Die Tragödie zweier Völker
Aus dem Krieg in Tschetschenien ist ein Bürgerkrieg geworden
Der Krieg in Tschetschenien ist vorbei, erklärte Wladimir Putin im Dezember. Doch die Katastrophe für die tschetschenische wie die russische Gesellschaft geht weiter. Die internationale Gemeinschaft sieht dabei zu.
Anfang März zeigte das russische Fernsehen Bilder einer Operation in der tschetschenischen Ortschaft Tolstoi-Jurt. Die Zuschauer sahen den Bunker eines Hauses in der Suwurowa-Straße Nr. 1, auf dem Boden die Leiche eines Mannes mit ausgebreiteten Armen. Er trug eine Militärhose, der Oberkörper war entblößt, unter seinem linken Auge war eine dunkle Stelle zu erkennen. Es war der Leichnam Aslan Maschadows, des Rebellenführers und letzten frei gewählten Präsidenten Tschetscheniens. Mit seinem Tod endete nicht nur ein Kapitel des russisch-tschetschenischen Konflikts, sondern auch die Hoffnung auf eine baldige politische Lösung.
Dabei könnten die Urteile über Aslan Maschadow unterschiedlicher nicht ausfallen. Wenn sich auch nicht alle zu solch emotionalen Urteilen verstiegen wie der französische Philosoph André Glucksman, der Maschadow als tschetschenischen „de Gaulle“ pries, so war Maschadow für die meisten Tschetschenen und manchen Europäer der einzige legitime Repräsentant seines Volkes, der letzte, der einen Verhandlungsfrieden mit Russland hätte herbeiführen können. Der Kreml und viele Russen hingegen sahen Maschadow als Verbrecher, Terroristen und Drahtzieher von Terroranschlägen. Auf seinen Kopf war ein Lösegeld von zehn Millionen Dollar ausgesetzt.
Entsprechend widersprüchlich sind die Versionen über die Umstände seines Todes. Maschadow habe in Tolstoi-Jurt einen Anschlag geplant, erklärte der russische Inlandsgeheimdienst FSB, und sei vor Ausführung der Tat durch eine Granate getötet worden. Tschetschenen selbst hätten ihren Anführer verraten, das Lösegeld sei ausgezahlt worden, die sprichwörtliche Loyalität als Propaganda entlarvt. Dem widersprach, dass die Leiche keine entsprechenden Verletzungen aufwies und selbst ein Vertreter des tschetschenischen Innenministeriums später zugab, niemand habe Tolstoi-Jurt angreifen wollen. Etwas später erklärte der stellvertretende Generalstaatsanwalt Nikolai Schepel, der Rebellenführer sei auf eigenen Wunsch von seinen Leibwächtern erschossen worden, als ein Entkommen unmöglich war.1
Ramsan Kadyrow wiederum, von Moskau eingesetzter Vizepräsident, verbreitete, ein Leibwächter habe Maschadow umgebracht – durch „unsachgemäßen“ Waffeneinsatz, obwohl in Tschetschenien bereits Kinder mit Waffen hantieren und diese Männer bereit waren, für Maschadow zu sterben. So legten russische Medien auch nahe, Kadyrow selbst habe die Hand im Spiel gehabt hat: Maschadow sei von Kadyrow Tage vorher hingerichtet worden, der Rebellenführer sei den Geschäften des Moskauer Quislings mit anderen tschetschenischen Warlords auf die Spur gekommen. Nun musste der Mitwisser beseitigt werden, und Kadyrow habe die Russen gebeten, die Ermordung nachträglich zu inszenieren, aus Angst vor der Rache der Rebellen.
Die Szenarien werfen ein Licht auf einen Konflikt, in dem die Fronten zusehends unübersichtlicher werden. Der ursprünglich russisch-tschetschenische Kampf ist längst in einen innertschetschenischen Bürgerkrieg übergegangen, in dem prorussische Tschetschenen gegen Rebellen kämpfen, expansionistische Islamisten wie der berüchtigte Terrorist Schamil Bassajew mit gemäßigten Separatisten wie Maschadow konkurrieren, in dem Folter und Mord nach dem Prinzip der Blutrache jeden Monat neue Aufständische hervorbringen. Der Tschetschenien-Krieg ist, ganz im Sinne Moskaus, „tschetschenisiert“, freilich ohne dass Russland zur Ruhe gekommen wäre.
Was wirklich in jener ersten Märzwoche geschah, dürfte kaum noch zu ermitteln sein. Inzwischen haben die Russen die Leiche nach Moskau gebracht, das Haus in der Suwurowa-Straße gesprengt und die Akte geschlossen. Gleichwohl stehen Maschadows Leben und Tod prototypisch für die Genese dieses Krieges. Geboren 1951 in Kasachstan, wohin Stalin die Tschetschenen wegen angeblicher Kollaboration mit den Nazis 1944 hatte deportieren lassen, kehrte er als 7-Jähriger zurück in den Kaukasus, trat der Roten Armee bei, diente sogar in Afghanistan. Wie Dschochar Dudajew, der erste frei gewählte Präsident Tschetscheniens, wurde er in der Sowjetunion sozialisiert, wie dieser erklomm er die Karriereleiter in der Roten Armee. Dudajew kommandierte eine Bomberstaffel in Estland, Maschadow brachte es zum Oberst der 7. Division der Roten Armee in Litauen, und die Freiheitsbewegung des Baltikums inspirierte beider Wunsch nach Unabhängigkeit. So kehrte Maschadow nach Tschetschenien zurück, als Dudajew, neu gewählter Präsident der soeben ausgerufenen „Tschetschenischen Republik Itschkerija“, ihn holte.
Zehn Jahre davon hat Russland mit Unterbrechungen Krieg im Kaukausus geführt, drei Präsidenten ermordet: Dschochar Dudajew 1996 mit einer Rakete in Tschetschenien, Selimchan Jandarbijew 2004 durch Geheimdienstler in Katar, und nun Aslan Maschadow. Für alle, die noch auf eine politische Lösung gehofft hatten, bedeutete die Szene des triumphal ausgestellten Leichnams einen herben Rückschlag.
Maschadow, der sich im ersten Tschetschenien-Krieg Ansehen als brillanter Stratege erwarb und nach Dudajews Tod die Führung der Rebellen übernahm, bemühte sich bis zum Schluss um einen direkten Zugang zum Kreml. 1996 handelte er mit General Alexander Lebed das Abkommen von Chassawjurt aus, 1997 mit dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin einen Friedensvertrag. Dass er sich in der Zeit zwischen den Kriegen nicht überwinden konnte, die Islamisten und Kriminellen in den eigenen Reihen zurückzudrängen, die Tschetschenien in ein Dorado für den internationalen Terrorismus, für Drogenschmuggel und Entführer verwandelten und von einem mafiösen Gottesstaat träumten, dass in einigen Städten die Scharia eingeführt, auf Marktplätzen ausgepeitscht, erschossen und Hände abgehackt wurden, gilt bis heute als größter Fehler Maschadows. Tschetscheniens Autonomieversuche waren gescheitert, die Republik galt allein weder als lebens- noch demokratiefähig. Als der heutige Präsident Wladimir Putin den Einmarsch Bassajews in der Nachbarrepublik Dagestan und die Explosionen in Moskauer Wohnhäusern zum Anlass nahm, 1999 erneut russische Truppen nach Tschetschenien zu schicken, regte sich in Russland kaum noch Protest, obwohl Indizien sehr bald darauf hinwiesen, dass der FSB in die Explosionen in Moskau verstrickt war und die Russen Bassajew ungestört operieren ließen.
Maschadow, der einstige Offizier der Roten Armee, ging in den Untergrund, und in Russland setzte sich jene Spirale aus Terroranschlägen und Menschenrechtsverletzungen in Gang, die bis heute nicht zum Stillstand gekommen ist. Obwohl sich Maschadow vom Terror distanzierte, war er bereits nach der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater „Nord-Ost“ für die Russen als Gesprächspartner offiziell nicht mehr akzeptabel. Spätestens nach der Geiselnahme in Beslan rissen die letzten inoffiziellen Kontakte ab. Während Schamil Bassajew jedoch Anfang Februar 2005 in einem Fernsehinterview mit dem britischen Sender Channel 4 neue „Operationen ähnlich der von Beslan“ ankündigte, rief Maschadow eine einseitige Waffenruhe aus – und setzte sie durch. Noch vier Tage vor seinem Tod erklärte er in einem Interview, eine halbe Stunde Zeit mit Putin persönlich reiche aus, um den Kon-flikt in kürzester Zeit zu beenden. Für die Falken im Kreml mochte dies eher ein Grund gewesen sein, den letzten Gesprächspartner für eine politische Lösung aus dem Weg zu räumen. Denn dass Maschadow ohne Wissen und Billigung des Kremls liquidiert wurde, scheint ebenso wenig denkbar wie die Möglichkeit, dass russische Truppen noch nie Gelegenheit hatten, Maschadow zu töten.
Möglicherweise waren die Bilder des zur Strecke gebrachten Staatsfeindes als Instrument gegen die sinkenden Umfragewerte des russischen Präsidenten Putin gedacht. Militärisch aber dürfte die Liquidierung Maschadows kaum als Befreiungsschlag wirken: Noch im Dezember gaben russische Offiziere zu, dass die Rebellen auch nach zehn Jahren „Antiterror-operation“ im Kaukasus zahlreich, gut ausgerüstet und hochmotiviert sind.2 Putin hat die Brücken für eine politische Lösung abgebrochen.
Autonomie, nicht Islamisierung
Mit der Hinrichtung Maschadows hat sich Russland eines Gegenübers beraubt, der für eine weitreichende Autonomie Tschetscheniens eintrat, aber nicht für die Islamisierung des gesamten Kaukasus, für einen Dschihad gegen den Westen, wie ihn Bassajew propagiert: „Wer für Maschadow gekämpft hat, kann sich jetzt ausruhen“, beschied der Terrorist: „Wer für Allah gekämpft hat, setzt den Heiligen Krieg fort.“ Bassajew, der es nach diesem neuerlichen Akt russischer Willkür noch leichter haben dürfte, Anhänger zu rekrutieren, kommt der Tod Maschadows gelegen, ebenso wie die Tatsache, dass Moskau auch den Nachfolger Maschadows, Scheich Adulchalim Saidulajew, den Präsidenten des Obersten Scharia-Gerichts in Tschetschenien, bereits als beinharten „Wahhabiten“ diskreditierte. Was Bassajew mit den Hardlinern im Kreml verbindet, ist das völlige Desinteresse an jeder Art politischer Lösung.
Eine Viertelmillion Menschen sind bislang in diesem Konflikt gestorben, den Jelzins Sicherheitsberater Oleg Lobow 1994 als „kleinen, siegreichen Krieg“ entworfen hatte und den Wladimir Putin lösen wollte, indem er die Rebellen „auf dem Lokus kaltmacht“. Die tschetschenische Bevölkerung wurde um ein Fünftel dezimiert. Dass der Krieg, der längst die Nachbarrepubliken ergriffen hat und die gesamte Region destabilisiert, offiziell mehrfach beendet wurde und gar nicht als Krieg, sondern als „Antiterroroperation“ gilt, erhöht die Lösungsmöglichkeiten nicht. Geistesgegenwärtig hatte Putin nach dem 11. September 2001 den Tschetschenien-Feldzug in den Kampf gegen den internationalen Terrorismus eingereiht. Seitdem verteidigt Russland im Kaukasus nach Auffassung des Kremls die Sicherheit und Freiheit des Westens. Wie aber will man einen Krieg beenden, den es gar nicht gibt?
Die russischen Medien stellen Tschetschenien meist als grenzenlose Weite dar, mit zerklüfteten Hängen und unzugänglichen Schluchten. In Wahrheit ist die Republik so groß wie Thüringen und bergig nur im Süden. Tschetschenien, so Alexander Tscherkassow, Leiter der Menschenrechtsorganisation Memorial, „bildet ein Tausendstel des heutigen russischen Territoriums, seine rund 600 000 Einwohner stellen ein 250stel der Gesamtbevölkerung Russlands dar“.3 Dennoch hat die winzige Republik ganz Russland verändert, vor allem, weil sich der Konflikt als probates politisches Instrument für ein Roll-back des gesamten Landes erwiesen hat. Die Gängelung der Presse, die „Vertikalisierung“ der Politik, ja, der gesamten Gesellschaft, die wachsende Macht der Geheimdienste und Sicherheitsorgane, kurz, das gesamte Repertoire einer „gelenkten Demokratie“ verdankt seine bemerkenswerte Akzeptanz in der russischen Gesellschaft zu keinem geringen Teil dem Gefühl einer allgegenwärtigen Bedrohung.
Der Preis für diesen permanenten inneren Ausnahmezustand ist hoch. Soziologen haben auf die Aushöhlung der russischen Gesellschaft nach zehn Jahren Krieg hingewiesen: den grassierenden Fremdenhass, die Furcht vor einem neuen Beslan, einem neuen „Nord-Ost“, die Skinheads, den Aufstieg rechtsradikaler Parteien, vor allem aber die Verrohung einer Bevölkerung, die bereits die Afghanistan-Veteranen nicht integrieren konnte und nun erneut mit Hunderttausenden traumatisierter, brutalisierter Kriegsheimkehrer fertig werden muss. Dass die Gewaltbereitschaft in Tschetschenien zu einem Teil wohl auch die zutiefst inhumane Struktur einer Armee mit jahrhundertealten Folterriten widerspiegelt, macht eine Diskussion noch schwieriger. Jedenfalls hat eine Debatte um die psychologischen Verheerungen des Krieges nicht einmal begonnen.
Der Preis für Tschetschenien freilich ist ungleich höher, wobei die Zerstörung jeder Infrastruktur nur das augenfälligste Indiz ist. Zwar erkannte Wladimir Putin nach einem ersten persönlichen Flug über Grosny im vergangenen Jahr überrascht, die Stadt sehe ja „einfach schrecklich“ aus. Doch der Kreml hält am Lob der russischen Wiederaufbauleistung selbst um den Preis grotesker Verzerrung fest. Anfang des Jahres legten Vizepräsident Kadyrow und Xenia Sobtschak, die Tochter des Sankt Petersburger Bürgermeisters, den Grundstein für einen Aquapark in Gudermes; Kultur- und Sportstätten, gar ein Disneyland sollen folgen: virtuelle Meilensteine einer virtuellen Normalisierung.
Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass Geld nach Tschetschenien geflossen ist, oder genauer: dass Moskau Geld für den Wiederaufbau bereitgestellt hat, 160 Millionen Euro allein für das Jahr 2005. Man mag diese Summe als Beweis betrachten, dass der Kreml jenseits aller Kopf-ab-Rhetorik begriffen hat, dass der verbitterte Widerstand der Tschetschenen allein mit einem historischen Hass auf Russland nicht hinreichend zu erklären ist, sondern die verheerenden Lebensbedingungen zur Radikalisierung beitragen; dass dem Terrorismus nur mit einer Lebensperspektive für die Bevölkerung der Boden entzogen werden kann. Mit derselben Berechtigung allerdings ließen sich die Wiederaufbaugelder als eine weitere Geldquelle interpretieren, die – neben den Bestechungsgeldern an den Checkpoints und dem Ölschmuggel, der unter den Augen, mit Billigung und zum Profit der russischen Truppen geschieht – Tschetschenien in eine wahre Goldgrube verwandelt hat. Selbst der russische Rechnungshof hat inzwischen festgestellt, dass nur ein Bruchteil der Gelder ordnungsgemäß ausgegeben wurde, der Rest versickert in Moskau oder in Grosny. Es gehört zur grausamen Logik dieses Konflikts, dass ausgerechnet die Mittel für den Wiederaufbau diesen Krieg noch auf Jahre hin perpetuieren können.
Einer der gewinnbringendsten Geschäftszweige aber sind die Entführungen. Dass seit 1999 knapp 2100 Menschen in Tschetschenien verschwanden, gibt inzwischen selbst die russische Generalstaatsanwaltschaft zu. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch gehen von bis zu 5000 Entführungsfällen aus. Bezogen auf die Einwohnerzahl, so hat Memorial errechnet, ist dies eine höhere Quote als zur Zeit des stalinistischen Terrors 1937/38.4 Inzwischen hat sich nicht nur der Kreis der möglichen Opfer, sondern auch jener der Täter ausgeweitet. Wurden anfangs vor allem junge Männer verschleppt, gefoltert und ermordet, so werden inzwischen auch Frauen oder Familienangehörige von Rebellen entführt. Zwar wurde im Jahr 2003 erstmals ein russischer Offizier wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Oberst Jurij Budanow, der die 18-jährige Elsa Kungajewa verschleppt und getötet hat, bekam in einem aufsehenerregenden Prozess zehn Jahre Haft,5 und auch vor einem tschetschenischen Gericht wurde jüngst erstmals ein Offizier der russischen Spezialeinheit Omon wegen Körperverletzung verurteilt. Die meisten Entführungsfälle aber werden nie zur Anzeige gebracht, um die Chancen auf eine Auslieferung der Angehörigen – schlimmstenfalls: der Leichen – nicht zu beeinträchtigen.
Es gehört zur wachsenden Unübersichtlichkeit des Konflikts, dass längst nicht mehr nur russische Truppen oder Geheimdienste in Entführungen verwickelt sind. Zu den bestgehassten Männern der Republik zählt Ramsan Kadyrow, Sohn des von Moskau inthronisierten und ermordeten Präsidenten Achmed Kadyrow, Vizepräsident der Republik und erst vor kurzem von Wladimir Putin mit der Auszeichnung „Held Russlands“ geehrt. Seine Garde besteht aus bis zu 5000 Mann und ist inzwischen gefürchteter als die russischen Einheiten. Die deutsche Gesellschaft für bedrohte Völker hat jetzt beim deutschen Generalbundesanwalt Strafanzeige gegen Kadyrow gestellt, ein honoriger, angesichts der politischen Konstellation aber folgenloser Schritt.
Zersplitterte Gesellschaft
So wächst in den Ruinen einer zerschossenen Kultur eine Generation heran, die nichts anderes kennt als den Krieg, die mit Russland nur Gewalt, Willkür und Tod assoziiert, die, wie es ein tschetschenischer Journalist ausdrückte, keine Ahnung hat, „dass Russen früher die besten Lehrer in tschetschenischen Schulen waren“. Umgekehrt wurden in der russischen Gesellschaft die finsteren, gleichwohl respektvollen Darstellungen der Tschetschenen, wie sie in der Literatur von Lermontow bis Solschenizyn zu finden sind, von hypertrophem Misstrauen verdrängt. Die tschetschenische Gesellschaft ist zersplittert in prorussische Tschetschenen und Rebellen. Welche Verschiebungen das Machtvakuum nach dem Tod Maschadows auslösen wird, ist kaum abzusehen.
Dabei können sich radikalislamistische Kriminelle wie Schamil Bassajew auf Gelder aus dem arabischen Ausland verlassen, mit denen sie Trainingscamps und Anhänger bezahlen. Vor allem der Kreml bemüht sich, die Verbindungen der Rebellen zum internationalen Terrorismus in möglichst düsteren Farben zu zeichnen, forciert damit allerdings seinerseits eine „Islamisierung“ des Konflikts, die angesichts von 20 Millionen russischen Muslimen riskant ist. Ebenso unbestreitbar wie die Infiltrierung Tschetscheniens durch „Wahhabiten“, fundamentalistischen Islamisten aus der arabischen Welt, ist die Tatsache, dass die Kaukasus-Republik traditionell keinem fundamentalistischen Islam anhing, sondern einer mystischen, gemäßigten und volkstümlichen Variante des Sufismus. Der Eifer internationaler Gotteskrieger, die ihren Dschihad eher aus pragmatischen Gründen mit den Unabhängigkeitsbestrebungen der Tschetschenen koordinieren, war ihnen im Grunde fremd. Erst der Krieg und die Erfahrung völliger Entrechtung haben vor allem jüngere Tschetschenen für die islamistische Ideologie empfänglich gemacht. Während aber Osama bin Laden den tschetschenischen Widerstand als Teil seines weltweiten Krieges gegen die Ungläubigen reklamiert und als propagandistischen Referenzkonflikt für seine Zwecke zu vereinnahmen sucht, sollte man die Zahl der ausländischen Kämpfer unter den Rebellen nicht überschätzen. Wenige Tschetschenen kämpften in Afghanistan, keiner wird in Guantànamo festgehalten. Die Wurzeln des Tschetschenien-Konflikts und des wachsenden Terrors liegen allein im Kaukasus.6
Zu den folgenschwersten „Kollateralschäden“ der islamistischen Radikalisierung gehört die Atrophie der tschetschenischen Gesellschaft. Im Gegensatz zu mancher romantischen Verklärung im Westen, die die Tschetschenen im Stile Glucksmans zum edlen basisdemokratischen Bergvolk stilisierte, gehorchte die tschetschenische Gesellschaft einem strengen Regelwerk, dem Adat, das das Leben einer zutiefst patriarchalen Gemeinschaft ordnete, deren Werte auf Respekt vor dem Alter, auf Gastfreundschaft, Loyalität zum Clan, auf Ehre, aber auch dem Prinzip der Blutrache beruhten. Dieses starre, vormoderne Regelwerk haben die Tschetschenen über Jahrhunderte bewahrt, allen russischen, später sowjetischen Domestizierungsversuchen und allen stalinistischen Vernichtungsbemühungen zum Trotz. Die vergangenen zehn Jahre aber haben gezeigt, dass das traditionelle Regelwerk als Schutz gegen Willkür und Mord obsolet geworden ist. Das hat die tschetschenische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Dass der Riss zwischen tschetschenischer Tradition und religiöser Ideologie inzwischen Familien, Häuser, Dörfer auseinander reißt, belegt das Beispiel eines Vaters, der seinen Sohn erschlägt, weil dieser unter dem Einfluss der Islamisten die eigene Schwester heiraten will.7
Schwarze Witwen
Nichts allerdings zeigt die Erosion der traditionellen Werte deutlicher als eine Erscheinung, die geradezu zum Symbol für die Eskalation des Kon-fliktes geworden ist: Die meist schwarz gewandeten Selbstmordattentäterinnen, die in Russland unter der Bezeichnung „Schwarze Witwen“ als Protagonistinnen eines Terrors gelten, der keine Grenzen mehr kennt. Hunderte von Menschen sind inzwischen Anschlägen von Attentäterinnen zum Opfer gefallen. „Schwarze Witwen“ waren im Musicaltheater „Nord-Ost“ beteiligt und in Beslan.Dabei steht diese Art der Selbstjustiz und des Selbstopfers in flagrantem Widerspruch zu allen tschetschenischen Traditionen. Kampf, Ehre, Rache gehören zum Aufgabenbereich des Mannes. In der sozialen Hierarchie ist die Frau dem Mann untergeordnet, dafür aber kann sie von ihm Schutz erwarten. Die Erfahrung von Willkür, Folter und Mord aber und die Erkenntis, dass die Männer dem russischen Terror oft schutzloser ausgeliefert sind als Frauen, dass Frauen sie verstecken oder sich vor die Panzer werfen, um ihre Verschleppung zu verhindern, haben die jahrhundertealte Rollenverteilung erschüttert. Frauen, die nichts mehr zu verlieren haben, setzen sich über alle Traditionen hinweg und rächen auf eigene Faust ihre Brüder, Väter, Ehemänner oder eigenes erlittenes Unrecht.
Inzwischen ist aus diesen einzelnen, radikalen, aber menschlich begreiflichen Reaktionen auf die persönliche Tragödie offenbar nicht nur in der Kreml-Propaganda eine regelrechte Strategie der Rebellen geworden, die die Frauen als lebende Bomben, ohne ihre Zustimmung und ohne ihr Wissen, in den Tod schicken.8 Junge Frauen, die nie an Selbstmord dachten, werden von den Rebellen getäuscht, in Lagern ausgebildet und schließlich regelrecht ferngezündet. Dass die Familien sich für den Verlust der Töchter reich entschädigen lassen, dass Brüder ihre eigenen Schwestern in den Tod schicken, zeigt, wie sehr bereits der Nukleus der tschetschenischen Gesellschaft – die Familie, der Clan – in Auflösung begriffen ist.
Angesichts dieser Gemengelage ist die Kritik am deutschen Bundeskanzler, der den russischen Präsidenten einen „lupenreinen Demokraten“ nannte und nach den von Moskau inszenierten Präsidentschaftswahlen in Tschetschenien „keine empfindlichen Störungen“ entdecken konnte, nur zu berechtigt. Selbst wenn man nicht allein wirtschaftlichen Opportunismus, sondern eine langfristige Strategie unterstellt, um angesichts eines fatalen russischen Hangs zur Selbstisolation das Band nach Moskau nicht abreißen zu lassen – die Exkulpierungsbemühungen bleiben schwer begreiflich.
Hoffnungen auf eine wirtschaftliche Umarmungsstrategie, die ein eng mit Europa verbundenes Russland auch kritischen Anmerkungen gegenüber geneigter machen soll, haben sich nicht erfüllt. Symptomatisch für die fragwürdigen Zähmungsfantasien war die Hannover-Messe im April, auf der die Bundesregierung offenbar erwog, im Gefolge Wladimir Putins auch den gefürchteten Vizepremier Kadyrow zu begrüßen, was nach Protesten von Menschenrechtsgruppen erst durch die Absage Kadyrows obsolet wurde.
Zwar ließ sich Putin beim Deutschland-Besuch im Dezember 2004 zu der Bemerkung herab, er sei bereit, mit Deutschland und der EU über die Lösung der Tschetschenien-Frage zu reden. Bislang aber hat dies Tschetschenien keine Entlastung gebracht. Auch Gerüchte über ein weitgehendes Autonomieabkommen, das Anfang des Jahres in Moskau für Aufregung sorgte, blieben folgenlos. Dabei wird die deutsche Tschetschenien-Politik von der internationalen Gemeinschaft nicht eben übertroffen: Die OSZE hat sich im März 2003 auf russische Aufforderung aus Tschetschenien zurückgezogen. Die UN-Menschenrechtskommission hat das Thema bei ihrem diesjährigen Jahrestreffen nicht einmal auf die Agenda gesetzt. Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Russland im Februar erstmals wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Die Europäische Kommission stellt immerhin 22,5 Millionen Euro für den Wiederaufbau zur Verfügung, die nicht nur Tschetschenien, sondern auch den Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien zugute kommen sollen, was langfristig in einen Kaukasus-Pakt nach dem Vorbild des Balkan-Paktes münden könnte.
Schlimmste Menschenrechtskrise
Doch weder juristische Teilerfolge noch humanitäre Hilfe können darüber hinwegtäuschen, dass es bislang nicht eine einzige internationale Initiative zur Beilegung des Konflikts gegeben hat. Die vom Europarat initiierte internationale Tschetschenien-Runde in Straßburg im März 2005 tagte auf Druck der Russen ohne einen Vertreter der Rebellen, war vom Tod Maschadows überschattet und verbuchte bereits als Erfolg, dass der Moskau- treue Präsident Alchanow Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien nicht mehr glatt leugnete.
Russland kommt diese Zurückhaltung sehr entgegen. Nicht erst seit Beslan verweist es (mit einiger Berechtigung) auf den Terror, unter dem das Land zu leiden hat, ohne sich jedoch über die Ursachen dieses Terrors Rechenschaft abzulegen. Diesen Zusammenhang nicht hinreichend deutlich gemacht zu haben, ist vielleicht das größte Versäumnis der internationalen Gemeinschaft. Russland wird nicht müde zu behaupten, Tschetschenien sei lediglich eine „innerrussische Angelegenheit“. Das ist insofern nicht ganz falsch, als der Terror, der aus dem Kaukasus ausstrahlt, vornehmlich Russland trifft.Der mit dem Konflikt legitimierte innenpolitische Rollback allerdings berührt Europas politische und ökonomische Interessen ebenso unmittelbar wie die fortschreitende Destabilisierung des Kaukasus. Umso weniger einleuchtend erscheint das an Lähmung grenzende Desinteresse. Dass eine völlige Loslösung von Russland, die Tschetschenien nach allen Erfahrungen der Zwischenkriegszeit und angesichts der islamistischen Unterwanderung, der sozialen Zerrüttung, der Auflösung aller traditionellen Bindungen in einen Schlupfwinkel für Terroristen verwandeln oder in einen noch erbitterteren Bürgerkrieg stürzen würde, kaum im Interesse der internationalen Gemeinschaft liegen dürfte, ist dabei offensichtlich.
In Tschetschenien, so die Helsinki-Vereinigung für Menschenrechte, spielt sich die schlimmste Menschenrechtskrise Europas ab. Bislang hat die internationale Gemeinschaft wenig unternommen, um Russland bei der Lösung dieser Krise zu helfen.
1 Süddeutsche Zeitung, 2./3.4.2005.
2 Frankfurter Rundschau, 10.3.2005.
3 Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.): Russland auf dem Weg zum Rechtsstaat?, Berlin 2003, S. 96.
4 Ebd., S. 98.
5 Anna Politkovskaja: In Putins Russland, Köln 2003, S. 64 ff.
6 Chechen Rebels mainly driven by nationalism, New York Times, 12.9.2004.
7 Musa Muradow: Die Wunden der Seele, in: Florian Hassel (Hrsg.): Der Krieg im Schatten. Russland und Tschetschenien, Frankfurt am Main 2003, S. 202.
8 Sabine Adler: Ich sollte als Schwarze Witwe sterben, München 2005; Julia Jusik: Die Bräute Allahs, St. Pölten/Wien/Linz 2005.
Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 36 - 43.