

Dr. Zachary Paikin ist stellvertretender Direktor des 
Better Order Pro-
ject am Quincy Institute for Responsible Statecraft.

0

Artikel können Sie noch kostenlos lesen.

Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.