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24. Juni 2021

Die vergessene Revolution

Gedanken zur europäischen Sicherheit in der gegenwärtigen Weltkrise

Von Wilhelm Cornides

Noch ein Krieg, und wir werden unter dem Druck der Angst, des Hasses, des Zornes Zerstörungsmittel ersinnen, die uns dann endlich die furchtbare Antwort der von uns so umworbenen Materie geben werden. Einmal über Nacht wird nur noch alles nackte Gewalt sein, nur noch entfesselte Kraft. Aber auch hier hineinbrechen wird man mit dem Optimismus irdischer Paradiese, man wird sie mit moralischen Argumenten beschönigen, so lange, bis es dann auch den selbstgerechten Schwindlern das Mundwerk verschlägt. Oder glauben Sie, dass mit dem Bewusstwerden der Gefahr der Urtrieb des Menschen, zu siegen und im Siege moralisch triumphieren zu dürfen, endlich einmal hinter dem Selbsterhaltungstrieb zurücktreten wird?

Carl J. Burckhardt an Hugo von Hofmannsthal (1922)

 

Geistige und gesellschaftliche Voraussetzungen einer europäischen Friedensregelung

Die Idee Europa ist die Idee einer Verfassung, ist eine gedachte Grundordnung des gesellschaftlichen und des staatlichen Lebens. Als solche hat sie sich aus der Verweltlichung des christlich-abendländischen Gemeinschaftsgefühls und im Übergang des mittelalterlichen Gesamtbewusstseins in das neuzeitlich-europäische entfaltet. Als solche ist sie durch die jüngsten Ereignisse, wie schon oft zuvor, radikal in Frage gestellt. Das Menschenbild, das dieser Ordnung zugrunde lag, ist bis in die letzten Jahrzehnte fast als etwas Selbstverständliches hingenommen worden. Europa war vor allem das „Europäische Konzert", das politische System der europäischen Staaten. Erst im Rückblick wurde erkennbar, dass die „Große Politik" der Kabinette nicht nur auf der Macht der Staaten beruhte, sondern auch auf der Verbindlichkeit sozialer Leitbilder, die den Menschen das Leben lebenswert machten, die deshalb hochgehalten wurden und für deren Verwirklichung der Gebrauch staatlicher Machtmittel sinnvoll und verantwortbar war. Die Zerstörung der Verbindlichkeit dieser vor- und überstaatlichen Werte ging der Sprengung des europäischen politischen Systems im Ersten Weltkrieg und seiner Vernichtung im Zweiten Weltkrieg voraus, trat aber erst durch die in globalen Dimensionen ausgetragenen „europäischen Bürgerkriege" in das Bewusstsein der Allgemeinheit.

Es ist gut, sich hier an folgendes zu erinnern: Als sich „Europa" an Stelle der „Christenheit" zum bestimmenden Ordnungsbegriff für die Einheit des Abendlandes entwickelte, war dies nicht das Ergebnis einer Bewegung. Das europäische „Konzert" nahm alle tragenden geistigen Kräfte der beginnenden Neuzeit in sich auf. Renaissance, Humanismus, Reformation und Gegenreformation wirkten zusammen bei der Schaffung eines geistigen Klimas, aus dem sich das Politische als autonomer Daseinsbereich mit eigenen Gestaltungsgesetzen entfalten konnte. Dann standen zur rechten Zeit die Naturwissenschaften bereit, um ihren mechanischen Gleichgewichtsbegriff beizusteuern. Hinzu kamen politische Katastrophen, die, wie Brandi über den Sacco di Roma geschrieben hat, „ihre zerstörende Wirkung gleich ungeheuren, langsam rollenden Kugeln wie vom Zufall zu erhalten schienen". Man darf sich „Europa" auch nicht als eine Geschichtsnotwendigkeit vorstellen, die sich im dialektischen Spiel der Gedanken verwirklicht. Die Idee Europa wurde denkbar durch die schöpferischen Leistungen einer Kette großer und kleinerer Geister, die einander von Dante über Leibniz bis in die Gegenwart ihre Einsichten und Erfahrungen über die Natur des Menschen und seinen geschichtlichen Auftrag weiterreichten, von denen sie selbst wieder viele aus noch tieferer Vergangenheit geschöpft hatten. Die Gegensätze der von diesen Denkern bezogenen Positionen lassen sich zwar nachträglich in einem übergeordneten geschichtlichen Zusammenhang auflösen; das ist aber nicht der Weg, auf dem sie in der geschichtlichen Wirklichkeit überwunden wurden. Europäische Wirklichkeit wurde immer nur der Teil des Erdachten, für den es in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation entsprechende Voraussetzungen gab: überkommene oder sich neu entfaltende Machtpositionen und Kulturformen, die sich als Träger einer idealen europäischen Gesamtverfassung anboten. Aber auch diese Verwirklichungen geschahen nicht zwangsläufig, sondern als Ergebnisse individueller Leistungen oder Fehlleistungen. Oft genug entschied die Politik unter den Gesichtspunkten des kleineren Übels oder des geringsten Widerstandes, was in einer geschichtlichen Epoche als „Europa" zu verstehen sei.

Deshalb sind die europäischen Friedensschlüsse vom Westfälischen Frieden bis zum Versailler Vertrag immer auch „Weichenstellungen" von geistes- und kulturgeschichtlicher Bedeutung geworden. Oft sind es untergründige kulturelle Strömungen, denen die „Große Politik" den Weg an die Oberfläche versperrte, die, jahrzehntelang in Hass und Verbitterung verdrängt, bei der nächsten politischen Neuordnung das große Wort führen. So war es mit Hitlers „Neuer Ordnung" in Europa. So ist es auch bei den Bemühungen um eine europäische Friedensordnung, die seit 1942/43 ergebnislos um das Zwillingsproblem der Europäischen Sicherheit und der Einheit Deutschlands kreisen.

 

Interventionismus der Sieger als Ursache der Blockbildung

Auf den totalen Krieg, der die bisherige Grundordnung Europas zerstörte, folgte die totale Intervention der Großmächte, die sich im Namen der Demokratie verpflichtet hatten, diese Grundordnung wiederherzustellen. Aber die vor- und überstaatlichen Werte, auf denen das rechtsstaatlich-freiheitliche Prinzip beruhte, waren nicht für alle Siegermächte in gleicher Weise verbindlich. Neben der konstitutionellen Demokratie, die sich ebenso bewusst gegen den demokratischen wie den monarchischen Absolutismus wandte, hatten sich massivere Formen der Demokratie entwickelt, die formal das Primat des plebiszitären Volkswillens erklärten und damit der totalitären Praxis der "Volksdemokratien" den Weg bereiteten. Diese Entwicklung, die ideen-­ und verfassungsgeschichtlich in Westeuropa ihren Ursprung hatte, passte ausgezeichnet in das machtpolitische Programm, das sich die Sowjetunion zur Konsolidierung ihrer Herrschaft in Ost- und Mitteleuropa vornahm. Die außenpolitischen Entscheidungen, die in Teheran, Jalta und Potsdam und auf der Pariser Friedenskonferenz von 1946 getroffen wurden, wirkten nun wieder als geistes- und gesellschaftsgeschichtliche „Weichenstellungen".

Rousseau erhielt in Stalin einen unerwarteten Verbündeten, während sich die Westmächte hinter Montesquieu verschanzten. Auf diesem „Umweg über die Transformation des ordre public der Siegerstaaten in den ordre international und die Anwendung dieses so gewonnenen ordre international zur Umformung des ordre public der besiegten Staaten findet praktisch eine Übertragung der innerstaatlichen Gestaltungsprinzipien der Siegermächte auf die innerstaatliche Ordnung der besiegten Staaten im Namen des Völkerrechts statt. Als maßgebliches Instrument dieses Umwandlungsprozesses dienen in erster Linie die Friedensverträge."

Das bisherige politische System Europas schloss seinem Wesen nach eine Aufgliederung in gegnerische Blöcke aus, denn es konnte nur funktionieren, wenn bei Gefährdung des Gleichgewichts jeder mit jedem Kombinationen eingehen konnte. Nun sind aber durch die geschilderte Verzahnung von innerstaatlicher und internationaler Ordnung die Blöcke zu den konstanten Größen eines europäischen politischen Systems geworden, dessen Variablen in erster Linie die weltpolitischen Interessen der intervenierenden Großmächte und ihr Verhältnis zu den weltpolitisch ernst zu nehmenden Neutralen, erst in zweiter Linie aber die inneren Probleme der Blöcke sind. Diese politische Mechanik ist der Welt durch das Zusammentreffen des ungarischen Aufstandes gegen die sowjetische Herrschaftsordnung des Ostblocks mit der Interventionskrise im Mittleren Osten in ihrer unerbittlichen Härte demonstriert worden. Sie beherrscht, wenn auch weniger deutlich sichtbar, seit 1945 das deutsche Schicksal und bildet das Kernproblem der europäischen Sicherheit.

Das universale System kollektiver Friedenssicherung, das mit der Gründung der Organisation der Vereinten Nationen geschaffen wurde, hat die Bildung gegnerischer Blöcke in Europa nicht verhindern können. Das hängt zum Teil damit zusammen, dass die Behandlung der besiegten Feindmächte nach den Bestimmungen der Charta (Art. 106 und 107) den Großmächten überlassen blieb. Mit den Beschlüssen von Jalta und Potsdam wurde der politische Sprengstoff angehäuft, der in einer Reihe von Spätzündungen das Vertrauen zwischen den westlichen Großmächten und der Sowjetunion zerstörte. Bei jedem ernsthaften Konflikt der Großmächte kam es zu dem „verfahrensrechtlichen Kurzschluss"  der Vetobestimmungen im Weltsicherheitsrat – bis auf die einmalige Ausnahme im Korea-Konflikt – und damit zur Blockierung des gemeinsamen Vorgehens der Großmächte bei der Bereinigung internationaler Konflikte.

 

Kollektive Sicherheit und Sicherung der Person

Die Hauptursache für das Versagen der kollektiven Sicherheit liegt aber noch tiefer. Das System der kollektiven Sicherheit als „Idee einer gemeinsamen Aktion der Staatenwelt gegen den Rechtsbrecher und Störer der internationalen Friedensordnung" erschöpft sich nicht in dem durch die Charta von San Francisco festgelegten Verfahren der Friedenssicherung. Die erste Vollversammlung der Vereinten Nationen hat einstimmig „die durch die Satzung und das Urteil des Nürnberger Gerichtshofes anerkannten Grundsätze des Völkerrechts" bestätigt. Im Nürnberger Urteil ist der Satz enthalten: „Völkerrechtliche Verbrechen werden von Menschen begangen, nicht von abstrakten Einheiten, und nur durch Bestrafung der Einzelmenschen, die solche Verbrechen begehen, kann den Bestimmungen des Völkerrechts zum Durchbruch verholfen werden." Der Zustand der kollektiven Sicherheit ist erst gegeben, wenn jeder, der eine Handlung vornimmt, die nach den Grundsätzen von San Francisco und von Nürnberg ein Verbrechen darstellt, dafür als Person verantwortlich ist, sich strafbar macht und durch ein Gericht auch tatsächlich bestraft wird. Solange es keinen Weltstaat gibt, wird dieser Zustand höchstens annäherungsweise in den Teilen der Welt verwirklicht werden können, in denen große und starke Föderationen sozusagen „Weltstaaten im Kleinen" bilden. Das ist in den Vereinigten Staaten der Fall, und es könnte in der Sowjetunion geschehen, wenn sich dort eine freiheitliche föderative Ordnung entwickeln würde.

Die Gefahrenherde, die den Weltfrieden bedrohen, weil sie immer wieder Interessenkonflikte der beiden Weltmächte heraufbeschwören, liegen in den übrigen Teilen der Welt. Die Teilungen Deutschlands, Indochinas und Koreas und die politische Abtrennung Formosas vom chinesischen Festland – um nur die wichtigsten umstrittenen Bereiche außer dem Nahen und Mittleren Osten anzudeuten – sind kein Ersatz für solche Ordnungen. Wenn in Bezug auf diese Gebiete von kollektiver Sicherheit gesprochen wird, so versteht man darunter im Allgemeinen die Erhaltung des Status quo der Staatenwelt, nicht aber die wirksame Sicherung der politischen und sozialen Grundrechte des Einzelmenschen, die Sicherung der Person.

Die Grundsätze, auf denen die Nürnberger internationale Gerichtsbarkeit aufgebaut war, wurden von der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen in den Entwurf eines Kodex der Vergehen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit übernommen. Nach dem Kodex sind die „Anbahnung oder Ermutigung einer Tätigkeit, die darauf abzielt, in einem anderen Staate innere Kämpfe hervorzurufen" (Art. 2, Absatz 5) und die „Anbahnung oder Ermutigung einer terroristischen Tätigkeit in einem anderen Staate" (Art. 2, Absatz 6) ein Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit. In der Präambel zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die von der Vollversammlung der Vereinten Nationen 1948 verkündet wurde, wird aber ausdrücklich die Möglichkeit „der Auflehnung gegen die Tyrannei und Unterdrückung" als letzter Ausweg anerkannt. Wer sollte nun aber zum Beispiel darüber entscheiden, ob es sich in Ungarn um innere Kämpfe und terroristische Akte gegen eine rechtmäßige Regierung handelte, der die Sowjetunion beisprang, in Algier um eine berechtigte Auflehnung gegen die Tyrannei, zu deren Unterstützung Ägypten berechtigt ist? Wer sollte – wenn es gelänge, diese Frage zu beantworten – über die Schuldigen zu Gericht sitzen? Der Entwurf der Konvention, durch die eine internationale Strafgerichtsbarkeit ins Leben gerufen werden soll, liegt seit 1953 vor. Der Meinungsaustausch der Regierungen über ihre Inkraftsetzung „hält an".

In Ungarn wie im Mittleren Osten lösten nun die angreifenden Mächte durch ihr Veto den verfahrensrechtlichen Kurzschluss im Weltsicherheitsrat aus. In beiden Fällen raffte sich die Vollversammlung trotzdem zu Entschließungen auf; aber wer kann verkennen, dass die politische Wirkung verschieden war, je nachdem, wie jeweils die Macht der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten in die Waagschalen geworfen wurde? In Ungarn war das Ergebnis die moralische Verurteilung des Angreifers und die stillschweigende Anerkennung der durch die Aggression geschaffenen Tatsachen, während im Mittleren Osten ein wirksamer machtpolitischer Druck auf die Angreifer ausgeübt wird.

Die allgemeine moralische Unsicherheit in der Beurteilung von „Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit" ist eine Folge davon, dass die Wirksamkeit der kollektiven Friedenssicherung von den jeweiligen Machtverhältnissen abhängt. Nicht der Entschluss zur Bildung einer internationalen Streitmacht hat die Ausbreitung des Konflikts im Mittleren Osten verhindert, sondern die massive Drohung der Vereinigten Staaten, die Entsendung sowjetischer „Freiwilliger" nach Ägypten mit militärischen Gegenmaßnahmen zu beantworten. In Ungarn, wo ein solcher Druck nicht ausgeübt werden kann, bleibt die Wirkung der Resolutionen der Vereinten Nationen auf die Erleichterung humanitärer Hilfsmaßnahmen beschränkt. Deshalb wäre es eine naive Vereinfachung der Weltverhältnisse, wollte man das Versagen der kollektiven Friedenssicherung nur darauf zurückführen, dass es noch kein internationales Gericht für die Bestrafung von Friedensbrechern gibt. Noch ist ja die Frage weit offen, ob eine solche totale innerweltliche Friedenssicherung mit der Natur des Menschen und dem Wesen der Politik in Einklang zu bringen ist. Müsste man nicht umgekehrt die Tatsache, dass zehn Jahre nach dem Nürnberger Urteil so gut wie keine Aussicht auf die Einsetzung eines Internationalen Strafgerichts besteht, zum Anlass nehmen, die politische Tragweite der kollektiven Sicherheit neu zu überdenken? Es könnte ja sein, dass das System gerade die Politiker überfordert, die es relativ ernst damit meinen, und jenen alle Trümpfe in die Hand spielt, die am wenigsten vor der unrechtmäßigen Anwendung der Gewalt zurückschrecken. „Welch schöne internationale Moral, in deren Namen man sicher verliert, wenn man Demokrat ist, und sicher gewinnt, wenn man Diktator ist!" Dieser brutale Satz, mit dem Guy Mallet in seiner Antwort auf eine kommunistische Interpellation am 31. Oktober seinem Herzen Luft verschaffte, stammt von einem Sozialisten, dem kein Chauvinismus nachgesagt werden kann. Ähnliche Gedanken konnte man während der letzten Wochen in vorsichtiger Form nicht nur von den französischen und den britischen Delegierten in den Wandelgängen der Vereinten Nationen hören, sondern auch von Vertretern anderer europäischer Nationen und von unabhängigen europäischen Publizisten.

 

Das föderalistische „Modell" als regionale Ergänzung der globalen Friedenssicherung

Von dieser allgemeinen Verwirrung der Begriffe und Wertmaßstäbe hebt sich eine Tatsache besonders ab: Die Idee der kollektiven Sicherheit bleibt eine blasse Abstraktion, solange sie nicht mit Vorschlägen für dauerhafte Lösungen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Spannungen in den einzelnen Weltregionen verbunden wird. Konkreten Inhalt erhält sie erst, wenn sie als Sicherung von Personen und Personengruppen verstanden wird und zugleich deren Verantwortung für die allgemeine Sicherheit begründet. Kollektive Sicherheit bedeutet für Europa etwas anderes als für den Mittleren Osten und für Ostasien. Was sie bedeutet, wird erst sichtbar, nachdem man sich jeweils über den politischen Sinn der Ordnungsprinzipien verständigt hat, die den regional verschiedenen geistigen, gesellschaftlichen und materiellen Voraussetzungen der Daseinsgestaltung Rechnung tragen sollen.

Gerade jene konsequenten europäischen Föderalisten, die heute in Vergessenheit geraten sind, nachdem man sie als „Berufseuropäer" ironisiert hat, suchten nichts anderes als den der europäischen Situation adäquaten Inhalt der kollektiven Sicherheit. Als im Sommer 1947 die Union Europäischer Föderalisten in Montreux gegründet wurde, konstituierte sie sich in ihrer Satzung als Glied der Weltföderalistischen Bewegung, mit einer deutlichen Spitze gegen die damals schon sichtbar werdenden Blockbildungen in Europa. Der zweite, für 1948 geplante Kongress dieser Gruppe sollte in Prag stattfinden, denn es galt als eine Selbstverständlichkeit, dass auch die osteuropäischen Länder in die Gestaltung der europäischen Grundordnung mit einbezogen werden sollten. Das bedeutete freilich eine Revolution, über deren Ausmaße sich auch die „Berufseuropäer" gründlich täuschten. Sie wollten Europa als „dritte Kraft" zwischen die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion stellen und dachten dabei auch an eine soziale Grundordnung, die einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Bolschewismus zeigen sollte. Die Interdependenz von ordre public und ordre international war ihnen wohl bewusst, und sie waren sich klar darüber, dass nur ein Europa, das die soziale Sicherheit in Freiheit verwirklichte, unter den neuen Weltmächten Aussicht auf Bestand hatte. Aber sie unterschätzten die geistigen Vorarbeiten, die zur Verwirklichung dieses Programms notwendig waren, fast noch mehr als die politische Bedrängnis, in der sie sich befanden. Nur ein Bündnis mit den Vereinigten Staaten konnte die wirtschaftliche und soziale Desintegration Europas nach dem Kriege aufhalten und eine Atempause für den Wiederaufbau und für ein Minimalprogramm der militärischen Sicherung schaffen. Damit entfiel die Hauptvoraussetzung für ein Europa der „dritten Kraft". Die Atempause bedeutete Eindämmung der russischen Machtsphäre und der kommunistischen Infiltration, enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und Verzicht auf eine weltpolitische Vermittlerrolle Europas.

Die geistige Aufgabe bestand nun nicht mehr nur darin, aus der Fülle der europäischen Überlieferung das für die Gegenwart Brauchbare zu übernehmen und der Institutionalisierung zuzuführen. Die lebensnotwendig gewordene Verbindung zu den Vereinigten Staaten zwang dazu, auch die Überlieferungen der „Neuen Welt" in diesen Prozess einzubeziehen. Gleichzeitig durfte sich der frei gebliebene Teil Europas zumindest im Geistigen nicht von dem Geschehen in der Sowjetunion und ihrem Herrschaftsbereich abkapseln. Die politische Entwicklung Chinas und die rasche Emanzipation der früheren Kolonialgebiete europäischer Mächte, mit Indien an der Spitze, machten es notwendig, ein neues Verhältnis zu den asiatischen Weltkulturen zu suchen. Kurz, es wurden eine geistige Umstellung und strukturelle Anpassung erforderlich, die dem Übergang vom mittelalterlichen zum neuzeitlichen europäischen Weltbild vergleichbar waren. Es war wichtig dabei, die Idee Europa als Idee einer Gesamtverfassung des staatlichen und des gesellschaftlichen Lebens hochzuhalten. Aber für eine Institutionalisierung der europäischen Verfassung war es noch viel zu früh.

Hier können die in einem früheren Abschnitt skizzierten Zusammenhänge zwischen der Idee Europa und den zeitgebundenen Verwirklichungen dieser Idee in den europäischen Friedensschlüssen die geschichtlichen Dimensionen andeuten, in denen sich solche Prozesse vollziehen. Zehn Jahre sind dabei eine sehr kurze Zeitspanne. Die „Berufseuropäer" glaubten aber, sie könnten ihre Revolution in einem halben Jahrzehnt nicht nur durchführen, sondern auch schon institutionell festigen. Weil sie zu viel wollten, haben sie schließlich so gut wie nichts erreicht. Für Europa sind die Ereignisse in Ungarn zu spät und zu früh gekommen. Die Ansätze zu einer geistigen und sozialen Neuorientierung, die in den europäischen Widerstandsbewegungen und im Elan der ersten Wiederaufbaupläne deutlich spürbar waren, sind von dem fast mechanischen Vorgang der Blockbildung zerdrückt worden. San Francisco und Nürnberg blieben bloße Symbole. In Westeuropa vollzog sich eine nationalstaatliche Restauration mit allen äußeren Anzeichen der Prosperität. Die europäische Revolution hat ihre Kinder nicht aufgefressen, sondern vergessen, und ist dabei selbst vergessen worden. Das Geschehen in Ungarn und in den übrigen Satellitenstaaten müsste als das Hervorbrechen der durch die Blockbildung bisher eingedämmten Lava einer gesamteuropäischen Eruption begriffen werden: Dem steht die heute gebräuchliche Vorstellung der kollektiven Sicherheit entgegen, deren eigentliches Motiv die Sicherung des Status quo ist. Bei den Machtproben zwischen den subsidiären Sicherheitssystemen, die sich auf der einen Seite um die Sowjetunion und Rotchina, auf der anderen Seite um die Vereinigten Staaten gruppiert haben, werden die Spielregeln der kollektiven Sicherheit formal eingehalten, weil keine der beiden Gruppen es auf einen bewaffneten Weltkonflikt ankommen lassen will. Das schließt aber, wie die jüngsten Ereignisse erneut zeigen, weder örtliche bewaffnete Konflikte aus, noch werden dadurch die Blöcke und andere Ursachen der internationalen Spannungen aus der Welt geschafft; die Einflusssphären, auf deren Respektierung durch die Weltmächte der Zustand der Koexistenz beruht, sind keine Grenzen für Gedanken und menschliches Miterleben. Sie schließen nicht aus, dass sich unter dem lastenden Gewicht der Blöcke geistige Strömungen ein neues Bett graben, aus dem sie früher oder später nach oben drängen werden.

 

Gesamteuropäische Friedensregelung

Daher bleibt die Aufgabe bestehen, im freien Teil Europas die geistigen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine gesamteuropäische Friedensregelung zu schaffen, die Aussicht hat, in den unter sowjetischer Dominanz stehenden Gebieten wenigstens jenes Mindestmaß an Sicherung der Person zu erzielen, durch das die kollektive Sicherheit Gestalt und Aussicht auf Dauer gewinnt. Diese Aufgabe kann nur unter aktiver Beteiligung Großbritanniens und Frankreichs und mit wohlwollendem Verständnis vonseiten der Vereinigten Staaten erfüllt werden. Wenn sich die verantwortlichen Politiker in London und Paris heute als Opfer einer „with carrot and stick" geführten amerikanischen Politik gedemütigt fühlen, so ist dies nicht zuletzt das Ergebnis einer Jahrzehnte verfehlten Europa-Politik. Beide Mächte haben nach 1945 versucht, an ihrer nationalstaatlichen Politik festzuhalten und von den Früchten des Imperialismus des 19. Jahrhunderts zu retten, was noch zu retten war. Die Alternative wäre gewesen, rechtzeitig den überlebten Teil der Traditionen des 19. Jahrhunderts zu opfern und den nur scheinbaren Verlust an Prestige durch eine Verstärkung der gesamteuropäischen Wirkung in der Welt um ein Vielfaches auszugleichen. Die vergessene europäische Revolution des 20. Jahrhunderts wäre dann nicht nur eine Ideologie der „Berufseuropäer" geblieben.

Im vergangenen Jahrzehnt hat sich die Entente Cordiale vor allem darin geäußert, dass beide Länder in erster Linie Weltpolitik und nur mit der linken Hand Europa-Politik betrieben. Vielleicht ist es inzwischen zu spät geworden, eine gemeinsame Europa­-Politik als Weltpolitik zu führen. Aber selbst dann behält das föderalistische Modell seinen Wert für die regionalen Lösungen oder Teillösungen, die in Europa als Ergänzungen der globalen Friedenssicherung notwendig sind. Dieser Gedanke mag utopisch wirken, solange man das Geschehen in Ungarn und im Mittleren Osten isoliert betrachtet und sich damit an die von den Weltmächten vorgeschriebene Abgrenzung der Einflusssphären hält.

Geht man aber, wie dies am Anfang versucht wurde, von der Idee Europa als der Idee einer gesamteuropäischen Grundordnung des gesellschaftlichen und des staatlichen Lebens aus, dann wird es fast nebensächlich, auf welcher Seite der Demarkationslinie die Entwicklung in Fluss gerät. Entscheidend ist, ob sie früher oder später in ein System kommunizierender Röhren einmündet und das „Denken in Blöcken" überwindet.

In einem der schönsten europäischen Gedichte werden Glaube und Nächstenliebe als zwei große Schwestern geschildert, die ihre kleine Schwester, die Hoffnung, fürsorglich bei den Händen nehmen und in Wirklichkeit von ihr geführt werden. Der ungarische Freiheitskampf lässt uns an dieses Bild denken. Er hat solche Kräfte des Glaubens und der helfenden Nächstenliebe ausgelöst, dass es schwerfällt, zu glauben, ein solcher Aufbruch könne ganz im Blut ersticken. „Il y a dans ce qui commence une source" – heißt es in dem erwähnten Gedicht von Charles Peguy –, „une race qui ne revient pas. Un départ, une enfance que l'on ne retrouve, que ne se retrouve jamais plus. Or la petite espérance est celle qui toujours commence." „Die kleine Hoffnung ist es, die immer wieder den Anfang macht": auch den düsternen und scheinbar unwiderlegbaren Prognosen über die Zukunft der Welt entgegenzutreten, wie sie Carl J. Burckhardt in dem eingangs zitierten Brief aufgestellt hat.

 

Der Beitrag ist erschienen in: Europa-Archiv, 22-23/1956, S. 9311-9316. In dieser Online-Version sind die Fußnoten des Originalbeitrags nicht enthalten.

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